L 6 AS 97/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 4 AS 347/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 97/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 22/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

I.    Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 31. August 2018 wird zurückgewiesen.

II.    Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten auch im Berufungsverfahren zu erstatten.  

III.    Die Revision wird zugelassen.
 
Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der für die Monate Mai bis September 2015 zu erbringenden Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bzw. die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Erstattungsbegehren des Beklagten i.H.v. 543,86 € streitig. 

Die 1993 geborene Klägerin bezieht seit Mai 2011 fortlaufend Arbeitslosengeld II. Den Erstantrag stellte sie am 24. Mai 2011 und gab dabei zum vorhandenen Vermögen u.a. an, über ein Investment mit Fondsanteilen zu verfügen. Sie legte hierzu eine Abrechnung der C. Bank AG in B-Stadt vor, wonach das Investment zum 29. April 2011 einen Anteilsbestand von 62,299 und einen Depotwert von 2.619,67 € hatte. Am 23. Juli 2011 ist die Tochter der Klägerin, D., geboren. Zusammen mit ihr wohnte die Klägerin in der Wohnung ihrer Mutter bis 30. April 2015. Zum 1. Mai 2015 bezog die Klägerin eine eigene Wohnung in A-Stadt.

Für den vorliegend streitigen Zeitraum ist maßgeblich der am 23. April 2015 gestellte Weiterbewilligungsantrag, auf den der Beklagte durch Bescheid vom 27. April 2015 Leistungen von monatlich gesamt 541,28 € für den Zeitraum vom 1. Mai 2015 bis 30. April 2016 bewilligte. Den monatlichen Leistungsbetrag erhöhte der Beklagte durch Änderungsbescheid vom 26. Mai 2015 (594,28 € für die Monate Juli 2015 bis April 2016), durch weiteren Änderungsbescheid vom 25. Juni 2015 (617,07 € für die Monate Juli 2015 bis April 2016) und schließlich durch Änderungsbescheid vom 1. Juli 2015 (551,40 € für die Monate Mai und Juni 2015, 628,81 € für den Monat Juli 2015 und 627,19 € für die Monate August 2015 bis April 2016).

In der Folge forderte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 24. Februar 2016 auf, Unterlagen zum aktuellen Stand der Investmentpapiere vorzulegen, woraufhin die Klägerin am 1. März 2016 einen Depotauszug der C. Bank AG vom 1. März 2016 vorlegte. Danach belief sich das Investment noch auf 9,448 Fondsanteile und einen Depotwert von 465,60 €. Auf weitere Nachfrage des Beklagten vom 28. Oktober 2016, sie habe im Rahmen eines Datenabgleichs erfahren, dass die Klägerin im Jahr 2015 Kapitalerträge i.H.v. 776,00 € erzielt habe, teilte die Klägerin mit Schreiben vom 5. November 2016 mit, sie habe im Mai 2015 von ihrem Investmentkonto Anteile i.H.v. 2.500,00 € verkauft und damit u. a. die Küche und die Kaution für ihre neue Wohnung bezahlt. Ergänzend legte sie eine Abrechnung der C. Bank AG vom 6. Mai 2015 vor, der der Verkauf von 44,50 Anteilen mit einem Erlös von 2.500,00 € zu entnehmen ist bei einem Restbestand von 9,676 Anteilen mit einem Restwert von 543,60 €. Darüber hinaus legte die Klägerin eine Steuerbescheinigung der C. Bank AG vom 31. Dezember 2015 vor, worin für das Kalenderjahr 2015 Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € angegeben wurden. Dem weiter von der Klägerin vorgelegten Schreiben der Bank vom 28. November 2016 ist zu entnehmen, dass es sich bei dem Betrag von 776,99 € um den realisierten Gewinn der Anteile handelt, die die Klägerin am 6. Mai 2015 verkauft hat.

Nach Anhörung mit Schreiben vom 12. Dezember 2016 hob der Beklagte durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 13. Januar 2017 die Leistungsbewilligung für die Monate Mai bis September 2015 teilweise auf und regelte zugleich die Erstattung eines Betrages von 543,86 €. Zur Begründung führte er aus, der Klägerin seien im Mai 2015 Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € zugeflossen, die als Einkommen aufgeteilt auf einen Zeitraum von sechs Monaten zu berücksichtigen seien. Die Leistungsbewilligung sei deshalb in Anwendung von § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) bzw. i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) wegen Verletzung der Mitteilungspflicht aufzuheben. Die Erstattungsforderung berechnete der Beklagte, indem er für die Monate Mai bis August 2015 jeweils von einem Überzahlungsbetrag von 129,49 € und für den Monat September 2015 von einem Überzahlungsbetrag von 25,90 € ausging, mithin gesamt 543,86 €.

Die Klägerin erhob Widerspruch am 23. Januar 2017 und machte geltend, sie habe im Rahmen der Antragstellung ihre Mitwirkungspflichten erfüllt und ihr Vermögen dargelegt. Dieses habe sich seit 2011 nicht erhöht, sondern durch den Verkauf der Investmentanteile im Mai 2015 um 2.500,00 € verringert. Zusätzliches Einkommen i.H.v. 776,99 € in Form von Kapitalerträgen sei ihr zu keinem Zeitpunkt zugeflossen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2017 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, der Klägerin seien im Rahmen des Verkaufs ihrer Fondsanteile bei der C. Bank AG am 6. Mai 2015 Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € ausgezahlt worden. Hierbei handele sich um eine einmalige Einnahme, die bedarfsmindernd anzurechnen sei, wobei vorliegend dieser Betrag im Zeitraum 1. Mai 2015 bis 30. September 2015 anteilig bedarfsmindernd zu berücksichtigen gewesen sei. Entsprechend sei die ursprüngliche Leistungsbewilligung rechtswidrig. Soweit die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung im angefochtenen Bescheid noch auf §§ 48, 50 SGB X gestützt worden sei, werde diese in eine Rücknahme- und Erstattungsentscheidung nach §§ 45, 50 SGB X in Anwendung von § 43 SGB X umgedeutet. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 und 3 SGB  X seien erfüllt, denn die Leistungsbewilligung für den genannten Zeitraum sei in dieser Höhe von Anfang an rechtswidrig gewesen und dies beruhe darauf, dass die Klägerin zumindest grob fahrlässig unvollständige bzw. falsche Angaben gemacht habe und sich die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung ihr habe aufdrängen müssen. 

Hiergegen hat die Klägerin am 5. Juli 2017 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben und im Wesentlichen vorgetragen, sie habe weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt, sondern zutreffend auf Bestandsschutz vertraut. Die Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € seien auch nicht im Jahr 2015 entstanden. Vielmehr handele es sich um einen Ertrag bezogen auf den gesamten Zeitraum der Geldanlage, die im Übrigen unter den Vermögensfreibetrag falle. Daraus folge, dass die Kapitalerträge vom ersten Tag der Anlage bis zum ersten Tag der Antragstellung nach dem SGB II zu ermitteln und sodann von der Summe von 776,99 € in Abzug zu bringen seien. Von dem danach ermittelten Betrag seien dann noch die Verkaufsgebühren sowie von der Bank einbehaltene Steuern in Abzug zu bringen. Weiter sei zu berücksichtigen, dass sie den Auszahlungsbetrag von 2.500,00 € für die Deckung des Lebensunterhalts verbraucht und hierdurch den Leistungsanspruch nach dem SGB II gegenüber dem Beklagten gesenkt habe. Zum einen habe sie eine Einbauküche zum Preis von 1.807,00 € erworben, zum anderen eine Kaution i.H.v. 702,00 € an den Vermieter geleistet. Ergänzend hat die Klägerin Steuerbescheinigungen der C. Bank AG für die Jahre 2012, 2013 und 2014 vorgelegt. Daraus ergebe sich, dass der Kapitalertrag im Jahresdurchschnitt lediglich 31,93 € betragen habe.

Demgegenüber hat sich der Beklagte darauf gestützt, dass die Klägerin durch den Verkauf von Fondsanteilen einen wertmäßigen Zuwachs aus dem bestehenden Vermögen in Form der Erträge, die erst durch die Veräußerung im Mai 2015 tatsächlich realisiert worden seien, erzielt habe. Dementsprechend habe die depotführende Bank einen Kapitalertrag i.H.v. 776,99 € bescheinigt, der auch grundsätzlich zu versteuern sei. Die Kapitalerträge seien – wie Zinsen, die während des Leistungsbezugs ausgekehrt würden – als Einkommen auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen. Hiervon seien auch keine Bank-, Depot- und sonstige Gebühren abzusetzen, die im Kurswert der Anlage zum Veräußerungsdatum bereits eingepreist seien. Soweit die Klägerin den Verbrauch des Erlöses für die Anschaffung einer Küche und die Hinterlegung einer Mietkaution geltend gemacht habe, sei zum einen zu berücksichtigen, dass er, der Beklagte, eine Erstausstattung für die Wohnung mit Bescheid vom 13. Mai 2015 bewilligt habe. Zum anderen seien für eine Kaution verwandte Mittel nicht verbraucht, sondern lediglich bis zum Auszug hinterlegt, so dass sie dem Mieter grundsätzlich erhalten blieben. Im Übrigen hat der Beklagte daran festgehalten, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X erfüllt seien, weil sich der Klägerin die Verpflichtung hätte aufdrängen müssen, die durch die Bank bescheinigten Kapitalerträge gegenüber dem Leistungsträger nach dem SGB II anzuzeigen.

Durch Urteil vom 31. August 2018 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2017 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, für die Frage, ob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 1. Juli 2015 zutreffend teilweise aufgehoben habe, sei § 45 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III grundsätzlich die richtigerweise anzuwendende Norm. Soweit der Beklagte die Auffassung vertrete, die Leistungsbewilligung sei zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides vom 1. Juli 2015 infolge des Zuflusses der Kapitalerträge rechtswidrig gewesen, folge die Kammer dem nicht. Vielmehr sei der Bewilligungsbescheid nicht rechtswidrig, denn die von der Klägerin durch den Verkauf der Fondsanteile erzielten Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € seien aus Rechtsgründen nicht als Einkommen anzurechnen. Die Einkommensanrechnung regelten §§ 11 Abs. 1 SGB II, 11b SGB II und 11a SG II sowie § 4 S. 2 Nr. 3 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld – Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V). Hieraus ergebe sich, dass Kapitalerträge an sich als Einnahmen bei der Gewährung von SGB II-Leistungen anzurechnen seien, was zwischen den Beteiligten nicht streitig sei. So gehe aus den Steuerbescheinigungen der C. Bank AG für die Jahre 2012 bis 2014 hervor, dass die Klägerin durch die von ihr innegehaltenen Fondsanteile Kapitalerträge i.H.v. 36,84 € (2012), 31,51 € (2013) und 27,46 € (2014) erwirtschaftet habe. Diese Kapitalerträge seien unstreitig Einnahmen im Sinne von § 11 SGB II, sie seien jedoch in der Vergangenheit nicht anzurechnen gewesen, weil sie 100,00 € kalenderjährlich nicht überschritten hätten (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 Alg II-V). Im Unterschied zu diesen bescheinigten „jährlich erwirtschafteten Kapitalerträge(n)“ bei gleichbleibendem Vermögensstamm resultierten die hier streitbefangenen Kapitalerträge aus dem Verkauf von Fondsanteilen und damit aus dem Vermögensstamm selbst. Es handele sich insoweit nur um eine bloße Vermögensumschichtung von Fondsanteilen in Geldbeträge, so dass die Erlöse aus dem Verkauf dem Vermögensfreibetrag unterfielen und deshalb nicht anzurechnen seien. Grundsätzlich sei es so, dass im Bewilligungszeitraum erzielte Erlöse aus der Veräußerung von Gegenständen, die bereits vor Antragstellung zum Sach- und Rechtsbestand des Betroffenen gehörten, mangels wertmäßigen Zuwachses in der Regel kein zu berücksichtigendes Einkommen darstellten. Zwar würden sie dem Veräußerer tatsächlich zufließen, sie veränderten aber nicht seine Vermögenslage, sondern würden lediglich als bloßes Surrogat an die Stelle des Gegenstandes treten, der sich bereits vorher in derselben Werthöhe im Vermögen befunden habe. Es erfolge damit lediglich eine Vermögensumschichtung. Wäre diese Vermögensumschichtung als Einkommen im Sinne des SGB II zu qualifizieren, so ergäbe sich die unbillige und vom Gesetzgeber auch nicht gewollte Rechtsfolge, dass zuvor gemäß § 12 Abs. 2 und 3 SGB II anrechnungsfreies geschütztes Schonvermögen nunmehr zur Bestreitung des Lebensunterhaltes einzusetzen sei. Ob mit der Veräußerung eine Wertsteigerung realisiert werde, sei grundsätzlich unerheblich (Hinweis auf Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, § 12 SGB II Rn. 196). Das Hessische Landessozialgericht habe hierzu entschieden (Hinweis auf das Urteil vom 29. Oktober 2012, L 9 AS 357/10, Rn. 34, juris), dass es sich bei der Veräußerung eines Vermögensgegenstandes lediglich um eine Umschichtung unter den aktiven Vermögensbestandteilen handele. Eine andere Beurteilung könne sich ergeben, wenn für eine Sache oder ein Recht ein Kaufpreis erlangt werde, der über dem Wert des veräußerten Gegenstandes liege. In einem solchen Falle würde mit der Veräußerung ein Vermögenszufluss stattfinden in Höhe der Differenz zwischen dem wahren Wert des veräußerten Gegenstandes und dem erzielten überhöhten Preis. Von einem solchen Gewinn könne jedoch nur dann ausgegangen werden, wenn der erzielte Preis für den Gegenstand außerhalb jeglicher normalen Schätzung liege. Die Kammer schließe sich dieser Rechtsprechung an mit der Folge, dass der von der Klägerin erlangte Erlös aus dem Verkauf von Fondsanteilen i.H.v. 2.500,00 € als Ganzer unter dem Gesichtspunkt der Vermögensumschichtung nicht als Einnahme im Sinne des § 11 SGB II zu werten und demnach nicht anzurechnen sei. Bei den Fondsanteilen, die die Klägerin besitze bzw. besessen habe, handele sich um Schonvermögen im Sinne von § 12 Abs. 2 SGB II. Soweit eine Wertsteigerung eingetreten sei, führe dies auch nicht dazu, dass Teile des Verkaufserlöses bei der Leistungsgewährung anzurechnen seien. Eine exorbitante Wertsteigerung der Fondsanteile, die außerhalb jeglicher normalen Schätzung und Erwartbarkeit liege, sei hier offensichtlich nicht eingetreten. Darüber hinaus sei trotz Verkaufs der Fondsanteile mit Wertsteigerung ein Überschreiten des in § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB II genannten Grundfreibetrages nicht ersichtlich, denn die verbleibenden Fondsanteile hätten lediglich einen Wert von 543,60 €, was zusammen mit dem Verkaufserlös von 2.500,00 € den Grundfreibetrag von 3.100,00 € noch nicht übersteige. Eine Rechtmäßigkeit der Anrechnung durch den Beklagten ergebe sich auch nicht daraus, dass ein Teil des Verkaufserlöses (776,99 €) als „Kapitalerträge“ ausgewiesen worden sei. Insoweit dürfe § 4 S. 2 Nr. 3 Alg II-V nicht schematisch angewandt und nicht außer Acht gelassen werden, dass vorliegend eine bloße Vermögensumschichtung stattgefunden habe mit der Folge, dass die Kapitalerträge ein Surrogat des geschützten Vermögens darstellten. Weiter sei zu beachten, dass die Kapitalerträge, die die Klägerin in den Jahren des SGB II-Bezuges erzielt habe, bei der jeweiligen Antragstellung mitberücksichtigt, jedoch wegen der geringen Höhe zwischen 27,00 € und 36,00 € jährlich nicht angerechnet worden seien. Die Ausweisung von 776,99 € beziehe sich nun auf den gesamten Zeitraum des Innehabens der Fondsanteile seit ihrem Erwerb. Als Kapitalertrag wäre deshalb allenfalls der zwischen dem 1. Januar 2015 und dem Zeitpunkt des Verkaufs der Anteile am 6. Mai 2015 erwirtschaftete Kapitalertrag bei der Leistungsgewährung zu berücksichtigen, der jedoch im Hinblick auf die für die letzten Jahre bescheinigten Kapitalerträge deutlich unter 100,00 € liegen würde und damit anrechnungsfrei wäre.

Gegen das am 1. Oktober 2018 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16. Oktober 2018 Nichtzulassungsbeschwerde erhoben und die Zulassung der Berufung beantragt. Dem hat der Senat durch Beschluss vom 13. Februar 2020 (L 6 AS 579/18 NZB) stattgegeben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zugelassen. Dabei hat sich der Senat im Wesentlichen darauf gestützt, vorliegend sei der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung zu bejahen, weil die Kernfrage des Rechtsstreits, ob der durch den Verkauf von Anteilen an einem Investmentfonds realisierte Gewinn aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Wertsteigerung als Einkommen im Sinne von § 4 Alg II-V anzusehen und gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II leistungsmindernd zu berücksichtigen sei, bislang noch nicht höchstrichterlich von dem Bundessozialgericht entschieden worden sei. Es sei zwar naheliegend, dass der Erlös aus dem Verkauf von Fondsanteilen lediglich ein Surrogat für den bereits zuvor vorhandenen Vermögenswert und damit lediglich eine Vermögensumschichtung darstelle, wie dies in der Literatur vertreten werde (Hinweis auf Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB, § 12 SGB II Rn. 196). Auch habe das erkennende Gericht bereits entschieden, dass es sich bei der Veräußerung von Vermögensgegenständen (im dortigen Rechtsstreit Immobilie) regelmäßig um eine Vermögensumschichtung handele, die den Vermögensbestand des Veräußerers nicht verändere (Hinweis auf das Urteil des 9. Senats des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 2012, L 9 AS 357/10). Daraus lasse sich jedoch noch keine grundsätzliche Klärung der hier aufgeworfenen Rechtsfragen ableiten.

Aufgrund der Zulassung der Berufung ist das Beschwerdeverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt worden.

Der Beklagte verweist zur Begründung der Berufung auf sein bisheriges Vorbringen und hält an seiner Auffassung fest, dass es sich bei den von der depotführenden Bank bescheinigten Kapitalerträgen i.H.v. 776,99 € um zu berücksichtigendes Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 4 S. 2 Nr. 3 Alg II-V handele, welches im Rahmen der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II anzurechnen sei. Der angefochtene Bescheid vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2017 sei deshalb rechtlich zutreffend.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 31. August 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen. 

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat sich im Berufungsverfahren nicht nochmals geäußert.

Beide Beteiligte haben übereinstimmend erklärt, dass sie mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten des Beklagten, der Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen ist, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die form- und fristgerecht eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 Abs. 1 SGG) war nach erfolgter Zulassung durch den Senat als statthafte Berufung fortzuführen (§ 145 Abs. 5 SGG).

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 31. August 2018 der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2017 und damit die Höhe der für die Zeit vom 1. Mai bis 30. September 2015 zustehenden Leistungen nach dem SGB II. Ebenso streitbefangen ist die Erstattungsforderung des Beklagten bezogen auf diesen Zeitraum. Insoweit enthält der angefochtene Verwaltungsakt zwei Regelungen, nämlich die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Monate Mai bis September 2015 im Umfang von 543,86 € sowie die Feststellung einer Erstattungspflicht der Klägerin in Höhe dieses Betrages. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 SGG, denn die Klägerin strebt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides des Beklagten an.

Dem hat das Sozialgericht stattgegeben, die dagegen von dem Beklagten eingelegte Berufung ist unbegründet. Der Bescheid vom 13. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2017 konnte nicht aufrechterhalten bleiben, er ist zu Recht von dem Sozialgericht aufgehoben worden.

Zunächst ist nicht zu beanstanden, dass sich der Beklagte für die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung im Widerspruchsbescheid auf die Rechtsgrundlage des § 45 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III) gestützt hat. Indes stellt dies keine Umdeutung gemäß § 43 SGB X dar, wie der Beklagte im Widerspruchsbescheid ausgeführt hat. Vielmehr handelt es sich gegenüber dem Ausgangsbescheid, in dem noch als Rechtsgrundlage § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X genannt worden ist, um den grundsätzlich möglichen Austausch der Rechtsgrundlage im Widerspruchsverfahren ohne Änderung des Verfügungssatzes. Der Beklagte hat im Übrigen den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit nicht auf eine neue Tatsachengrundlage gestützt, so dass er die Klägerin vor Erteilung des Widerspruchsbescheides nicht erneut gemäß § 24 Abs. 1 SGB X anhören musste (vgl. zu allem: BSG, Urteil vom 15. August 2002, B 7 AL 38/01 R). 

Dies vorausgeschickt liegen die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 1. Juli 2015 in Anwendung von § 45 SGB X jedoch nicht vor, denn es fehlt bereits an dessen Rechtswidrigkeit. Vielmehr ist die mit dem Bescheid vom 1. Juli 2015 geregelte ursprüngliche Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom Mai 2015 bis April 2016 und damit auch für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum vom Mai bis September 2015 rechtlich nicht zu beanstanden. Denn der Betrag von 776,99 €, der von der depotführenden Bank aufgrund des Verkaufs von Fondsanteilen am 6. Mai 2015 als Kapitalertrag ausgewiesen worden ist, stellt kein das Arbeitslosengeld II minderndes Einkommen dar.

Die Klägerin erfüllt zunächst die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1, 2 und 4 SGB II. Sie war in dem streitgegenständlichen Zeitraum auch hilfebedürftig i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II und hatte – ohne die streitige Einkommensanrechnung – Leistungsansprüche in der Höhe, wie sie in dem Änderungsbescheid vom 1. Juli 2015 für die einzelnen Zeitabschnitte festgestellt worden ist. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Umstritten ist allein die von dem Beklagten vorgenommene Einkommensanrechnung. Als Einkommen sind nach § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II Einnahmen in Geld (in der bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung vom 13. Mai 2011: Einnahmen in Geld oder Geldeswert) abzüglich der nach § 11b abzusetzenden Beträge und mit Ausnahme der in § 11a genannten Einnahmen zu berücksichtigen. Dabei ist Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG grundsätzlich alles das, was jemand nach der Antragstellung wertmäßig dazu erhält und Vermögen das, was der Leistungsberechtigte vor der Antragstellung bereits hatte (modifizierte Zuflusstheorie, vgl. statt vieler: BSG, 14. Senat, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 43/14 R). 

Davon ausgehend hat der Beklagte zu Unrecht den von der C. Bank AG als Kapitalerträge im Jahr 2015 bescheinigten Betrag von 776,99 € als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II berücksichtigt. Höchstrichterlich ist zwar für den Bereich der Grundsicherung bereits entschieden, dass Zinserträge – auch aus Schonvermögen – Einnahmen in Geld und als Einkommen zu berücksichtigen sind, wenn diese nach Antragstellung zugeflossen sind (BSG, Urteil vom 30. September 2008, B 4 AS 57/07 R) und sie als „bereite Mittel“ dem Hilfebedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehen (BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 43/14 R). Kennzeichnend für das Erzielen von Kapitalerträgen (Zinsen) aus einer Kapitalanlage in diesem Sinne ist, dass die Erträge aus einem gleichbleibendem Vermögensstamm erwirtschaftet werden und zu dem vorhandenen Vermögen als Einnahmen hinzutreten. So liegt der Fall hier jedoch nicht. Zutreffend hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass die vorliegend bescheinigten Kapitalerträge aus dem Verkauf von Fondsanteilen und damit aus dem Vermögensstamm selbst resultierten. Zur früheren Arbeitslosenhilfe hat das Bundessozialgericht ausgeführt, dass die Veräußerung eines Vermögensgegenstandes normalerweise nicht den Vermögensbestand des Veräußerers verändere. Der Kaufpreis stelle lediglich den Gegenwert für den Vermögensgegenstand dar, der sich bereits vorher in derselben Werthöhe im Vermögen des Veräußerers befunden habe, so dass lediglich von einer Umschichtung unter den aktiven Vermögensbestandteilen auszugehen sei. Etwas anderes gelte nur dann, wenn für eine Sache oder ein Recht ein über dem Verkehrswert liegender Kaufpreis erlangt werde, der außerhalb jeglicher normalen Schätzung liege. In einem solchen Fall finde ein Vermögenszufluss in Höhe der Differenz zwischen dem wahren Wert des veräußerten Gegenstandes und dem (überhöhten) erzielten Preis statt (zu allem: BSG, Urteil vom 20. Juni 1978, 7 RAr 47/77). Diesen Erwägungen folgend hat der 9. Senat des erkennenden Gerichts entschieden (Urteil vom 29. Oktober 2012, L 9 AS 357/10), dass bei dem Verkauf einer Immobilie die Kaufpreisforderung, auch wenn sie in Raten beglichen werde, zu deren Surrogat werde. Dies habe zur Folge, dass die Veräußerung den Vermögensbestand nicht verändere und der Kaufpreis daher Vermögen im Sinne des § 12 SGB II bleibe, so dass eine Anrechnung als Einkommen im Sinne des § 11 SGB II ausscheide. 

Für den Senat besteht kein Anlass für eine abweichende Sicht der Dinge und er schließt sich dieser Rechtsprechung an (vgl. im Übrigen zur kapitalbildenden Lebensversicherung bzw. zum einheitlichen Anspruch aus der Lebensversicherung einschließlich Überschussbeteiligung und Anteil an den Bewertungsreserven als Vermögen: BSG, Urteil vom 10. August 2016, B 14 AS 51/15 R). Die zitierten Entscheidungen sind im Übrigen auch in der Literatur aufgegriffen worden. Dort wird ebenfalls vertreten, dass im Falle der Veräußerung eines Vermögensgegenstandes lediglich eine Vermögensumschichtung stattfindet. Wäre der Verkaufserlös als Einkommen zu qualifizieren, ergäbe sich die unbillige Rechtsfolge, dass zuvor gemäß § 12 Abs. 2 und 3 SGB II anrechnungsfreies Schonvermögen zur Bestreitung des Lebensunterhalts einzusetzen wäre (so Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, § 12, Stand 2022, Rn. 196 m. zahlr. w. Nw.). Dem ist zuzustimmen (vgl. weiter zum Meinungsstand bzw. den teilw. nuancierten Abweichungen in der Literatur: Lange in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 12 Rn. 23; Geiger in: Münder/Geiger, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, 7. Aufl. 2021, § 12 Rn. 10). Soweit teilweise eine Abgrenzung zwischen bloßen Verkehrswertsteigerungen und Wertsteigerungen, die außerhalb jeglicher normalen Schätzung lägen, kritisch gesehen und diese in der Praxis für nur sehr schwer umsetzbar gehalten wird (so Formann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, Stand 8. Juli 2022, § 12 Rn. 57), bedarf es vorliegend keiner weiteren Vertiefung. Denn eine solche exorbitante Wertsteigerung ist hier im Hinblick auf die verkauften Fondsanteile ohne jeden Zweifel nicht eingetreten. Dies ergibt bereits ein Vergleich der Anteilswerte im Mai 2011 einerseits (Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung von SGB II-Leistungen, Rücknahmepreis pro Anteil am 29. April 2011 42,05 €) und im Mai 2015 andererseits (Zeitpunkt des Verkaufs der Fondsanteile, Rücknahmepreis pro Anteil 56,18 €). Daraus errechnet sich eine Wertsteigerung von 33,60 % im genannten Zeitraum von vier Jahren, mithin eine jährliche Rendite von 8,4 %, die ohne weiteres im üblichen Rahmen von gemanagten Aktienfonds liegt. Darüber hinaus kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die von der C. Bank AG bescheinigten Kapitalerträge i.H.v. 776,99 € nicht allein im vorliegend maßgeblichen Bewilligungszeitraum (und auch nicht im Zeitraum seit Bezug von Arbeitslosengeld II ab Mai 2011 bis zum Verkauf der Anteile im Mai 2015) erzielt worden sind, sondern während des gesamten Zeitraums seit Erstanlage des Depots. Die steuerrechtliche Bescheinigung für das Kalenderjahr 2015 gründet sich lediglich darauf, dass die Klägerin in diesem Jahr Fondsanteile verkauft und damit im Wege der Umschichtung des Vermögens auch die eingetretene Wertsteigerung realisiert hat. Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung in einer neueren Entscheidung die Auffassung vertreten worden ist, kurzfristige Spekulationsgewinne aus Aktiengeschäften, die innerhalb eines Bewilligungsabschnitts getätigt würden, seien grundsicherungsrechtlich als Einkommen zu bewerten (so Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 23. Oktober 2020, L 3 AS 15/18) ergibt sich auch daraus für den vorliegenden Fall keine andere Beurteilung. Denn die Klägerin hat gerade keine kurzfristigen und spekulativen Käufe/Verkäufe im Hinblick auf die Fondsanteile „Invest Euroland“ innerhalb des streitgegenständlichen Bewilligungszeitraumes getätigt, sondern die Anteile, die von ihrer Mutter gekauft worden sind, über mehrere Jahre gehalten. 

Nach alledem hat es dabei zu verbleiben, dass der von der C. Bank AG als Kapitalerträge im Jahr 2015 bescheinigte Betrag von 776,99 € nicht als den Anspruch auf Arbeitslosengeld II minderndes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 SGB II zu berücksichtigen ist. Der Betrag stellt weiterhin Vermögen im Sinne des § 12 SGB II dar.

Die Berufung des Beklagten war zurückzuweisen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, da höchstrichterliche Rechtsprechung zu den in der vorliegenden Entscheidung angesprochenen Rechtsfragen – zumindest für den Anwendungsbereich des SGB II – nicht vorliegt. Eine Beantwortung dieser Rechtsfragen ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des BSG vom 10. August 2016 (B 14 AS 51/15 R) zur kapitalbildenden Lebensversicherung einschließlich Überschussbeteiligung und Anteil an den Bewertungsreserven. Hiermit sind Kapitalerträge aus Fondsanteilen nicht ohne weiteres vergleichbar.
 

Rechtskraft
Aus
Saved