L 12 P 35/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 51 P 55/20
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 12 P 35/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 30.6.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Auszahlung des Entlastungsbetrages nach § 45b SGB XI an die Klägerin persönlich.

Die 1936 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflegeversichert. Sie erhält seit dem 1.11.2017 Leistungen nach Pflegegrad 1 und - nach einem Vergleich im Verfahren S 51 P 28/18 vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim vom 23.5.2019 - seit dem 1.1.2019 Leistungen nach Pflegegrad 2.

Mit Schreiben vom 14.6.2020 beantragte die Klägerin sinngemäß bei der Beklagten die Auszahlung des restlichen, ihr zustehenden sowie des laufenden Entlastungsbetrages nach § 45b SGB XI an sie persönlich ab Juli 2020, da ihr Pflegedienst „aufgrund von Ausfallzeiten … nur unzureichend bzw. überhaupt nicht kontinuierlich Dienstleistungen [erbrächten]“. Die Beklagte teilte dem (bevollmächtigten) Sohn der Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 26.6.2020 mit, dass der Restanspruch bis zum 30.6.2020 noch 1.320,00 € betrage; die Auszahlung des Betrages sei jedoch zweckgebunden und erfolge „nicht automatisch“.

Hierauf erhob die Klägerin am 17.9.2020 Klage vor dem SG Hildesheim: Die Auszahlung des Entlastungsbetrages sei ihr im vorherigen Vergleich „explizit zugesichert“ worden, welches sie „dann entsprechend schriftlich dargelegt habe“. Im Übrigen habe der Gesetzgeber im Zuge der Corona-Pandemie „Lockerungen“ beschlossen, die die direkte Auszahlung des laufenden Entlastungsbetrages sowie der bestehenden Restansprüche rechtfertigten.

Die Beklagte hat zur Erwiderung darauf verwiesen, dass die Entlastungsleistungen als Sachleistungen erbracht würden; eine Erstattung von Geldleistungen an Angehörige sei gesetzlich nicht vorgesehen und könne daher auch nicht erbracht werden. Im Übrigen seien in Niedersachsen außer einer Verlängerung der Verfallsfrist für Ansprüche auf den Entlastungsbetrag (bis zum 30.9.2020) keine weiteren Sonderregelungen vorgesehen.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30.6.2021 abgewiesen. Sie sei bereits unzulässig, weil schon kein Verwaltungsakt der Beklagten über die Gewährung des Entlastungsbetrages vorliege: Das Schreiben der Beklagten vom 26.6.2020 enthalte lediglich den Hinweis, in welcher Höhe insoweit noch Mittel bis zum 30.9.2020 zur Verfügung stünden; zudem sei es auch nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen. Eine Zahlungsablehnung finde sich hierin gerade nicht. Auch eine Umdeutung des Begehrens in eine Untätigkeitsklage gegen die Beklagte sei nach dem klaren, auf Auszahlung des Entlastungsbetrages gerichteten Klageantrag nicht möglich.

Hiergegen hat die Klägerin am 20.7.2021 unter Bekräftigung ihres Vorbringens Berufung eingelegt. Ihr Anspruch ergebe sich auch „im Zuge des Gleichbehandlungsprinzips, Verhältnismäßigkeit bzw. Einzelfallentscheidung“. Auch in Nordrhein-Westfalen werde der Entlastungsbetrag „geleistet“.

Mit Bescheid vom 8.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.12.2021 hat die Beklagte das Begehren der Klägerin ausdrücklich abgelehnt: Erstattet werden könnten nur Leistungen sozialer Träger, nicht aber Leistungen von Privatpersonen. Auch eine Auszahlung des Entlastungsbetrages ohne Nachweis einer zweckgebundenen Verwendung sei nicht möglich.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 30.6.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.12.2021 aufzuheben,
  2. die Beklagte zu verurteilen, ihr die offenen Restbeträge des Entlastungsbetrages nach § 45b SGB XI sowie den ihr laufend monatlich zustehenden Entlastungsbetrag persönlich auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für rechtmäßig.

Mit Beschluss vom 6.1.2022 hat der Senat die Berufung gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf den Berichterstatter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 2.6.2022, den sonstigen Inhalt der Prozessakte, den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie den Inhalt der zum Verfahren beigezogenen Prozessakte aus dem Verfahren S 51 P 28/18 vor dem SG Hildesheim Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind und der Entscheidungsfindung des Senats zugrunde gelegen haben.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte in der Besetzung mit seinem Berichterstatter und den ehrenamtlichen Richtern entscheiden, nachdem er die Berufung mit Beschluss vom 6.1.2022 entsprechend übertragen hatte. Die Beteiligten sind hierzu zuvor angehört worden; ihre Zustimmung bedurfte es nicht.

Der Senat konnte den Rechtsstreit im Termin am 2.6.2022 auch verhandeln und entscheiden, obwohl für die Klägerin niemand erschienen war. Die Klägerin ist mit der ihr ausweislich Postzustellungsurkunde vom 2.5.2022 ordnungsgemäß zugegangenen Terminsmitteilung vom 27.4.2022 darauf hingewiesen worden, dass das auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann. Das persönliche Erscheinen der Klägerin war zudem nicht angeordnet.

Die Berufung ist zulässig. Ihren Gegenstand bildet allerdings lediglich der Gerichtsbescheid des SG vom 30.6.2021. Der Bescheid der Beklagten vom 8.11.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.12.2021 ist demgegenüber nicht Gegenstand des Verfahrens geworden. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klage- bzw. - § 153 Abs. 1 SGG - Berufungsverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Ungeachtet der Frage, ob in dem Schreiben der Beklagten vom 26.6.2020 bereits ein Verwaltungsakt zu sehen ist oder – wie das SG ausgeführt hat – nicht, mangelt es jedenfalls bis zu der Bescheidung vom 8.11./1.12.2021 an einem die Anwendbarkeit des § 96 SGG eröffnenden, vorangegangenen Widerspruchsbescheid.

Die so verstandene Berufung ist nicht begründet. Die Klägerin kann den von ihr verfolgten Anspruch auch zur Überzeugung des Senats nicht mit Erfolg geltend machen. Die angefochtene Entscheidung des SG ist nicht zu beanstanden.

Das SG hat die Klage zu Recht bereits als unzulässig abgewiesen. Gemäß § 78 Abs. 1 SGG sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Für die Verpflichtungsklage gilt dies entsprechend, wenn der Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes abgelehnt worden ist (§ 78 Abs. 2 SGG). Eines Vorverfahrens bedarf es nur in den in § 78 Abs. 1 Satz 2 SGG bestimmten Fällen, für deren Vorliegen im hiesigen Rechtsstreit nichts ersichtlich ist, nicht. Ein solches Vorverfahren ist indes bis zum Erlass des Gerichtsbescheides durch das SG nicht durchgeführt worden, sodass auch vor diesem Hintergrund dahingestellt bleiben kann, ob das Schreiben der Beklagten vom 26.6.2020 überhaupt als Verwaltungsakt (Ausgangsbescheid) gewertet werden konnte. Zu Recht hat das SG ferner auch eine Sachbehandlung des klägerischen Begehrens als Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) abgelehnt. Selbst wenn es bei einer entsprechenden Auslegung (§ 123 SGG) möglich erschienen wäre, die Klägerin dahingehend zu verstehen, dass sie (jedenfalls) die Verurteilung der Beklagten zur Entscheidung über ihr Auszahlungsbegehren verfolgte, sofern eine solche Entscheidung nicht bereits in dem Schreiben vom 26.6.2020 gesehen werden konnte, mangelte es für die Umdeutung in eine zulässige Untätigkeitsklage jedenfalls an der Einhaltung der hierfür gesetzlich vorgeschriebenen Frist. Gemäß § 88 Abs. 1 SGG ist die Klage auf Vornahme eines Verwaltungsaktes nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf dessen Vornahme zulässig. Die Klägerin hat die von ihr begehrte Auszahlung des Entlastungsbetrages nach § 45b SGB XI am 14.6.2020 bei der Beklagten beantragt; die (Untätigkeits-)Klageerhebung erfolgte aber bereits am 17.9.2020, mithin vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Zahlungsantrag.

Das Begehren (und die Berufung) der Klägerin sind zudem auch unbegründet, weil die Klägerin unter keinem Gesichtspunkt einen Anspruch auf Auszahlung des Entlastungsbetrages an sie persönlich hat. Gem. § 45b Abs. 1 SGB XI haben Pflegebedürftige in häuslicher Pflege Anspruch auf einen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125,00 € monatlich (Satz 1). Er ist jedoch zweckgebunden für die in Satz 2 beschriebenen Leistungen einzusetzen und dient ausschließlich der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer der in Satz 3 Nrn. 1-4 genannten Leistungen entstehen. Hieraus ergibt sich bereits, dass er nicht ohne Zweckbindung und nicht ohne, dass Aufwendungen für entsprechende Leistungen zuvor entstanden (und nachgewiesen, § 45b Abs. 2 Satz 2 SGB XI) sind, gezahlt werden kann. Eine Inanspruchnahme zur Vergütung allgemeiner Unterstützungsleistungen durch Angehörige scheidet damit aus.

Auch aus § 150 Abs. 5b SGB XI in der seit dem 23.5.2020 geltenden Fassung ergibt sich nichts Anderes. Danach können Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 den Entlastungsbetrag auch für die Inanspruchnahme anderer als der in § 45b Abs. 1 Satz 3 SGB XI genannten Hilfen im Wege der Kostenerstattung einsetzen, wenn dies zur Überwindung von infolge des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Versorgungsengpässen erforderlich ist. Für die Klägerin waren indes zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung bereits die Voraussetzungen des Pflegegrades 2 anerkannt; für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 ist aber in § 150 Abs. 5 SGB XI eine Sonderregelung zur Kostenerstattung zur Vermeidung von durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 im Einzelfall im häuslichen Bereich verursachten pflegerischen Versorgungsengpässen geschaffen worden, die keine Modifikation der Voraussetzungen des § 45b SGB XI vorsieht. Darüber hinaus entbindet auch § 150 Abs. 5b SGB XI nicht vom Erfordernis eines Nachweises für diejenigen Aufwendungen, für die Erstattung verlangt wird.

Landesrechtliche Vorschriften, die einen entsprechenden Anspruch der Klägerin begründen könnten, bestehen ebenfalls nicht. Die auf der Grundlage von §§ 45a Abs. 3, 144 Abs. 2 Satz 2 SGB XI für das Land Niedersachsen erlassene „Verordnung über die Anerkennung von Angeboten zur Unterstützung im Alltag nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches“ (AnerkVO SGB XI) sah weder in ihrer Fassung vom 21.9.2017 (Nds.GVBl. S. 311) eine zweckungebundene, unmittelbare Auszahlung des Entlastungsbetrages an die Pflegebedürftigen vor noch ist dies in der seit dem 1.2.2022 geltenden Neufassung (Nds.GVBl. S. 10) vorgesehen. Der Umstand, dass Verordnungsgeber in anderen Bundesländern die ihnen erteilte Ermächtigung in anderer Weise genutzt haben mögen, begründet keinen Anspruch der in Niedersachsen wohnhaften Klägerin. Für einen – im Übrigen auch von der Klägerin nicht näher dargelegten - Verstoß gegen das „Gleichbehandlungsprinzip, Verhältnismäßigkeit bzw. Einzelfallentscheidung“ vermag der Senat dabei nichts zu erkennen.

Für eine anderslautende, der Klägerin wirksam (schriftlich, § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB X) erteilte Zusage der Beklagten ist ebenfalls nichts ersichtlich. Diese ergibt sich entgegen dem Vorbringen der Klägerin insbesondere auch nicht aus dem Vergleich vor dem SG Hildesheim vom 23.5.2019 im Verfahren S 51 P 28/18. Die Beklagte hat sich mit dortigen Schriftsatz vom 29.4.2019 „lediglich“ vergleichsweise bereit erklärt, „ab dem 1.1.2019 Pflegebedürftigkeit … nach dem Pflegegrad 2 anzuerkennen und von diesem Zeitpunkt an die entsprechenden Leistungen zu zahlen“. Diesen Vergleichsvorschlag hat die Klägerin mit schriftlicher Erklärung vom 20.5.2019, beim SG eingegangen am 23.5.2019, angenommen. Der Umstand, dass sie die Annahmeerklärung mit handschriftlichen Ergänzungen zu ihrem Verständnis des Vergleichsvorschlages versehen hat, führt nicht dazu, dass diese Gegenstand des Vergleiches geworden wären. Im Übrigen hat die Beklagte hierauf bereits mit Schreiben vom 31.7.2019 und 3.7.2020 an das SG, die an die Klägerin weitergeleitet wurden, zutreffend darauf hingewiesen, dass der Entlastungsbetrag nur zweckgebunden für die gesetzlich normierten Sachleistungsangebote (§ 45b Abs. 1 Satz 3 SGB XI) eingesetzt werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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