L 7 AS 664/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 AS 1375/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 664/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine Ersatzzustellung in den Briefkasten des Vermieters ist möglich, wenn der Briefkasten zur Wohnung des Mieters gehört.

 

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4. April 2019 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist die Rechtmäßigkeit einer Leistungsminderung nach §§ 31 ff SGB II iHv 30 % des Regelbedarfs für die Dauer von drei Monaten.

Der Beklagte und Berufungsbeklagte (in der Folge: Beklagter) stellte mit Bescheid vom 16.6.2017 für die Zeit vom 1.7. bis 30.9.2017 eine Minderung des dem Kläger und Berufungskläger (in der Folge: Kläger) bewilligten Arbeitslosengeldes II monatlich um 30 % des maßgebenden Regelbedarfes bzw iHv 122,70 Euro monatlich fest. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagten zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.10.2017). Ausweislich der in der Beklagtenakte im Original abgehefteten Zustellungsurkunde vom 15.9.2017 (berichtigt am 22.9.2017) wurde der Widerspruchsbescheid dem Kläger am 15.9.2017 zu übergeben versucht und, weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung nicht möglich war, in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt.

Das Sozialgericht Augsburg hat die am 5.11.2018 erhobene Klage als unzulässig, weil verfristet, abgewiesen (Urteil vom 4.4.2019).

Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger die Aufhebung des Sanktionsbescheides vom 16.6.2017 weiter. Er habe zum Zeitpunkt der Zustellung keinen eigenen Briefkasten gehabt. Eine Einlegung der Sendung in den Briefkasten seines Vermieters sei nicht interessant, da dieser ihm die Post vor die Tür gelegt habe und diese bei ihm, also dem Kläger, nicht angekommen sei. Es gehe darum, dass der Widerspruchsbescheid abhandengekommen sei, so dass er nicht habe rechtzeitig Klage erheben können. Nachdem ihm der Beklagte mit einer Kurzmitteilung vom 30.10.2018 eine Zweitschrift des Widerspruchsbescheides vom 12.9.2017 übermittelt habe, habe er unverzüglich Klage erhoben.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4.4.2019 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 16.6.2017 idG des Widerspruchsbescheides vom 12.9.2017 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er geht weiter davon aus, dass die am 5.11.2018 erhobene Klage verfristet ist.

Das Gericht hat im Rahmen eines Termins zur Erörterung der Sach- und Rechtslage den Vermieter des Klägers angehört. Dieser gab an, dass der Kläger bei ihm eine Ferienwohnung angemietet hatte. Diese habe nicht über einen eigenen Briefkasten verfügt. Die Post für den Kläger sei in seinen, also des Zeugen, Briefkasten eingelegt worden. Der Zeuge habe die Post für den Kläger dann vor dessen Wohnungstür gelegt. Der Zeuge konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob auch an den Kläger adressierte Post ohne einen "c/o"-Zusatz in seinen Briefkasten geworfen worden ist. Später habe der Kläger einen eigenen Briefkasten erhalten. Wann dies genau der Fall gewesen sei, erinnerte der Zeuge nicht. Der Kläger bestätigte unter dem 4.11.2021, dass die Angaben des Zeugen "soweit" der Wahrheit entsprächen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs 2 SGG erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die vorliegenden Akten verwiesen, auch soweit diese vom Sozialgericht Augsburg und dem Beklagten beigezogen worden sind.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Hierüber konnte der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten dem zugestimmt haben (vgl § 124 Abs 2 SGG).

1. Die am 5.11.2018 beim Sozialgericht gegen den Bescheid vom 16.6.2017 idG des Widerspruchsbescheides vom 12.9.2017 erhobene Klage ist unzulässig und wurde deshalb zu Recht mit Urteil vom 4.4.2019 abgewiesen.

2. Die gegen den Sanktionsbescheid als reine Anfechtungsklage (vgl BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R -, Rn 12) statthafte Klage ist unzulässig, da sie erst am 5.11.2018 und damit erheblich nach Ablauf der Klagefrist erhoben worden ist.

a) Die Klage ist binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben (§ 87 Abs 1 S 1 SGG). Hat ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (§ 87 Abs 2 SGG).

b) Der Widerspruchsbescheid vom 12.9.2017 wurde ausweislich der aktenkundigen Postzustellungsurkunde durch Ersatzzustellung mit Einlegen in den Briefkasten am 15.9.2017 (§ 85 Abs 3 S 1 SGG, § 3 Abs 2 S 1 VwZG iVm § 180 S 2 ZPO) zugestellt. Die am 5.11.2018 zum Sozialgericht Augsburg erhobene Klage wurde mehr als ein Jahr nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides und damit lange Zeit nach Ablauf der Klagefrist mit Ablauf des 16.10.2017 (einem Montag) erhoben. Wiedereinsetzungsgründe sind nicht ersichtlich.

aa) Der Zustellung steht weder entgegen, dass der Kläger den Widerspruchsbescheid vom 12.9.2017 nicht erhalten haben will, noch, dass er im September 2017 nicht über einen eigenen Briefkasten verfügt hat. Die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten nach § 180 ZPO konnte vorliegend durch Einlegung des Schriftstücks in den Briefkasten des Vermieters/Zeugen bewirkt werden. Darauf, dass der Widerspruchsbescheid von dort ggf tatsächlich seinen Weg zum Kläger nicht gefunden haben mag, kommt es nicht weiter an.

(1.) Ist die Zustellung nach § 178 Abs 1 Nr 1 oder 2 nicht ausführbar, kann das Schriftstück in einen zu der Wohnung (...) gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist (§ 180 S 1 ZPO). Mit der Einlegung gilt das Schriftstück als zugestellt (§ 180 S 2 ZPO).

(2.) Die Voraussetzungen für eine Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 12.9.2017 nach § 180 S 2 ZPO sind vorliegend erfüllt.

(a) Ausweislich der insoweit unbestrittenen Angaben der Postzustellungsurkunde wurden am 15.9.2017 weder der Kläger noch eine andere Person iS des § 178 Abs 1 Nr 1 ZPO (erwachsener Familienangehöriger in der Wohnung, eine vom Kläger beschäftigte Person oder ein erwachsener ständiger Mitbewohner) in der Wohnung des Klägers angetroffen.

(b) Bei dem Briefkasten des Vermieters/Zeugen, in den der Widerspruchsbescheid eingelegt wurde, handelte es sich um einen zu der Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten iS des § 180 S 1 ZPO. Zwar fehlte diesem ein Namensschild des Klägers. Allerdings steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger sich den Briefkasten des Vermieters/Zeugen bewusst entsprechend nutzbar machte. Dies ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben des Klägers und des Zeugen sowie dem Schriftverkehr zwischen den Beteiligten, wie er sich in der Zeit ab November 2016 in der Beklagtenakte findet.

So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht angegeben, dass seine Post "irgendwann" mit einem "c/o-Vermerk" an seinen Vermieter zugestellt worden sei. ‚Das habe sich dann so entwickelt, auch er habe dann die c/o-Adresse als seine Adresse verwendet.' Weiter gab der Kläger an, sich gegen die Adressierung in dieser Form nicht gewandt zu haben. Er bezeichnete dies als "Duldung" (vgl Niederschrift zur Öffentlichen Sitzung am 4.4.2019, Bl 98 f der vom Sozialgericht Augsburg beigezogenen Akte).

Diese Aussage bestätigte der als Zeuge vom Senat gehörte Vermieter des Klägers, als er angab, dass die Post für den Kläger in seinen, also des Vermieters, Briefkasten eingelegt worden sei und er dem Kläger die Post dann vor die Wohnungstür gelegt habe (vgl Niederschrift zur Nichtöffentlichen Sitzung am 22.10.2021, Bl 95 f der Akte zum Berufungsverfahren).

Dass die so beschriebene Vorgehensweise bereits im September 2017, also zum Zeitpunkt der umstrittenen Zustellung, praktiziert wurde, ergibt sich aus dem Schriftverkehr zwischen den Beteiligten, wie er sich aus der Beklagtenakte ergibt. Danach adressierte der Beklagte die Post an den Kläger ab November 2016 regelmäßig mit dem Adresszusatz "c/o" und dem Namen des unter gleicher Adresse lebenden Vermieters (vgl ua Schreiben des Beklagten vom 26.11.2016, 20.2., 22. und 30.3., 4. und 27.4., 16. und 23.6., 4. und 31.8, 15 und 25.11.2017 bzw Bl 2913, 2986, 3000, 3084, 3118, 3125, 3135, 3179, 3314, 3335, 3337 bzw 3347, 3412 der Beklagtenakte, Bl 4 zur Akte des Sozialgerichts Augsburg S 14 AS 157/18). Auch der im Zusammenhang mit der streitigen Leistungsminderung erfolge Schriftverkehr wurde vom Beklagten an den Kläger mit dem Zusatz "c/o" adressiert: der Vermittlungsvorschlag vom 20.2.2017 sowie der Sanktionsbescheid selbst vom 16.6.2017 (vgl Bl 3125 sowie 3135 der Beklagtenakte). Dass der Kläger die entsprechenden Schreiben regelmäßig erhalten hat, ergibt sich daraus, dass er auf diese bisweilen reagierte, zB auf die Anhörung zur streitigen Minderung (Bl 3150 der Beklagtenakte) bzw durch Widerspruch gegen den Bescheid vom 4.8.2017 am 11.8.2017 (vgl Bl 3358 der Beklagtenakte) bzw gegen den Bescheid vom 31.8.2017 am 15.9.2017 (Bl 3390 der Beklagtenakte). Schließlich hatte der Kläger in zeitlichen Zusammenhang selbst den Adresszusatz "c/o" in Verbindung mit dem Namen und der Adresse seines Vermieters verwendet (vgl Schreiben vom 6. und 10.4. sowie vom 12.9.2017, Bl 3142, 3150 sowie 3388 der Beklagtenakte). Schließlich ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass sich der Kläger jemals gegen die Verwendung des c/o-Zusatzes oder der Briefkasten seines Vermieters verwahrt hätte.

(c) Der wirksamen Ersatzzustellung an den Kläger nach § 180 ZPO durch Einlegung des Widerspruchsbescheides in den Briefkasten des Vermieters steht schließlich nicht entgegen, dass der Widerspruchsbescheid an den Kläger ohne den Zusatz "c/o" adressiert worden war. Denn dies hat keine Auswirkung darauf, dass der Briefkasten des Vermieters aufgrund des in zeitlichem Zusammenhang an den Kläger adressierten Schriftverkehrs als zur Wohnung des Klägers gehörend erkennbar (geworden) war.

Nachdem die Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten fingiert wird (vgl § 180 S 2 ZPO) kommt es für die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 12.9.2017 nicht darauf an, ob der Kläger diesen (am 15.9.2017) tatsächlich erhalten hat.

bb) Die Einlassung des Klägers, der Widerspruchsbescheid vom 12.9.2017 habe ihn nicht erreicht, begründet keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 Abs 1 SGG). Vorliegend ist eine evtl Verhinderung des Klägers zumindest nicht unverschuldet, nachdem dieser angab, mit der Vorgehensweise des Vermieters, die in dessen Briefkasten für den Kläger eingeworfenen Schriftstücke beim Kläger vor die Wohnungstür zu legen, einverstanden gewesen zu sein bzw dies geduldet zu haben. Dies muss insbesondere im Hinblick darauf gelten, dass - wie der Kläger selbst vorträgt - ‚Gäste freien Zugang durch den offenen Hausflur hatten'.

c) Hat das Sozialgericht die Klage damit zu Recht als unzulässig abgewiesen, kommt es auf die Rechtmäßigkeit der in der Sache streitigen Sanktionsentscheidung vom 16.6.2017 hier nicht an, da diese beim Fehlen der Sachurteilsvoraussetzungen durch das Gericht nicht geprüft und letztlich auch nicht aufgehoben werden kann.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

 

Rechtskraft
Aus
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