S 38 KA 105/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 105/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Wird ein Urteil von einer Behörde nicht mit der Berufung angegriffen und damit rechtskräftig, entsteht dadurch noch keine Selbstbindung der Verwaltung. Grundsätzlich setzt eine Selbstbindung der Verwaltung ein aktives Tun voraus.

II. Die Formulierung in § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) stellt keine Definition des Krankheitsfalls dar. Vielmehr handelt es sich um eine zeitliche Eingrenzung des Krankheitsfalls (vgl LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.02.2012, Az L 11 KA 71/08; a. A. BayLSG, Urteil vom 16.09.2020, Az L 12 KA 24/19).

 

I. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung, eingegangen am 16.05.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals mit dem Doku-Zeichen: X1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenpositionen 01793/L5/B1(1x), 11501/L5/B1(1x), 11502/L5/B1(1x), 11503/L5/B1(2x). 11513/L3/B1(20x), 11513y/L3/B1(58x), 11514/L3/B1(1x), 11302/L3/B1(1x) in Höhe von 7.001,48 Euro zu vergüten.

Ferner wird die Beklagte unter Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung eingegangen am 16.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, dieser zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals 1/2019 mit dem Doku-Zeichen: Y1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenpositionen 01793/L4/B1(1x), 11501/L4/B1(1x), 11502/L4/B1(1x) 11514/L2/B1(1x) EBM in Höhe von insgesamt 4.047,87 Euro zu vergüten.

Des Weiteren wird die Beklagte unter der Abänderung des Bescheides und der diesem als Anlage beigefügten Richtigstellungsmitteilung eingegangen am 19.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2021, zur Post gegeben am 12.05.2021 und eingegangen am 17.05.2021 bezüglich des Quartals 4/2019 mit dem Doku-Zeichen: Z1. verurteilt, das klägerische Honorar ohne Absetzung der Gebührenposition 01793/L4/B1(1x) in Höhe von 569,92 Euro zu vergüten.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des/der Verfahren


T a t b e s t a n d :

Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind die Bescheide der Beklagten in der Fassung der Widerspruchsbescheide, betreffend die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen in den Quartalen 4/18, 1/19 und 4/19, die zu Rückforderungen in Höhe von 7.001,48 €, 4.047,87 € und 569,92 € führten. Sachlich-rechnerisch richtiggestellt wurden im Quartal 4/18 die Leistungen nach den Gebührenordnungspositionen (GOP) 11501, 11502, 11503 und 11504 neben der GOP 01793 im Krankheitsfall, die GOP 11302 wegen fehlender Hauptleistung, die GOP 11513 und 11513Y neben der GOP 11514 im Krankheitsfall und die GOP 01793 neben der GOP 11501, 11502, 11503 im Krankheitsfall. Im Quartal 1/19 betraf die sachlich-rechnerische Richtigstellung die GOP 11501, 11502 und 11514 neben der GOP 01793 im Krankheitsfall bzw. GOP 01793 neben der GOP 11501, 11502, 11503, 11512 und 11513 im Krankheitsfall.

Zur Begründung der sachlich-rechnerischen Richtigstellungen wies die Beklagte auf die Ausschlussbestimmungen im Anschluss an die Leistungslegende der GOP 01793 Kapitel 11.4.4 hin. Der Krankheitsfall sei in § 21 Abs. 1 BMV-Ä geregelt. Eine erneute Schwangerschaft führe nicht zu einem neuen Krankheitsfall innerhalb des genannten Zeitraums. Dafür spreche auch eine Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts zur GOP 01816 (BayLSG, Urteil vom 16.09.2020, Az L 12 KA 24/19). Danach sei auf den Wortlaut der Leistungsbeschreibung hingewiesen worden, der aus Sicht des BayLSG eindeutig sei. Eine teleologische Reduktion des Begriffs "Krankheitsfall" dergestalt, dass im Ausnahmefall der erneuten Schwangerschaft innerhalb eines Krankheitsfalles eine zusätzliche Abrechnung der GOP 01816 zulässig wäre, scheide aus.

Gegen die angefochtenen Bescheide ließ die Klägerin Klagen zum Sozialgericht München einlegen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers führte zunächst aus, die angefochtenen Bescheide seien formell rechtswidrig. Insbesondere habe die Beklagte gegen die Begründungspflicht aus § 35 SGB X verstoßen.

Aber auch materiell-rechtlich seien die angefochtenen Bescheide als rechtswidrig anzusehen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers wies auf das rechtskräftige Urteil des Sozialgerichts München vom 15.05.2019 (Aktenzeichen S 38 KA 205/18) hin. Von diesem Urteil gehe eine Bindungswirkung für die Verwaltung aus. Damit verbunden sei ein Vertrauensschutz des Klägers. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass es in der Folgezeit wieder zu sachlich-rechnerischen Richtigstellungen komme. Die Befugnis der Beklagten zu einer sachlich-rechnerischen Richtigstellung sei somit verbraucht. Die Beklagte verhalte sich widersprüchlich. So habe das Bundessozialgericht zur Selbstbindung der Verwaltung (BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, Az 1 C 12/92) und ihm folgend das Verwaltungsgericht Augsburg in einem neueren Urteil (VG Augsburg, Urteil vom 12.09.2018, Az An 4 K 18.203) ausgeführt, auch bei fehlender Identität des Streitgegenstandes bestehe eine Bindungswirkung. Hinzuweisen sei auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Augsburg. Konkret habe das VG Augsburg wie folgt ausgeführt: "Die im Erstprozess unterlegene Behörde darf den obsiegenden Kläger nicht erneut in eine Prozesssituation bringen, in der dieselben Sach-und Rechtsfragen zu beantworten sind. Die unterlegene Behörde hat zur Bewahrung des Rechtsfriedens die gegen sie ergangene gerichtliche Entscheidung loyal zu beachten." Diese Entscheidungen seien anwendbar, da der EBM und ebenfalls § 21 BMV-Ä unverändert gewesen seien. Es komme nicht darauf an, ob eine sachlich-rechnerische Richtigstellung bezüglich unterschiedlicher Patientinnen erfolgte, sondern auf die zu klärende Frage, ob bei einer Erkrankung eine GOP abrechenbar ist oder nicht. Auch sei Art. 3 Grundgesetz zu beachten. Denn die Ansicht der Beklagten führe dazu, dass eine Abrechnung mit der GOP 01793 später bei späterer Schwangerschaft möglich gewesen wäre. Für eine solche Differenzierung gebe es keinen sachlichen Grund.

Im Übrigen sei der Begriff "Krankheitsfall" ein unbestimmter Rechtsbegriff, der nicht definiert werde. Bei einem "Krankheitsfall" sei zu differenzieren, ob es sich um eine neu aufgetretene oder eine anhaltende Störung handle. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers zitierte aus dem Urteil des Sozialgerichts Hamburg zur GOP 1860 (SG Hamburg, Urteil vom 17.01.2007, Az S 3 KA 266/03), sowie aus dem Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW, Urteil vom 29.02.2012, Az L 11 KA 71/08) zur GOP 8450. Dagegen sei das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts nicht anzuwenden.

Oft sei der Schwangerschaftsabbruch wegen komplexen, vitalen Entwicklungsstörungen erfolgt. Nachdem bei den Patientinnen eine Schwangerschaft mit hoher Pathologie vorgelegen habe, habe natürlich in der nachfolgenden Schwangerschaft eine entsprechende Diagnostik erfolgen müssen. Was das von der Beklagten zitierte Urteil des BayLSG vom 16.09.2020 (Az L 12 KA 24/19) betreffe, sei diese Entscheidung nicht auf das streitgegenständliche Verfahren übertragbar. Bei der GOP 01816 gehe es nämlich um die Untersuchung des Urins der Mutter, während es sich bei der Leistung nach der GOP 01793 um die Untersuchung kindlicher Zellen handle mit der Besonderheit, dass nicht auf die Mutter, sondern auf den Fötus abzustellen sei. Zum Jahr 2021 sei der EBM im Übrigen geändert worden.

Die Beklagte äußerte sich mit Schreiben vom 08.09.2021 und machte darauf aufmerksam, das von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zitierte Urteil des Sozialgerichts München sei wegen eines Büroversehens mit der Berufung nicht angefochten worden. Von der Entscheidung des Sozialgerichts München gehe keine Bindungswirkung aus, da die Rechtskraft nur die Urteilsformel, nicht aber die Urteilsgründe mit umfasse. Die Auslegung durch das Sozialgericht München greife in das Regelungsgefüge des EBM ein. Hätte der Bewertungsausschuss gewollt, dass bei einer erneuten Schwangerschaft ein neuer Krankheitsfall beginne, hätte er dies bei der jeweiligen Ausschlussbestimmung regeln können. Das zitierte Urteil des BayLSG vom 16.09.2020 betreffe zwar die GOP 01816. In der Entscheidung seien aber grundsätzliche Aussagen getroffen worden. So sei bestätigt worden, dass die Definition in § 21 BMV-Ä maßgeblich sei.

Von der Entscheidung des Sozialgerichts München gehe auch keine Bindungswirkung aus, da die Rechtskraft nur die Urteilsformel erfasse. Es sei auch kein Verbrauch der Befugnis zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung eingetreten. Voraussetzung sei ein willentliches Tun der Beklagten. Hier aber habe ein Büroversehen dazu geführt, dass keine Berufung eingelegt worden sei. Das von der Prozessbevollmächtigten zitierte das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht übertragbar. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts München unter dem Aktenzeichen S 38 KA 205/18 habe eine andere Verfügung, ein anderes Quartal und andere Patienten betroffen. Dagegen sei Gegenstand des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts die Untersagung ein und desselben Automarktes an Sonn-und Feiertagen gewesen. Sowohl die Leistungen nach der GOP 01816, als auch die Leistungen nach der GOP 01793 gehörten zu den Leistungen der Mutterschaftsvorsorge (Kapitel 1.7.4 EBM). Es existiere auch deshalb kein Vertrauensschutz, da das Urteil des Sozialgerichts München im Quartal 4/18 noch gar nicht erlassen worden war.

Die von der Klägerseite zitierten Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein - Westfalen und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg könnten ebenfalls nicht zugrunde gelegt werden, da § 21 BMV-Ä für die strittigen Zeiträume noch nicht existierte. Soweit es in der Leistungslegende der GOP 01793 "je Fötus" heiße, beziehe sich die Ausdrucksweise auf Mehrlingsschwangerschaften. Auch sei ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Grundgesetz nicht ersichtlich. Denn Normadressaten seien Ärzte und andere Leistungserbringer, nicht aber der einzelne Patient. Es werde der Antrag gestellt, den Bewertungsausschuss beizuladen.


In der mündlichen Verhandlung am 28.04.2022 wurden die Verfahren unter den Aktenzeichen S 38 KA 105/21, S 38 KA 106/21 und S 38 KA 107/21 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Zum führenden Verfahren wurde das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 38 KA 105/21 bestimmt.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin stellte die Anträge aus den Schriftsätzen jeweils vom 11.06.2021 (Quartale 4/18, 1/19 und 4/19).

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakten. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 28.04.2022 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind zulässig und erweisen sich auch als begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.
Im in den jeweiligen Quartalen gültigen EBM sind die strittigen Leistungen wie folgt beschrieben:
- EBM 11301: Grundpauschale humangenetische in vitro-Diagnostik bei Probeneinsendung Abrechnungsausschluss im Krankheitsfall
- EBM 11302: ärztliche Beurteilung und Gemeinkosten konstitutioneller genetischer Analysen; als Zuschlag zu aufwendig zu beurteilenden Untersuchungen berechenbar
- EBM 11501: Zuschlag zu den Gebührenordnungspositionen 11502 und 11503 für die Anwendung eines Kulturverfahrens zur Anzucht von Zellen und Präparation der Zellkerne zu weiteren Analysen einmal im Krankheitsfall
- EBM 11502: postnatale Bestimmung des konstitutionellen Karyotyps mittels lichtmikroskopischer Bänderungsanalyse einmal im Krankheitsfall
- EBM 11503: postnatale molekularzytogenetische Charakterisierung konstitutioneller chromosomaler Aberrationen an Inter-oder Metaphasen mittels in-situ Hybridisierung Abrechnungsausschlüsse im Krankheitsfall
- EBM 11512: gezielter Nachweis oder Ausschluss von krankheitsrelevanten oder krankheitsauslösenden großen Deletionen und/oder Duplikationen, je Gen; Abrechnungsausschlüsse - im Krankheitsfall - Leistungen 01793
- EBM 11513: postnatale Mutationssuche zum Nachweis oder Ausschluss einer krankheitsrelevanten oder krankheitsauslösenden konstitutionellen genomischen Mutation in bis zu 25 Kilo Basen kodierender Sequenz einschließlich zugehöriger regulatorischer Sequenzen, je vollendete 250 kodierende Basen; Abrechnungsausschlüsse - im Krankheitsfall Leistungen - 01793, 11514
- EBM 11514: Erweiterte Mutationssuche über 25 Kilo Basen, einmal im Krankheitsfall berechnungsfähig.
- EBM 01793: pränatale zytogenetische Untersuchung (EBM) im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge, je Fötus, einmal im Krankheitsfall; Abrechnungsausschlüsse- im Behandlungsfall - Leistungen 01600, 01601, 08576 im Krankheitsfall 11501, 11502, 11503, 11506, 11508, 11511, 11512, 11513, 11514, 11516, 11517

Über die Ausschlüsse im Zusammenhang mit den GOP 11501 ff EBM hat das Sozialgericht München mit Urteil vom 15.05.2019 (Az S 38 KA 205/18) auch im Verhältnis der Klägerin zu der Beklagten, allerdings ein anderes Quartal betreffend entschieden und der Klage stattgegeben. Nach Auffassung des Gerichts besteht keine Veranlassung, die Sach-und Rechtslage nunmehr anders zu beurteilen als im rechtskräftigen Urteil von damals und seine dort vertretene Rechtsauffassung zu revidieren.

Eine Auseinandersetzung mit der Frage des hier streitgegenständlichen Ausschlusses von Leistungen würde sich dann erübrigen, wenn - wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausführt - von dem Urteil des Sozialgerichts München vom 15.05.2019 eine Bindungswirkung für die Beklagte ausgehen würde. Die Entscheidung wurde rechtskräftig, da die Beklagte diese nicht mit Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht angefochten hat, was zwischen den Beteiligten unstrittig ist. Damit ist sowohl formelle Rechtskraft, als auch materielle Rechtskraft mit den damit verbundenen Wirkungen eingetreten. Nach § 141 Abs. 1 SGG binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Die Rechtskraft dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit und sie ist auch zu beachten, wenn die rechtskräftige Entscheidung falsch ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn. 3 zu § 141). Die Wirkungen der Rechtskraft bestehen insbesondere darin, dass eine neue Klage über denselben Klagegegenstand unzulässig wäre und die Beteiligten mit jeglichem tatsächlichen Vorbringen ausgeschlossen sind (Präklusionswirkung). Grundsätzlich erwächst nur die Urteilsformel in materielle Rechtskraft (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn. 3 zu § 141).

Soweit von der Klägerseite geltend gemacht wird, es gehe von dem Urteil des Sozialgerichts München eine Bindung aus, ist dies keine Frage der Rechtskraft. Denn es handelt sich um unterschiedliche Streitgegenstände nach § 95 SGG, die ihrerseits auch festgelegt sind durch die jeweiligen unterschiedlichen Verwaltungsakte. Die im rechtskräftigen Verfahren angefochtenen Verwaltungsakte sind andere als die in den nunmehr streitgegenständlichen Verfahren. Diese Bescheide beziehen sich auch auf andere Quartale und auf andere Patientinnen. Einzuräumen ist allerdings, dass die Verfahrensbeteiligten identisch sind und auch über das gleiche Rechtsproblem zu entscheiden ist.

Vielmehr handelt es sich um eine Frage der Selbstbindung der Verwaltung, die im Zusammenhang mit der Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts München steht. Dabei ist zu klären, ob eine Selbstbindung der Beklagten dadurch entstanden ist, dass diese gegen das Urteil des SG B-Stadt keine Berufung eingelegt hat. Die Beklagte macht geltend, aufgrund eines Büroversehens sei dies nicht geschehen. Letztendlich geht es auch bei der Selbstbindung der Verwaltung um Vertrauensschutz. Durfte die Klägerin aufgrund der Rechtskraft des vorausgegangenen Urteils des SG B-Stadt darauf vertrauen, dass sich die Beklagte auch für andere Quartale, in denen die gleiche Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, der Rechtsauffassung des Gerichts anschließt?

Von der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein willkürliches Abweichen der Behörden von ihrer eigenen bzw. der sonst allgemein von den Behörden im Geltungsbereich des Gesetzes bisher in vergleichbaren Fällen eingehaltenen und auch weiterhin beabsichtigten ständigen Praxis unzulässig ist, sofern die in dieser Praxis zugrunde liegenden Erwägungen der Zielsetzung der vom Gesetz eingeräumten Ermächtigung entsprechen (vgl. Kopp/Ramsauer, Kommentar zum VwVfG, Rn. 25 zu § 40). Das Bundesverwaltungsgericht und ihm folgend das VG Augsburg (BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, Az 1 C 12/92; VG Augsburg, Urteil vom 12.09.2018, Az An 4 K 18.203) haben die Auffassung vertreten, ein rechtskräftiges Urteil wirke sich auch auf nachfolgende Verwaltungsakte aus. Konkret hat das VG Augsburg wie folgt ausgeführt: "Die im Erstprozess unterlegene Behörde darf den obsiegenden Kläger nicht erneut in eine Prozesssituation bringen, in der dieselben Sach-und Rechtsfragen zu beantworten sind. Die unterlegene Behörde hat zur Bewahrung des Rechtsfriedens die gegen sie ergangene gerichtliche Entscheidung loyal zu beachten." Dies würde dafür sprechen, eine Bindungswirkung an das rechtskräftige Urteil des SG B-Stadt vom 15.05.2019 zu bejahen.

Andererseits setzt, wie bereits ausgeführt, eine Selbstbindung der Verwaltung eine ständige Praxis der Verwaltung, hier der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns voraus. Es erscheint zweifelhaft, ob die Nichteinlegung der Berufung - aus welchen Gründen auch immer - mit der Folge, dass das Urteil rechtskräftig wurde, eine solche ständige Praxis der Verwaltung darstellt. Nach Auffassung des Gerichts kann grundsätzlich eine ständige Praxis nur in einem aktiven Tun bestehen, nicht aber in einem Unterlassen. Zu einer anderen Beurteilung könnte man gelangen, wenn die Behörde wiederholt die Möglichkeit nicht wahrgenommen hat, Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil einzulegen. Dies ist aber hier nicht der Fall.

Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass von einer Selbstbindung der Beklagten nicht auszugehen ist. Darauf kommt es aber letztendlich nicht an. Denn die Sach-und Rechtslage ist nicht anders zu beurteilen als im vorausgegangenen rechtskräftigen Urteil.

Nach der langjährigen Rechtsprechung der Sozialgerichte (vgl BSG, Urteil vom 16.12.2015, Az B 6 KA 39/15 R) ist für die Auslegung in erster Linie der Wortlaut der Leistungslegenden maßgeblich. Eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der im inneren Zusammenhang stehenden vergleichbaren oder ähnlichen Gebührenregelungen kommt nur bei unklaren oder mehrdeutigen Regelungen ergänzend in Betracht (BSG, SozR 3-5535 Nr. 119 Nr. 1 S. 5). Bei eindeutigem Wortlaut der Leistungslegende ist auch eine teleologische Reduktion nicht angezeigt.

Soweit die Beklagte auf eine Entscheidung des BayLSG (BayLSG, Urteil vom 16.09.2020, Az L 12 KA 24/19) hinweist, ist festzustellen, dass hiermit zum Ansatz der GOP 01816 (Chlamydia trachomatis mittels eines geeigneten Antigennachweises oder eines Nukleinsäurennachweises ohne Amplifikation) entschieden wurde. Das BayLSG hat die Auffassung vertreten, der Begriff "Krankheitsfall" in § 21 Abs. 1 S. 9 BMV-Ä sei eindeutig definiert, auch wenn die Mutterschaft-Richtlinien in keiner Fassung eine Beschränkung der Untersuchung bei kurz hintereinander folgenden Schwangerschaften, etwa nach vorzeitiger Beendigung einer Schwangerschaft vorgesehen hätten. Deshalb sei eine systematische Interpretation oder eine entstehungsgeschichtliche Interpretation nicht vorzunehmen. Auch scheide eine teleologische Interpretation aus. Denn die Gerichte dürften grundsätzlich nicht mit punktuellen Entscheidungen in das Gefüge des EBM-Ä eingreifen (BSG, Urteil vom 16.12.2015, Az B 6 KA 39/15 R).

Die Auffassung, wonach der Wortlaut eindeutig ist, wird seitens des SG B-Stadt nicht geteilt. Insofern steht der Wortlaut einer teleologischen Auslegung nicht entgegen. Auch wird durch die Sichtweise des SG B-Stadt nicht unzulässigerweise in das Regelungsgefüge des EBM eingegriffen. Denn, in § 21 Abs. 1 S. 9 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) wird zwar festgelegt, dass ein "Krankheitsfall" das aktuelle sowie die nachfolgenden drei Kalendervierteljahre, die der Berechnung der krankheitsfallbezogenen Leistungsposition folgen, umfasst. Im Gegensatz dazu bezieht sich der "Behandlungsfall" lediglich auf ein Kalendervierteljahr. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine exakte Definition des "Krankheitsfalls", sondern nur um eine zeitliche Eingrenzung des Krankheitsfalls (vgl LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.02.2012, Az L 11 KA 71/08). Auch im EBM findet sich keine Definition des Krankheitsfalls. Es ist daher von einem unbestimmten Rechtsbegriff "Krankheitsfall" auszugehen, der nicht eindeutig und der Auslegung zugänglich ist. Insofern kann auf den Wortlaut nicht abgestellt werden. Unter dem Begriff "Krankheitsfall" ist ein permanenter, durchgängiger und einheitlicher Zustand einer gesundheitlichen Störung zu verstehen. Dies bringt es per se mit sich, dass der "Krankheitsfall" auch innerhalb der Zeitspanne von 4 Quartalen (§ 21 Abs. 1 S.9 BMV-Ä) zeitlich begrenzt sein kann. Endet eine gesundheitliche Störung, endet damit auch der "Krankheitsfall". Bei einer erneuten gesundheitlichen Störung entsteht ein neuer "Krankheitsfall". Abrechnungsausschlüsse, wie bei den GOP´s 11512, 11513 und 11513Y sowie bei 01793 betreffen nur einen einheitlichen "Krankheitsfall" und nicht mehrere "Krankheitsfälle", auch wenn sie in die Zeitspanne von 4 Quartalen fallen. Dafür spricht auch -wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ausführt -, dass es sich bei der Leistung nach der GOP 01793 um die Untersuchung kindlicher Zellen handelt mit der Konsequenz, dass nicht auf die Mutter, sondern auf den Fötus abzustellen sei.

In Anwendung dieser Überlegungen auf die streitgegenständlichen Verfahren konnten die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen nicht auf den Abrechnungsausschluss im Anschluss an die Leistungslegende der GOP 01793 Kapitel 11.4.4 gestützt werden. Wurden in Vorquartalen Leistungen erbracht, die einen früheren "Krankheitsfall" betreffen, erstrecken sich die Abrechnungsausschlüsse nicht auf einen neuen "Krankheitsfall".

Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.

 

 

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