L 12 AS 1323/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 31 AS 5098/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 1323/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.07.2019 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand:

Streitig sind Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018.

Frau C (geb. am 00.00.1995) ist die alleinerziehende Mutter der Klägerin (geb. am 00.00.2018) und ihrer Schwester S (geb. am 00.00.2016). Alle drei sind bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige und leben in einem Haushalt. Sowohl die Mutter als auch die Schwester der Klägerin besitzen einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die Schwester seit dem 01.06.2018.

Die Mutter der Klägerin und ihr leiblicher Vater, Herr K, bildeten zunächst eine Bedarfsgemeinschaft, die laufend Leistungen nach dem SGB II bezog; die Mutter der Klägerin steht seit März 2016 im Leistungsbezug. Der Beklagte gewährte der Mutter der Klägerin sowie Herrn K mit Bescheid vom 27.03.2018 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.02.2018 bis 30.11.2018 (für Herrn K jedoch nur bis zu seinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung am 31.03.2018; an Aufwendungen für Unterkunft und Heizung wurden dabei 731,04 Euro zu Grunde gelegt: Grundmiete: 563,04 Euro, Heizkosten: 56,00 Euro, Nebenkosten: 112,00 Euro). Mit Änderungsbescheiden vom 18. und 24.07.2018 gewährte der Beklagte auch der Schwester der Klägerin von August bis November 2018 Leistungen nach dem SGB II. Bis zum 31.07.2018 hatte diese Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bezogen.

Mit Bescheid vom 09.08.2018 stellte der Beklagte gegenüber der Mutter der Klägerin die Leistungen vorläufig ein, weil für die Schwester der Klägerin kein Kindergeld beantragt worden war.

Die Mutter der Klägerin benachrichtigte den Beklagten am 15.08.2018 von der Geburt der Klägerin und beantragte für sie Leistungen nach dem SGB II. Der Klägerin wurden seitens des Ausländeramtes der Stadt N für die Zeiträume vom 17.09.2018 bis 05.06.2019 und vom 05.07.2019 bis 04.01.2020 Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 AufenthG erteilt. Vom 09.05.2019 bis 18.11.2020 war die Klägerin im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Seitdem besteht der Aufenthalt der Klägerin wieder auf Grundlage von Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG fort, zuletzt befristet bis zum 16.05.2022.

Am 01.10.2018 stellte die Mutter der Klägerin für diese und deren Schwester einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) bei der Stadt N.

Der Beklagte bewilligte der Mutter sowie Schwester der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 10.10.2018 höhere Leistungen für den Zeitraum von April bis November 2018. Als Grund der Änderung wurde ein Mehrbedarf für Alleinerziehende und nun gewährte Unterkunftsaufwendungen angegeben. Zugleich bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 10.11.2018. Für die Zeit vom 10.08.2018 bis zum 09.11.2018 lehnte der Beklagte dagegen eine Leistungsbewilligung zugunsten der Klägerin ab. Im Bescheid vom 10.10.2018 wurde unter anderem ausgeführt, dass die bisher ergangenen Bescheide vom 12.12.2017, 27.03.2018, 18.07.2018 und 24.07.2018 insoweit aufgehoben würden.

Mit Bescheid vom 18.10.2018 bewilligte die Stadt N der Mutter der Klägerin Elterngeld ab der Geburt der Klägerin i.H.v. monatlich 375,00 Euro. Das Elterngeld für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 in Höhe von 1.125,00 Euro wurde wegen eines denkbaren Erstattungsanspruchs des Beklagten nicht ausgezahlt. Eine erstmalige Auszahlung des Elterngeldes an die Mutter der Klägerin für den Zeitraum vom 10.11.2018 bis 09.12.2018 i.H.v. 375,00 Euro erfolgte am 30.11.2018.

Zum 01.11.2018 zogen die Klägerin sowie ihre Mutter und Schwester in eine neue Wohnung in N um. Nach dem Mietvertrag über die neue Unterkunft vom 26.10.2018 betrug die Miete ab dem 01.11.2018 monatlich 745,30 Euro (Grundmiete: 664,70 Euro, Betriebskosten: 164,00 Euro, Heizkosten: 70,00 Euro, abzüglich eines Wohnungsabschlags von 153,40 Euro).

Die Klägerin legte gegen den Bescheid vom 10.10.2018 unter Hinweis auf die ihr erteilte Fiktionsbescheinigung Widerspruch ein. Sie habe auch in den ersten drei Monaten des Aufenthaltes Leistungsansprüche nach dem SGB II. Es greife die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II ein, wonach der Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten nicht für Ausländer gilt, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Da ihre Mutter im Besitz einer solchen Aufenthaltserlaubnis sei, unterliege diese nicht dem Ausschlusstatbestand und daher auch sie als Familienangehörige nicht.

Mit weiterem Änderungsbescheid vom 14.11.2018 wurden für den November 2018 höhere Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft bewilligt und die bisherigen Bescheide insoweit aufgehoben.

Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2018 unter Verweis auf den Anspruchsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II zurück. Die Fiktionsbescheinigung sei für eine Ableitung eines Anspruchs vom Aufenthalt der Mutter der Klägerin nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht ausreichend. Auch die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) stützten diese Ansicht. Danach könne in diesen Fällen ein Leistungsanspruch allein dann angenommen werden, wenn den Familienangehörigen ein Titel nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG erteilt werde. Dies sei vorliegend nicht der Fall.

Am 12.12.2018 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Köln erhoben. Zur Begründung hat sie unter Wiederholung ihres bisherigen Vortrags ausgeführt, dass der Ausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II Familienangehörige des Ausländers erfasse, dessen Leistungsberechtigung nach dem SGB II in Frage stehe. Insofern könne der Norm der Grundsatz zu entnehmen sein, dass alle Familienangehörigen, die zur Bedarfsgemeinschaft gehören, einheitlich zu behandeln seien.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 zu verurteilen, ihr auch für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis zum 09.11.2018 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen auf seine Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen.

Das SG Köln hat den Beklagten durch Urteil vom 18.07.2019 verurteilt, der Klägerin unter Abänderung des Bescheides vom 10.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sei. Denn zu ihren Gunsten greife die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II, da sie als Familienangehörige eines vom Leistungsausschluss nicht erfassten Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland geboren sei; hierbei unterfalle auch die Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft, die mit der Geburt eines Kindes im Bundesgebiet entstehe, dem Begriff des Familiennachzugs, wie ihn § 27 AufenthG bestimme, auch wenn gemäß § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG ein Familiennachzug u.a. in den Fällen, in denen die Eltern über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verfügten, nicht gewährt werde. Die Mutter der Klägerin habe zum Zeitpunkt der Geburt der Klägerin über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG (d.h. über einen Aufenthaltstitel im Sinne des 5. Abschnitts des 2. Kapitels des AufenthG) verfügt, sodass sie nicht von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst sei. Die Klägerin habe sich wegen der Fiktionsbescheinigungen und zuletzt aufgrund der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG durchgängig rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II finde bei Familienangehörigen eines SGB-II-Leistungsbeziehers, der die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II erfülle, keine Anwendung. Dies ergebe sich zunächst aus der Normstruktur des § 7 Abs. 1 S. 2 bzw. S. 3 SGB II. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II (und auch Nr. 2) erstrecke sich ausdrücklich auf Ausländer „und ihre Familienangehörigen“. Demgegenüber benenne § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II zwar nur Ausländer ohne zusätzliche ausdrückliche Erwähnung ihrer Familienangehörigen. Daraus könne jedoch nicht geschlossen werden, dass im Rahmen der Rückausnahme von der in der Ausnahmevorschrift vorgegebenen Grundstruktur (Ausländer und Familienangehörige) abgewichen werden sollte. Eine derartige Einschränkung lasse sich aus dem bloßen Wortlaut der Rückausnahme nicht ableiten. Die Kammer teile nicht die Auffassung des Beklagten, dass die Rückausnahme nur zugunsten solcher Familienangehöriger greife, welche über einen Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG verfügen. Für eine entsprechend differenzierte Betrachtung zwischen solchen Familienangehörigen, denen – wie vorliegend – ein Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) erteilt werde, weil ein Familiennachzug nicht gewährt werde (vgl. § 29 Abs. 3 AufenthG), und solchen Familienangehörigen, denen ein Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG (Aufenthalt aus familiären Gründen) erteilt werde, enthalte die gesetzliche Regelung keinen hinreichenden Anhalt. Eine solche differenzierte Betrachtung ergebe sich auch nicht aus den Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drucks. 16/5065, S. 234). Denn ausweislich der Gesetzesbegründung sollten mit der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II insbesondere Unionsbürger sowie deren Familienangehörige vom SGB II-Leistungsbezug ausgeschlossen werden, weil sie in dieser Zeit das voraussetzungslose dreimonatige Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) in Anspruch nehmen. Mit dieser Personengruppe seien Drittstaatsangehörige und ihre Familienmitglieder, die sich auf Grundlage eines Aufenthaltstitels oder unter entsprechender aufenthaltsrechtlicher Vorwirkung aufgrund einer Fiktionsbescheinigung und eines anschließend erteilten Aufenthaltstitels im Inland aufhalten, nicht vergleichbar.

Gegen das ihm am 23.07.2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 13.08.2019 Berufung eingelegt. Unter Bezugnahme auf die Fachlichen Weisungen der BA führt er aus, dass Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des 6. Abschnitts des 2. Kapitels AufenthG erhalten könnten, wenn sie nach Deutschland „nachzögen“. Die Regelungen des 6. Abschnitts seien akzessorisch zu den Regelungen, nach denen die jeweilige Bezugsperson (von der die Familienangehörigen ihr Recht auf Aufenthalt ableiten) ihren Aufenthaltstitel erhalte. Habe die Bezugsperson einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 des 2. Kapitels AufenthG (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) und sei daher nicht vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst, so gelte dies auch für die Familienangehörigen, denen ein Titel nach Abschnitt 6 erteilt werde. In den Fällen des § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG, d.h. u.a. bei Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 5 AufenthG, sei die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33 AufenthG nach den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum AufenthG vom 26.10.2009 (Punkt 33.0) nicht möglich. Dieser Fall liege hier vor, weil die Mutter der Klägerin nur einen Titel nach § 25 Abs. 5 AufenthG besitze und die Klägerin keinen Titel nach § 33 AufenthG habe erhalten können. Damit habe sie keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die zuständige Ausländerbehörde habe hier noch nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden müssen. Die Ermessensausübung obliege auch nur dieser Behörde. Im Übrigen sei der Berufungsstreitwert überschritten, weil ein Betrag von 1.436,34 Euro im Streit stehe und anrechenbares Einkommen nicht ersichtlich sei. Auf die Berechnung des Beklagten zur Höhe des Streitgegenstands in dessen Schriftsatz vom 18.12.2019 wird Bezug genommen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.07.2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin ist der Berufung unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens entgegengetreten. Ergänzend meint sie, dass es nicht richtig sei, bei einem in Deutschland geborenen Kind, dessen Mutter nur einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen besitze, nicht von vornherein davon auszugehen, dass dem Kind ein entsprechender Aufenthaltstitel erteilt werde. Die Argumentation des Beklagten überzeuge auch deshalb nicht, da er ihr, der Klägerin, bereits nach dem dritten Lebensmonat Leistungen gewährt habe, ohne dass ihr zu diesem Zeitpunkt bereits ein Aufenthaltstitel erteilt worden wäre. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass der Gesetzgeber diese Fallgestaltung übersehen habe und eine verfassungskonforme Auslegung geboten sei. Anderenfalls bliebe sie gänzlich von Leistungen ausgeschlossen, da ihr wegen der Fiktionsbescheinigung kein Anspruch nach dem AsylbLG zustehe. Hinzu komme, dass ihre Mutter bereits länger als fünf Jahre im Bundesgebiet ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe. Zwar erfasse die Rückausnahme zu einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II nur den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II. Aus dem Rechtsgedanken und der Gesetzesbegründung ergebe sich jedoch, dass Ausländer und ihre Familienangehörigen nicht länger von Leistungen ausgeschlossen werden sollen, wenn sie sich länger als fünf Jahre im Bundesgebiet aufhielten. Da diese Befristung auch Familienangehörige unabhängig von ihrer eigenen bisherigen Aufenthaltsdauer mit einschließe, müsse dies auch für einen Aufenthalt in den ersten drei Monaten gelten.

Nachdem die Kfz-Zulassungsstelle der Stadt N auf Anfrage des Senats mitgeteilt hatte, dass ein Kraftfahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen X-XX 0000 zwischen dem 02.08.2018 und dem 05.09.2018 auf die Mutter der Klägerin als Halterin zugelassen war, hat die Klägerin über ihre Bevollmächtigte mitteilen lassen, dass es sich um den Wagen des damaligen Lebensgefährten der Mutter der Klägerin (und gleichzeitigen Vaters der Klägerin) gehandelt habe. Dieser habe den Wagen wegen Schulden und eines Schufa-Eintrags nicht selbst anmelden können. Nach Erinnerung der Mutter der Klägerin habe der Wagen, Baujahr 2005 oder 2006, im Jahr 2018 etwa einen Kilometerstand von 220.000 und einen Wert von ca. 1.000,00 Euro gehabt.

Auf Nachfrage des Senats hat die Klägerin unter Vorlage der Bescheide der Stadt N vom 18.10.2018 und 29.04.2019 mitgeteilt, dass dem Beklagten für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 aus dem Elterngeld ein Erstattungsanspruch i.H.v. 1.035,00 Euro (von den zunächst einbehaltenen 1.125,00 Euro) ausgezahlt worden sei. Kindergeld sei beantragt, aber abgelehnt worden, weil ihre Mutter die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch nicht erfülle (unter Vorlage der ersten Seite eines Bescheides der Familienkasse Nordrhein-Westfalen West vom 30.07.2019 über die Bescheidung eines Kindergeldantrags der Schwester der Klägerin). Unterhalt und Unterhaltsvorschuss seien auch nicht gezahlt worden. Der Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem UVG aus dem Jahr 2018 sei bis heute nicht beschieden worden. In einem Schreiben vom 28.10.2021 hat die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt N mitgeteilt, dass Anträge auf Leistungen nach dem UVG für die Klägerin und ihre Schwester gestellt worden seien. Die Klägerin hat ferner mitgeteilt, dass ihrer Schwester Pflegegeldleistungen in Höhe von 728,00 Euro monatlich bewilligt würden. Weiterhin hat die Klägerin auf Anfrage des Senats die Höhe der geltend gemachten Unterkunftsaufwendungen berechnet (Schriftsatz vom 28.11.2019) und Kontoauszüge ihrer Mutter aus dem Streitzeitraum vorgelegt. Ferner hat die Klägerin auf Anfrage des Senats erklärt, dass ihre Mutter (weiterhin) das alleinige Sorgerecht für sie ausübe. In einem von ihr vorgelegten Schreiben vom 18.01.2022 hat das Amt für Kinder, Jugend und Familie der Stadt N ausgeführt, dass für die Klägerin bis heute keine Eintragungen im Sorgeregister vorlägen und davon auszugehen sei, dass die Mutter der Klägerin nach § 1626a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Alleinsorge für die Klägerin innehabe. Auf die Bescheide der Stadt N vom 18.10.2018 und 29.04.2019 sowie deren Schreiben vom 28.10.2021 und 18.01.2022, den Bescheid der zuständigen Familienkasse vom 30.07.2019, die Berechnung der Unterkunftsaufwendungen durch die Klägerin im Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 28.11.2019 sowie die eingereichten Kontoauszüge ihrer Mutter wird jeweils Bezug genommen.

Hinsichtlich des weiteren Inhalts des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg.

A. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, worauf der Senat die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, der Bescheid vom 10.10.2018 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14.11.2018 und des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018, soweit er die Klägerin und den streitigen Leistungszeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 betrifft. Die vorangegangenen Bescheide vom 12.12.2017, 27.03.2018, 18.07.2018 und 24.07.2018 wurden durch den Bescheid vom 10.10.2018 aufgehoben, soweit der Zeitraum von April bis November 2018 betroffen war. Diese Bescheide betrafen auch nicht die Leistungsbewilligung gegenüber der Klägerin. Der Änderungsbescheid vom 14.11.2018 wiederum regelt die Leistungshöhe für November 2018 neu und ändert insoweit den Bescheid vom 10.10.2018 nach § 86 Hs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ab. Es ist dabei unschädlich, dass der Bescheid vom 14.11.2018 im Tenor des angefochtenen Urteils nicht erwähnt wird. Aus dem Tenor ergibt sich, dass Leistungen „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen“ gewährt werden, sodass die mit Bescheid vom 14.11.2018 bereits erfolgte Festsetzung ohnehin mitberücksichtigt werden muss. Insoweit hat der Senat keine Notwendigkeit für eine klarstellende Ergänzung des erstinstanzlichen Urteilstenors gesehen.

Der Einstellungsbescheid vom 09.08.2018 ist nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, weil er an die Mutter der Klägerin adressiert war. Ungeachtet dessen ist ein Fall des § 86 Hs. 1 SGG in solchen Fällen grundsätzlich nicht gegeben, weil ein Versagungs- bzw. Einstellungsbescheid einen anderen Regelungsgegenstand hat als ein Bewilligungsbescheid und insoweit ein Abändern oder Ersetzen i.S.v. § 86 Hs. 1 SGG nicht in Betracht kommt (vgl. Bayerisches LSG Urteil vom 12.07.2018, L 18 SO 38/18, Rn. 24 ff., juris; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 96 Rn. 4b).

B. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Einer echten notwendigen Beiladung der Stadt Köln als Trägerin der Leistungen nach dem AsylbLG nach § 75 Abs. 2 SGG (vgl. § 10 AsylbLG i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 1 „Gesetz zur Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes <AG AsylbLG>“ vom 29.11.1994, GV.NW., S. 1087) bedurfte es nicht. Nach § 75 Abs. 2 SGG sind Dritte notwendig beizuladen, wenn sie derart an einem Verfahren beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann (Alt. 1) oder wenn sich im Verfahren ergibt, dass bei der Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ein Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, ein Träger der Leistungen nach dem AsylbLG oder in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt (Alt. 2). Eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG kommt nicht in Betracht. Erforderlich ist insoweit, dass die Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift. In die Rechtssphäre des Dritten wird unmittelbar eingegriffen, wenn die vom Kläger begehrte Sachentscheidung nicht getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte des Dritten gestaltet, bestätigt, festgestellt, verändert oder aufgehoben werden (zum Ganzen BSG Urteil vom 20.03.2018, B 1 A 1/17 R, Rn. 10 m.w.N., juris). Durch die Entscheidung des Senats wird aber nicht zugleich in die Rechtssphäre des Trägers der Leistungen nach dem AsylbLG unmittelbar eingegriffen. Auch die Voraussetzungen nach § 75 Abs. 2 Alt. 2 SGG liegen nicht vor. Eine Beiladung nach dieser Alternative ist nicht erst geboten, wenn für das erkennende Gericht feststeht, dass der Beklagte selbst nicht leistungspflichtig ist, sondern bereits dann, wenn die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass an Stelle des Beklagten ein anderer Leistungsträger die Leistung zu erbringen hat (BSG Urteile vom 08.12.1988, 2 RU 15/88, Rn. 18, juris; und vom 25.04.2013, B 8 SO 16/11 R, Rn. 10, juris; Beschluss vom 05.07.2016, B 1 KR 18/16 B, Rn. 5, juris). Eine solche ernsthafte Möglichkeit einer Leistungspflicht des Trägers der Leistungen nach dem AsylbLG besteht hier nicht. Dies wäre allenfalls dann anzunehmen, wenn für den Senat Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die streitgegenständlichen Fiktionbescheinigungen inhaltlich unrichtig wären. Dann kämen unter Umständen Leistungsansprüche nach § 1 AsylbLG in Betracht, zu deren Erbringung die beizuladende Stadt N nach § 75 Abs. 5 SGG verurteilt werden könnte. Anhaltspunkte für eine inhaltliche Unrichtigkeit der eingereichten Fiktionsbescheinigungen liegen indes nicht vor. Aus einer Fiktionsbescheinigung können zwar keine rechtlichen Wirkungen abgeleitet werden. Ist sie unrichtig, kann jederzeit auf die wahre, durch das Gesetz vermittelte Rechtslage zurückgegriffen werden (vgl. BVerwG Urteil vom 03.06.1997, 1 C 7/96, Rn. 27, juris). Als öffentliche Urkunde kann die Fiktionsbescheinigung jedoch Beweisfunktion entfalten, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob und wann ein Ausländer einen (rechtzeitigen) Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt hat (vgl. Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, 5. Update 12/2021, § 81 AufenthG Rn. 73). Die am 17.09.2018 erstmals ausgestellte Fiktionsbescheinigung beweist, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis rechtzeitig gestellt wurde (vgl. § 81 Abs. 2 S. 2 AufenthG) und die Erlaubnisfiktion daher greifen konnte.

C. Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro übersteigt, § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG. Streitgegenständlich sind Regelbedarfsleistungen und anteilige Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Klägerin für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 in Höhe eines Betrages von 1.452,47 Euro, der sich wie folgt zusammensetzt:

 

08/2018

09/2018

10/2018

11/2018

Regelbedarf

240,00 Euro

240,00 Euro

240,00 Euro

240,00 Euro

KdU gesamt

KdU kopfteilig

731,04 Euro

243,68 Euro

731,04 Euro

243,68 Euro

731,04 Euro

243,68 Euro

745,30 Euro

248,43 Euro

Zwischensumme

483,68 Euro

483,68 Euro

483,68 Euro

488,43 Euro

anteilig untermonatlich

21 Tage

 

 

9 Tage

Gesamt

338,58 Euro

483,68 Euro

483,68 Euro

146,53 Euro

 

Die voranstehenden Zahlen zu den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung stimmen mit den von den Beteiligten genannten Zahlen überein. Der Regelsatz von 240,00 Euro entspricht den Bedarfen für das Jahr 2018 (nach der Regebedarfsstufe 6 für Kinder unter 6 Jahren). Bedarfsminderndes Einkommen liegt nicht vor (vgl. dazu auch Punkt D. II. 1.).

D. Die Berufung ist aber nicht begründet. Die Klage ist zulässig und begründet.

I. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Abs. 4 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Klägerin ist auch prozessführungsbefugt. Nach dem Schreiben der Stadt N vom 18.01.2022 übt die Mutter der Klägerin für diese nach wie vor das alleinige Sorgerecht aus (§ 1626a BGB), sodass die Klägerin durch ihre Mutter ordnungsgemäß im Gerichtsverfahren vertreten ist (vgl. § 1629 Abs. 1 S. 3 Alt. 1 BGB, vgl. ferner BSG Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 54/08 R, Rn. 21, juris).

II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 10.10.2018 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 14.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin i.S.v. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018.

Rechtsgrundlage für den Ablehnungsbescheid ist § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) und § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X), weil der Beklagte bei der Leistungsbewilligung zuletzt mit Bescheid vom 24.07.2018 für den Zeitraum von April bis November 2018 Regelbedarfe und Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Bedarfsgemeinschaft bewilligt hatte und die Geburt der Klägerin am 00.08.2018 zeitlich in diesen Bewilligungsabschnitt fällt. Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Dauerverwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB X aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Liegen die in § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X genannten Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vor, ist dieser mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben (§ 330 Abs. 3 S. 1 SGB III). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Mit der Geburt der Klägerin am 10.08.2018 ist eine rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X eingetreten. Die Klägerin hat infolgedessen auch für den Streitzeitraum vom 10.08.2018 bis 09.11.2018 Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Personen Leistungen nach dem SGB II, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II erhalten nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) haben. Nach § 19 Abs. 1 S. 3 SGB II umfassen die Leistungen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Die Klägerin erfüllt als zu der Bedarfsgemeinschaft ihrer Mutter gehörendes nichterwerbsfähiges Kind die Anspruchsvoraussetzungen für Sozialgeld (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB II). Sie hat im streitbefangenen Zeitraum keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII. Das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Dementsprechend hat der Beklagte der Klägerin im Bescheid vom 10.10.2018 nach Ablauf der ersten drei Monate ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland, d.h. ab dem 10.11.2018, SGB-II-Leistungen gewährt. Der Anspruch besteht entgegen der Auffassung des Beklagten aber schon ab Geburt der Klägerin, wobei weder anzurechnendes Einkommen oder Vermögen vorliegt (dazu 1.) noch ein Leistungsausschluss zulasten der Klägerin greift (dazu 2.).

1. Anzurechnendes Einkommen oder Vermögen der Bedarfsgemeinschaft nach §§ 11 ff. SGB II, das sich bedarfsmindernd oder -ausschließend auswirken würde, ist nicht ersichtlich.

Kindergeld wurde für die Klägerin und ihre Schwester nicht bezogen. Insoweit hat die Klägerin nachvollziehbar auf den Anspruchsausschluss nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 c) i.V.m. Nr. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) verwiesen, weil ihre Mutter im Streitzeitraum weder berechtigt erwerbstätig noch in Elternzeit war und auch keine Geldleistungen nach dem SGB III in Anspruch nahm (vgl. § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG). Aus dem eingereichten Bescheid der Familienkasse Nordrhein-Westfalen West vom 30.07.2019 ergibt sich zudem, dass der Kindergeldanspruch – wenn auch für die Schwester der Klägerin – dem Grunde nach abgelehnt wurde.

Anzurechnendes Elterngeld wurde nicht bezogen. Aus den eingereichten Kontoauszügen ergibt sich, dass Elterngeld erstmals außerhalb des Streitzeitraums, nämlich am 30.11.2018, an die Mutter der Klägerin ausgezahlt wurde. Mit Bescheid vom 29.04.2019 teilte die Stadt N der Mutter der Klägerin mit, dass von den zunächst einbehaltenen 1.125,00 Euro an Elterngeld, die sich auf den hiesigen Streitzeitraum erstrecken, 1.035,00 Euro an den Beklagten im Wege der Erstattung ausgezahlt wurden. Lediglich die verbliebene Differenz (90,00 Euro) wurde danach (nach dem 15.11.2019) an die Mutter der Klägerin ausgezahlt.

Leistungen nach dem UVG und sonstige Unterhaltsleistungen hat die Mutter der Klägerin ebenfalls nicht erhalten. In einem Schreiben vom 28.10.2021 hat die Unterhaltsvorschusskasse der Stadt N bestätigt, dass Anträge auf Leistungen nach dem UVG für die Klägerin und ihre Schwester gestellt wurden. Der Senat geht daher davon aus, dass der Antrag auf Leistungen nach dem UVG vom 01.10.2018 jedenfalls im streitgegenständlichen Zeitraum nicht beschieden wurde.

Die am 06. und 07.11.2018 erfolgten Rückzahlungen des Stromanbieters (M) in Höhe von 60,00 Euro und 338,24 Euro, die aus den eingereichten Kontoauszügen ersichtlich sind, sind anrechnungsfrei. Eine nach Antragstellung tatsächlich zugeflossene Rückerstattung aus abgerechneten Stromkosten, die auf Vorauszahlungen in Zeiträumen der Hilfebedürftigkeit beruht, ist zwar grundsätzlich dem Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II zuzuordnen, jedoch als ursprünglich im Rahmen des pauschalierten Regelbedarfs gewährte Leistung nach dem SGB II von vornherein von der Einkommensberücksichtigung ausgenommen (BSG Urteil vom 23.08.2011, B 14 AS 186/10 R, Rn. 15ff., juris).

Die von der Klägerin mitgeteilten monatlichen Leistungen i.H.v. 728,00 Euro, die ihre Schwester von der Pflegeversicherung für einen bei ihr festgestellten Pflegegrad 4 erhält, sind ebenfalls anrechnungsfrei. Es handelt sich dabei um Pflegezuwendungen nach § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI), die nach § 3 Nr. 36 S. 1 EStG steuerfrei sind und nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) anrechnungsfrei bleiben.

Zu berücksichtigendes Vermögen der Bedarfsgemeinschaft nach § 12 SGB II lag im Streitzeitraum nicht vor. In Betracht käme allenfalls das auf die Mutter der Klägerin vom 02.08.2018 bis zum 05.09.2018 zugelassene Personenkraftfahrzeug. Allerdings hat die Mutter der Klägerin für den Senat glaubhaft und lebensnah dargelegt, dass der Wagen nicht in ihrem, sondern im Eigentum ihres damaligen Lebensgefährten stand, der den Pkw wegen Schulden und eines Schufa-Eintrags nicht selbst hat anmelden können. Dieser Vortrag wird dadurch untermauert, dass aus den eingereichten Kontoauszügen keine größere Einzahlung oder Überweisung im Streitzeitraum ersichtlich ist, die auf einen etwaigen Verkauf des Fahrzeugs zugunsten der Mutter der Klägerin hindeuten könnte. Der Beklagte hat den Vortrag der Mutter der Klägerin auch nicht in Zweifel gezogen, sodass weitere Ermittlungen diesbezüglich nicht erforderlich waren. Doch selbst wenn man annehmen würde, dass der Pkw der Mutter der Klägerin wirtschaftlich zuzuordnen wäre, stellte er kein verwertbares Vermögen dar. Anhand der von der Kfz-Zulassungsstelle mitgeteilten Fahrzeugidentifikationsnummer lässt sich feststellen, dass es sich bei dem Wagen um einen Ford Focus handelt. Die von der Mutter zusätzlich genannten Daten (Baujahr 2005 oder 2006, Kilometerstand ca. 220.000) lassen den geschätzten Wert von 1.000,00 Euro plausibel erscheinen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass ein von Arbeitsuchenden genutztes Kraftfahrzeug nicht als Vermögen zu berücksichtigen ist, wenn der Verkehrswert des Pkw bei realitätsnaher Betrachtung zumindest die Summe aus dem Wert für ein angemessenes Kraftfahrzeug nach § 12 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB II i.H.v. 7.500,00 Euro und den Grundfreibeträgen nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II nicht überschreitet (BSG Urteil vom 20.08.2009, B 14 AS 41/08 R, Rn. 13, juris). Für die am 00.00.1995 geborene Mutter der Klägerin ergäbe sich im Streitzeitraum ein Grundfreibetrag nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II von 3.300,00 Euro (22 Lebensjahre x 150,00 Euro). Nach § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB II käme ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen der gesamten Bedarfsgemeinschaft von 3 x 750,00 Euro hinzu (vgl. dazu BSG Urteil vom 13.05.2009, B 4 AS 58/08 R, Rn. 18, juris). Das ergäbe einen Gesamtfreibetrag von 13.050,00 Euro. Der Wert des streitgegenständlichen Pkw läge aber weit darunter.

2. Leistungsausschlussgründe stehen dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen. Zwar sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des Leistungsausschlussgrundes nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II gegeben (dazu a.), allerdings liegen die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II vor (dazu b.). Leistungsausschlussgründe nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II (in der hier maßgeblichen Fassung vom 29.12.2016 bis 31.07.2019 <a.F.>, dazu c.) und nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II (dazu d.) bestehen nicht.

a. Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II sind Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Mutter der Klägerin ist weder Arbeitnehmerin oder Selbständige noch kann sie wegen ihrer bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigkeit nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sein. Gleiches gilt für die Klägerin als Familienangehörige.

b. Es liegen jedoch die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II vor. Danach gilt § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Die Mutter der Klägerin verfügte zum Zeitpunkt der Geburt der Klägerin einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG und damit über einen Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG, sodass sie – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II nicht von dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II erfasst war. Diese Rechtsfolge ist auf die Klägerin zu übertragen. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und S. 3 SGB II (dazu aa.), aber aus der Gesetzessystematik (dazu bb.), dem Zweck der Regelung (dazu cc.) sowie den Gesetzgebungsmaterialien (dazu dd.).

aa. Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II lässt sich nicht unmittelbar ableiten, dass die hier geregelte Rückausnahme auch für Familienangehörige von Ausländerinnen und Ausländern gilt. Vielmehr sind hier – anders als etwa in der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II – nur die „Ausländerinnen und Ausländer“, nicht hingegen die „Familienangehörigen“ genannt. Andererseits spricht allein das Fehlen des Begriffs der Familienangehörigen in § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II nicht dafür, dass diese sich nicht auf die Rückausnahme berufen könnten. Insofern ist der Wortlaut nicht eindeutig und lässt sich aus den gleichwertigen Auslegungsgrundsätzen der Systematik, des Zwecks sowie der Historie der einschlägigen Normen ein anderes Ergebnis rechtfertigen. Um den maßgeblichen objektivierten Willen des Gesetzgebers im Gesetz zu erfassen, sind diese gleichwertigen Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig und stehen gleichwertig nebeneinander (vgl. BVerfG Beschlüsse vom 17.05.1960, 2 BvL 11/59, Rn. 16 ff., juris; und vom 02.05.2016, 2 BvR 1137/14, Rn. 30, juris).

bb. Dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II in einer solchen Konstellation (d.h. bei Familienangehörigen eines SGB II-Leistungsbeziehers, der die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II erfüllt) nicht „greift“, folgt entscheidend aus der Normstruktur des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und S. 3 SGB II (so auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 26.01.2016, L 11 AS 1076/14, Rn. 26, juris; und Beschluss vom 19.09.2014, L 11 AS 502/14 B ER, Rn. 20, juris; vgl. dazu ferner SG Berlin Urteil vom 18.04.2011, S 201 AS 45186/09, Rn. 19 ff., juris). So erstreckt sich § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II (und auch Nr. 2) ausdrücklich auf Ausländer „und ihre Familienangehörigen“. Demgegenüber benennt § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II zwar nur Ausländer ohne die zusätzliche ausdrückliche Erwähnung ihrer Familienangehörigen. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass im Rahmen der Rückausnahme von der in der Ausnahmevorschrift vorgegebenen Grundstruktur (Ausländer und Familienangehörige) abgewichen werden sollte. Vielmehr ist wegen der Akzessorietät des Leistungsausschlusses für Ausländer und ihre Familienangehörigen in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II davon auszugehen, dass sich die Rückausnahme auch auf Familienangehörige erstreckt (so auch Geiger in Münder/Geiger, SGB II, 7. Auflage 2021, § 7 Rn. 33).

cc. Auch der Zweck der Regelung spricht für dieses Ergebnis. Dieser gebietet es, die Regelung in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und S. 3 SGB II einschränkend so auszulegen, dass kein Leistungsausschluss besteht, wenn der im Bundesgebiet lebende Familienangehörige ein verfestigtes Aufenthaltsrecht besitzt (so etwa BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 37/12 R, juris, für den Zuzug von Drittstaatsangehörigen als Familienangehörige zu einem Deutschen ins Bundesgebiet). Von einem solchen verfestigten Aufenthaltsrecht ist hier auszugehen. Der Klägerin waren aufgrund des Aufenthaltstitels ihrer Mutter zunächst vom 17.09.2018 bis 05.06.2019 Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 AufenthG und vom 09.05.2019 bis 18.11.2020 Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt worden. Seitdem sind wiederum Fiktionsbescheinigungen ausgestellt worden. Die Klägerin hat sich damit durchgängig rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Die im Streitzeitraum bestehende Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG vermittelt einen rechtmäßigen Aufenthalt des Ausländers im Inland (Kluth in BeckOK, Ausländerrecht, 32. Edition, Stand: 01.10.2020, § 81 AufenthG, Rn. 17). Es ist dabei unschädlich, dass die erste Fiktionsbescheinigung erst am 17.09.2018 ausgestellt wurde. Die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtzeitig gestellt wird, d.h. vor Beendigung des rechtmäßigen Aufenthaltsstatus. Rechtsfolge ist, dass der Ausländer auch nach Ablauf der ursprünglichen rechtmäßigen Aufenthaltsdauer nicht zur Ausreise verpflichtet ist (Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, 123. Update 03/2022, § 81 AufenthG Rn. 34; Kluth, a.a.O., Rn. 21). Für Kinder, die in Deutschland geboren werden, reicht eine Antragstellung innerhalb von sechs Monaten nach der Geburt aus (vgl. § 81 Abs. 2 S. 2 AufenthG). Der rechtzeitige Antrag innerhalb dieser Frist bewirkt daher, dass der Aufenthalt seit der Geburt als rechtmäßig gilt.

In der Rechtsprechung und Literatur wird überwiegend vertreten, dass für Familienangehörige eines Ausländers, der einen Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG besitzt, kein Leistungsausschluss anzunehmen ist, wenn sie nach Deutschland nachziehen und ihnen ein Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG erteilt wird (vgl. etwa LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 26.01.2016, L 11 AS 1076/14, Rn. 26 m.w.N., juris). Soweit der Beklagte unter Hinweis auf die Fachlichen Weisungen der BA zu § 7 SGB II in Nr. 7.48 (aktuell in der Fassung vom 15.02.2022, abrufbar unter: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba015897.pdf) annimmt, dass eine Ausnahme nur für diesen Fall (Ausländer mit Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG, Familienangehöriger mit Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG) zuzulassen sei, kann diese einengende Auslegung nicht überzeugen. Eine unterschiedliche Behandlung dieser Personengruppen ist nicht zu rechtfertigen. Entscheidend ist – wie auch in den Fällen des Kapitels 2 Abschnitt 6 AufenthG – ein rechtmäßiger Aufenthalt im Inland. Das ist hier – wie oben erwähnt – nachweislich der Fall. Zwar ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG grundsätzlich eine Ermessensentscheidung der zuständigen Ausländerbehörde. Allerdings war bei der hier zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass der Klägerin als Säugling eine Ausreise aus tatsächlichen Gründen i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG unmöglich war. Darüber hinaus ist als inlandsbezogenes rechtliches Ausreisehindernis auch der Schutz familiärer Bindungen nach Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) anerkannt (vgl. Bayerischer VGH Beschluss vom 03.07.2007, 24 ZB 07.434, Rn. 10, juris; Niedersächsisches OVG Beschluss vom 01.11.2007, 10 PA 96/07, Rn. 12, juris; Thüringer OVG Beschluss vom 25.05.2005, 3 EO 114/05, Rn. 5 f., juris). Dieser verfassungsrechtlichen und aus der EMRK resultierenden Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht die Behörde nur, wenn sie bei der Entscheidung über den Aufenthalt die Bindungen des Betroffenen an im Bundesgebiet berechtigterweise lebende Familienangehörige angemessen berücksichtigt. Für die ausländerrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern entscheidend, wobei eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist (Niedersächsisches OVG, a.a.O.). Gemessen an diesen Voraussetzungen kann und musste die zuständige Ausländerbehörde eine auf die familiäre Bindung fußende Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin erteilen (und hat dies auch getan). Da die Klägerin auf die Lebenshilfe ihrer allein sorgeberechtigten Mutter zwingend angewiesen und ihr deshalb eine Ausreise unmöglich war, war das Ermessen der Ausländerbehörde entsprechend auf Null reduziert. In Sachverhaltskonstellationen wie der vorliegenden ist ein Verweis auf die alleinige Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessensprüfung unzulässig, wenn die Umstände des Einzelfalls eine Ermessenreduzierung auf Null bereits nach überschlägiger Prüfung überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Das war hier der Fall. Jede andere Entscheidung als die, einem Säugling den Aufenthalt zu gestatten, wenn sich die einzig sorgeberechtigte Person mit Aufenthaltstitel rechtmäßig im Inland aufhält, wäre ermessensfehlerhaft und daher rechtswidrig gewesen. Der Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels war daher bereits genauso verfestigt wie ein solcher nach Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG. Eine Differenzierung der Fälle ist nicht zu begründen, insbesondere nicht vor dem Hintergrund einer naheliegenden verfassungskonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. dazu für Fälle des Familiennachzugs SG Berlin Urteil vom 18.04.2011, S 201 AS 45186/09, Rn. 25 ff., juris). In diesem Zusammenhang ist auf § 33 S. 1 AufenthG zu verweisen, wonach einem im Bundesgebiet geborenen Kind, wie der Klägerin, abweichend von den §§ 5 und 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Vorschrift bekräftigt den besonderen Schutz familiärer Bindungen zwischen Eltern und ihren Kindern durch das deutsche Aufenthaltsrecht. Bei der Ausübung des Ermessens soll nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden (BT-Drucks. 16/5065, S. 176; vgl. auch Tewocht in BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition Stand: 01.10.2021, § 33 AufenthG Rn. 6; Dienelt  in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 33 AufenthG Rn. 11).

Unter teleologischen Gesichtspunkten ist ferner zu berücksichtigen, dass sich die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II in erster Linie an Drittstaatsangehörige wendet, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG (§§ 22 bis 25 AufenthG) und damit aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten (vgl. Mushoff in BeckOK Sozialrecht, 64. Edition Stand: 01.03.2022, § 7 SGB II Rn. 40; Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7 Rn. 38; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 06/2021, § 7 Rn. 128). Vielfach hat dieser Personenkreis allerdings einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG, sodass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II eingreift. Damit hat die aus § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II folgende Rückausnahme zum Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II in der Praxis nur eine begrenzte Wirkung (Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7 Rn. 39 m.w.N.). Dem Gesetzgeber geht es dabei auch um eine klare Systemabgrenzung zu Ansprüchen nach dem AsylbLG. Für die wenigen Fälle, in denen – wie hier – die Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II relevant bleibt, weil der Anspruchsteller etwa keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG hat (siehe dazu auch weiter unten Punkt D. II. 2. d.), kommt es entscheidend darauf an, ob er dem Personenkreis nach den §§ 22 bis 25 AufenthG zuzuordnen ist. Dies trifft auf die Klägerin – wie voranstehend erörtert – wegen ihres bereits mit der Geburt prognostisch verfestigten Aufenthaltsrechts zu. Es gibt daher keinen sachlich gerechtfertigten Grund, ihre Mutter, die diesem Personenkreis zuzuordnen ist, anders zu behandeln als die Klägerin selbst. Für diese Gleichbehandlung von Mutter (Ausländerin) und minderjähriger Tochter (Familienangehörige) spricht weiter der Gesichtspunkt, dass alle Familienangehörigen – jedenfalls soweit sie zu einer Bedarfsgemeinschaft gehören – im Rahmen des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und S. 3 SGB II einheitlich behandelt werden sollten. Dafür streitet wiederum die Akzessorietät des Leistungsanspruchs des nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vom Anspruch des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, mit dem er in einer Bedarfsgemeinschaft lebt (§ 19 Abs. 1 S. 2 SGB II). Der Gesetzgeber hatte bei dem rechtlichen Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft in erster Linie Angehörige im Blick (vgl. BT-Drucks. 15/1516, S. 56, 59 zu § 28 Abs. 1 S. 1 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung). Nachdem die Mutter der Klägerin unstreitig alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf SGB-II-Leistungen erfüllt, besteht kein sachlicher Grund, der Klägerin die ihrer Mutter zustehende Rückausnahme vorzuenthalten (vgl. dazu Hessisches LSG Beschluss vom 06.09.2011, L 7 AS 334/11 B ER, Rn. 48, juris, im Ergebnis aber offen gelassen).

dd. Auch die Gesetzgebungsmaterialien sprechen für dieses Ergebnis. Mit Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU zum 28.08.2007 ist Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht eingeräumt worden, sich drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Diese Unionsbürger waren bis dahin vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II (in der Fassung bis zum 27.08.2007) nicht erfasst. Um diese Personengruppe gleichwohl zu erfassen, ist die Vorschrift durch das „Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union“ vom 19.08.2007 (BGBl I, S. 1970), in Kraft getreten zum 28.08.2007, neu gefasst worden. Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 16/5065, S. 234) soll der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II „vor allem Unionsbürger“ betreffen. Auf die Personengruppe der Drittstaatsangehörigen gehen die Gesetzesmaterialien nicht ein. Zweck der Gesetzesänderung war es vielmehr, einen denkbaren Leistungsanspruch von Unionsbürgern auszuschließen, die sich drei Monate lang voraussetzungslos im Bundesgebiet aufhalten dürfen. Dies dokumentiert hinreichend, dass der Gesetzgeber lediglich auf die Neuordnung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger reagieren und nicht zugleich die Leistungsberechtigung anderer Ausländer über die bisherige Regelung hinaus einschränken wollte. Im Unterschied zu den Unionsbürgern können Drittstaatsangehörige regelmäßig nicht voraussetzungslos in das Bundesgebiet einreisen. Die Einreise ist vielmehr davon abhängig, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (vgl. BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 37/12 R, Rn. 22 f., juris; LSG NRW Urteil vom 19.11.2020, L 19 AS 212/20, Rn. 39, juris). Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung den Ausschluss des nach Deutschland ziehenden (EU-)Ausländers und seiner Familienangehörigen für die ersten drei Monate des Aufenthaltes regeln wollte. Den Gesetzgebungsmaterialien kann dagegen nicht entnommen werden, dass der Leistungsausschluss auch den Fall eines hier in Deutschland geborenen Familienangehörigen eines Ausländers erfassen wollte (so ähnlich für die Fälle des Familiennachzugs vgl. SG Berlin Urteil vom 18.04.2011, S 201 AS 45186/09, Rn. 24, juris).

c. Ein Leistungsausschluss ergibt sich nicht aus § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II a.F. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.05.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.04.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen, von Leistungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II ausgenommen. Da die Klägerin im Streitzeitraum eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 AufenthG erhalten hatte, war sie im Besitz eines Aufenthaltsrechts. Dieses ergab sich auch nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (vgl. dazu BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 37/12 R, juris). Schließlich leitet die Klägerin ihr Aufenthaltsrecht nicht aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ab.

d. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II kommt ebenfalls nicht in Betracht. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer von Leistungen ausgenommen, die einen Leistungsanspruch nach § 1 AsylbLG haben. Die Klägerin gehört nicht zu den in § 1 AsylbLG genannten anspruchsberechtigten Personengruppen. Der Aufenthalt der Klägerin auf der Grundlage von § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG und eine dazu ausgestellte Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG ist nicht mit einer Duldung im Sinne von § 60a AufenthG vergleichbar (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, dazu: Hessisches LSG Beschluss vom 06.09.2011, L 7 AS 334/11 B ER, Rn. 42 ff., juris). Die Klägerin war im Streitzeitraum zudem nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3 c) AsylbLG).

§ 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG ist ebenso nicht einschlägig. Leistungsberechtigt sind danach Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder der in den § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 AsylbLG genannten Personen, ohne dass sie selbst die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Grundsätzlich könnte die Mutter der Klägerin wegen ihrer auf § 25 Abs. 5 AufenthG beruhenden Aufenthaltserlaubnis vom Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 3 c) AsylbLG erfasst sein, sofern die Entscheidung über die Aussetzung ihrer Abschiebung noch nicht 18 Monate zurückliegt. Allerdings hat die Mutter der Klägerin keine Leistungen nach dem AsylbLG, sondern seit März 2016 Leistungen nach dem SGB II erhalten. § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG bezweckt aber eine leistungsrechtliche Gleichbehandlung von Mitgliedern eines Haushalts (Birk in LPK-SGB XII, 12. Auflage 2020, § 1 AsylbLG Rn. 13; Treichel in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Auflage 2018, § 1 AsylbLG Rn. 52; vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 15.08.2018, L 31 AS 1194/18 B ER, Rn. 17 m.w.N., juris).

Ungeachtet dessen ist zu beachten, dass § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG Fälle erfasst, die dadurch gekennzeichnet sind, dass zumindest typischerweise eine dauerhafte Bindung an die Bundesrepublik Deutschland nicht eintreten, sondern der Aufenthalt regelmäßig nur vorübergehend aus politischen oder humanitären Gründen oder wegen eines Krieges im Heimatland gestattet werden soll. Ein Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 S. 1 oder Abs. 4 AufenthG dagegen kann – wie gerade dieser Fall zeigt – durchaus mit der Perspektive der Verfestigung verbunden sein (vgl. Hessisches LSG Beschluss vom 06.09.2011, L 7 AS 334/11 B ER, Rn. 45, juris).

E. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG

F. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Höchstrichterlich ist bislang lediglich geklärt, dass Drittstaatsangehörige, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind (BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 37/12 R, juris). Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Drittstaatsangehörige als Familienangehörige sich auch auf die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II berufen können, ist bislang höchstrichterlich nicht geklärt. 

 

Rechtskraft
Aus
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