S 10 SO 2576/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SO 2576/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Auch dann, wenn heilpädagogische Leistungen als Einzelleistung gemäß § 79 Abs. 1 SGB IX beantragt wurden ist eine interdisziplinäre Eingangsdiagnostik zur Abgrenzung zu Komplexleistungen gemäß § 79 Abs. 3 iVm § 46 SGB IX zwingend notwendig.

Die Komplexleistung ist der Regelfall und gegenüber der heilpädagogischen Frühförderung als Einzelleistung vorrangig zu prüfen.

Eine ärztliche Verordnung reicht zur Erlangung der „fachlichen Erkenntnis“ im Sinne von § 79 Abs. 1 SGB IX nicht aus.

Eine Leistungserbringung ist erst mit dem Vorliegen aller Voraussetzungen möglich (§ 108 Abs. 1 SGB IX); mithin bedarf es zunächst einer interdisziplinären Eingangsdiagnostik.

 

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

 

 

Tatbestand

 

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf heilpädagogische Leistungen nach § 79 SGB IX als Einzelleistung bereits ab dem 01.04.2020 hat.

 

Die am 04.12.2016 geborene Klägerin beantragte am 20.04.2020 vertreten durch ihre Mutter bei der Sozial- und Jugendbehörde der Stadt XXX unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung der kinder- und jugendärztlichen Gemeinschaftspraxis Dres. XXX und XXX eine heilpädagogische Frühförderung als Einzelleistung. Aus der ärztlichen Verordnung vom 06.03.2020 lässt sich die Diagnose: Verhaltensauffälligkeit entnehmen sowie der Zusatz, dass eine heilpädagogische Betreuung erforderlich sei. Bezugnehmend auf das elterliche Wunsch- und Wahlrecht solle die heilpädagogische Frühförderung durch das Heilpädagogische Zentrum XXX – XXX – durchgeführt werden. Es liege bereits eine Zusage des Leistungserbringers vor, mit der Förderung könnte sofort begonnen werden. 

 

Per E-Mail vom 23.04.2020 teilte die Stadt XXX der Klägerin mit, dass die eingereichten Unterlagen für eine Entscheidung über den Antrag nicht ausreichend seien.  Notwendig sei eine Behandlungsempfehlung einer interdisziplinären Frühförderstelle oder eines Sozialpädiatrischen Zentrums. Aus einer solchen Behandlungsempfehlung gehe der qualitative und quantitative Behandlungsumfang hervor und bilde die Basis für die Entscheidung über die Kostenübernahme. 

 

Mit Schreiben vom 29.04.2020 schaltete sich Dr. XXX, der Leiter von XXX, in das Verfahren ein und bat um unverzügliche Bewilligung der beantragten Leistung. Zur Begründung führte er aus, die zusätzliche verlangte Diagnostik sei seines Erachtens nicht notwendig und sogar rechtswidrig. Seinem Schreiben fügte er eine rechtliche Stellungnahme des Professors für Sozialrecht an der Hochschule XXX vom 29.04.2020 bei. Aus dieser rechtlichen Stellungnahme lässt sich Folgendes entnehme:

 

„Sofern Eltern für leistungsberechtigte Kinder heilpädagogische Leistungen nur als Einzelleistung und nicht – im Zusammenhang mit Leistungen der Frühförderung – als Komplexleistung beantragt haben, ist die Forderung des zuständigen Rehabilitationsträgers nach einer zusätzlichen Diagnostik in einer interdisziplinären Frühförderstelle nicht nur nicht notwendig, sondern auch rechtswidrig. Ziel des SGB IX ist es, Teilhabeleistungen so frühzeitig zu erbringen, dass der Eintritt einer Behinderung möglichst vermieden wird (vgl. nur § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Durch die hier zusätzlich geforderte Diagnostik in einer Frühförderstelle kommt es aber zu nicht erforderlichen Verzögerungen. Es erschließt sich in diesem Zusammenhang nicht, warum bei als Einzelleistung beantragten heilpädagogischen Leistungen eine zusätzliche Diagnostik in einer interdisziplinären Frühförderstelle erforderlich sein soll. Dies wäre dann sinnvoll, wenn zusätzlich zu den heilpädagogischen Leistungen der Frühförderung Leistungen der medizinischen Rehabilitation als Komplexleistung beantragt worden wären. […] Jede andere Sichtweise würde dazu führen, dass der Reha-Träger über den im Antrag der Eltern bezeichneten Leistungsumfang hinausgehen würde, was jedoch unzulässig ist. Sofern also der Reha-Träger keine geeignete Rechtsgrundlage für die zusätzliche Diagnostik benennen kann, sollte die zügige Leistungsbewilligung durch die Möglichkeiten des einstweiligen Rechtsschutzes sichergestellt werden.“

 

Am 28.05.2020 erwiderte die Direktorin der Sozial- und Jugendbehörde XXX dass die Stadt XXX die Rechtsauffassung des Städte- und Landkreistages Baden-Württemberg teilen würde, wonach solitäre Frühförderleistungen in Form einer Einzelleistung auch außerhalb der Landesrahmenvereinbarung möglich seien. Die Landesrahmenvereinbarung regele ausschließlich die Erbringung von sogenannten Komplexleistungen. Seien allerdings heilpädagogische Leistungen im Sinne der Frühförderdiagnostik erforderlich, so würden die Eingliederungshilfeträger zunächst eine Diagnostik durch die in der Landesrahmenvereinbarung genannten Frühfördereinrichtungen erwarten. Den nachfragenden Eltern bzw. Kindern würden in XXX zwei Einrichtungen zur Verfügung stehen. Deshalb sollte es zu keinen zeitlichen Verzögerungen kommen. Es könnte deshalb eine Empfehlung innerhalb kürzester Zeit erfolgen.

 

Nachdem sich Dr. XXX am 17.06.2020 mit einem weiteren Schreiben an den Bürgermeister der Stadt XXX gewandt hatte und sich die Direktorin XXX in Beantwortung dieses Schreibens wiederholt auf die Landesrahmenvereinbarung berufen hat, legte Dr. XXX am 28.07.2020 eine erneute rechtliche Stellungnahme von Prof. Dr. XXX vom 08.07.2020 vor.

 

In seiner erneuten rechtlichen Stellungnahme führte Prof. Dr. XXX ergänzend aus, dass als Voraussetzung von § 79 Abs. 1 S. 1 SGB IX nach fachlicher Erkenntnis zu erwarten sein müsse, dass durch die heilpädagogischen Leistungen eine drohende Behinderung abgewendet oder der fortschreitende Verlauf einer Behinderung verlangsamt werden könne oder die Folgen einer Behinderung beseitigt oder gemildert werden können. Als „fachliche Erkenntnis“ zähle das Urteil der an der Aufgabe der Erbringung heilpädagogischer Leistungen beteiligten Disziplinen. Die „fachliche Erkenntnis“ werde in der Regel durch ein Gutachten nachzuweisen sein, das durch eine fachlich befähigte Stelle oder einen Arzt mit einer entsprechenden prognostischen Aussage zur Erreichbarkeit der alternativ geltenden Ziele erstellt werde. […] Insoweit dürfte auch die Verordnung durch einen Kinder- und Jugendarzt ausreichend sein, sofern sie eine geeignete Begründung enthält und damit als „Fachgutachten“ anzusehen sei.

 

Im Folgenden teilte die Frühförderstelle der Reha SW auf Nachfrage der Stadt XXX am 30.07.2020 mit, dass die Mutter der Klägerin Anfang Juli 2020 einen Termin für den 10.08.2020 ausgemacht habe, dieser aber auf Anweisung von Dr. XXX wieder abgesagt worden sei.

 

Mit Schreiben vom 05.08.2020 wurde der Klägerin erneut die Sach- und Rechtslage erläutert. Ein gleichlautendes Schreiben ging an Dr. XXX.

 

Am 04.03.2021 stellte die Klägerin beim Sozialgericht Karlsruhe einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, welcher mit Beschluss vom 05.03.2021 (S 5 SO 646/21) abgelehnt wurde.

 

Schließlich fand am 21.05.2021 und am 31.05.2021 eine Befunderhebung in der interdisziplinären Frühförderstelle XXX der Reha-Südwest gGmbH statt. In ihrem Kurzbericht vom 02.07.2021 gelangte die Heilpädagogin XXX zu folgendem Ergebnis:

 

Bei der Klägerin würden umfassende Auffälligkeiten in verschiedenen Entwicklungsbereichen bestehen. Die standardisierte Überprüfung der Kognition werde durch erhebliche Schwierigkeiten in der Konzentrations- und Aufmerksamkeitslenkung beeinflusst. Aufgrund der Schwierigkeiten in der Wahrnehmungsverarbeitung und Motorik sei die Aufnahme von Ergotherapie indiziert. Aufgrund von Auffälligkeiten im Bereich Phonetik – Phonologie erscheine logopädische Therapie sinnvoll. Medizinische Therapien sollten in Intervallen erfolgen. Um die Teilhabe nicht weiter zu gefährden, sowie zum Erlernen sozialer Kompetenzen und zur Förderung des Kontaktverhaltens werde die Aufnahme einer heilpädagogischen Entwicklungsförderung empfohlen. Dies könne im Rahmen einer Komplexleistung erfolgen. Sofern die heilpädagogische Entwicklungsförderung in einer niedergelassenen Praxis durchgeführt werde, müsse dieses auf Heilmittelverordnung erfolgen.

 

Mit Bescheid vom 30.07.2021 wurde eine Leistungsbewilligung ausgesprochen für die Zeit ab 01.05.2021.

 

Hiergegen legte die Klägerin am 12.08.2021 Widerspruch ein, mit welchem sie sich gegen den zeitlichen Beginn der Leistung gewandt hat. Ihrer Ansicht nach müsste die Leistung bereits ab April 2020 erfolgen.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.08.2021 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, gemäß § 99 SGB IX seien Leistungen der Eingliederungshilfe den Personen zu gewähren, die auch nach der bis 31.12.2019 geltenden Textfassung von § 53 Abs. 1 SGB XII anspruchsberechtigt gewesen seien. Die Bestimmungen der §§ 1- 3 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingIHV) würden weiterhin entsprechend gelten. Aufgrund der mittlerweile vorliegenden Befunde sei vom Bestehen einer seelischen und/oder geistigen wesentlichen Behinderung auszugehen (§§ 2, 3 Nr. 2 EingIHV). Damit sei die Klägerin dem Grunde nach anspruchsberechtigt im Rahmen der Eingliederungshilfe. Zum Leistungskatalog der Eingliederungshilfe würden auch Leistungen zur sozialen Teilhabe (§ 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) zählen und diese wiederum würden u. a. heilpädagogische Frühförderung (§§ 113 Abs. 2 Nr. 3, 79, 46 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 SGB IX) umfassen.

 

Soweit der zeitliche Bewilligungsbeginn (01.05.2021) angesprochen worden sei, sei auf das gesetzlich verankerte Antragserfordernis hinzuweisen. Danach würden Leistungen der Eingliederungshilfe nur auf Antrag erbracht (§ 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Der Antrag wirke höchstens zum ersten Tag des Antragsmonates zurück, wenn - aber nur dann, wenn - zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen bereits vorlagen hätten (§ 108 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Insofern sei die rechtliche Einordnung der Heilpädagogik von Bedeutung.  Die Entscheidung über die Frage „Einzelleistung oder Komplexleistung" habe zu erfolgen im Anschluss an eine interdisziplinäre Diagnostik. Erst im Laufe des Monates 05/2021 (also über ein Jahr nach Ihrem Leistungsantrag) sei die interdisziplinäre Diagnostik durchgeführt worden, welche i.Ü. das Erfordernis einer Komplexleistung (also den Regelfall) bestätigt habe. Die für eine solche Komplexleistung zu beachtende Leistungsvoraussetzung der interdisziplinären Diagnostik sei also erst im Monat 05/2021 erfüllt worden - daher kann auch die Leistungsbewilligung erst zum 01.05.2021 einsetzen.  

 

Deswegen hat die Klägerin am 17.09.2021 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zu deren Begründung trägt sie vor, Eltern könnten entweder heilpädagogische Frühförderung nach § 79 SGB IX oder interdisziplinäre Frühförderung nach § 46 SGB IX beantragen. Nichts Anderes hätten sie getan, indem sie im Frühjahr 2020 aufgrund der kinderärztlichen Verordnung heilpädagogische Förderung als Einzelleistung beantragt hätten. Die im Widerspruchsbescheid aufgebaute Argumentation sei sachlich wie rechtlich haltlos, da die Beklagte über einen Antrag auf heilpädagogische Frühförderleistungen als Solitärleistungen nach §113 Abs.2 Nr.3 SGB IX iVm § 79 Abs.1 und 2 SGB IX zu entscheiden gehabt habe und fälschlicherweise für ihre Entscheidung das Verfahren nach § 46 SGB IX angewandt habe. Es seien solitäre Leistungen beantragt worden und dies bereits im Frühjahr 2020. Das Verfahren der Frühförderverordnung Baden-Württemberg für die Komplexleistung nach §46 SGB IX dürfe seitens der Beklagten deshalb nicht auf von Kinder- und Jugendärzten verordnete und von Eltern danach beantragte solitäre heilpädagogische Frühförderleistungen nach § 79 Abs. 1 SGB IX iVm § 113 SGB IX angewandt werden. Für die Beantragung und Bewilligung der heilpädagogischen Frühförderung (= Solitärleistung) reiche die fachliche Erkenntnis (siehe auch vorliegendes Gutachten von Professor XXX) eines Kinder- und Jugendarztes aus - und werde von diesem ärztlich bescheinigt. Deshalb müsse der Klage stattgegeben werden und die heilpädagogische Frühförderung als Solitärleistung ab dem Frühjahr 2020 bewilligt werden.

 

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

 

die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 30.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.08.2021 zu verurteilen, die Leistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX iVm § 79 SGB IX bereits ab dem 01.04.2020 zu bewilligen.

 

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung weiterhin für zutreffend und verweist insoweit auf den Inhalt des Widerspruchsbescheids vom 16.08.2021. Ergänzend trägt sie vor, es treffe zu, dass die Klägerin im Monat 04/2021 Leistungen für heilpädagogische Frühförderung als Einzelleistung beantragt hatte. Deshalb sei die Beklagte aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes verpflichtet gewesen, den Sachverhalt umfassend (§ 20 Abs. 2 SGB X) und unabhängig vom Vorbringen der Klägerin bzw. deren Eltern (§ 20 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 SGB X) aufzuklären. Hinsichtlich der zur Ermittlung des Sachverhaltes erforderlichen Beweismittel entscheide die Behörde im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Zu den gesetzlich vorgesehenen Beweismitteln zähle auch die Einholung einer Stellungnahme von Sachverständigen (§ 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Die Beklagte habe dieses Ermessen dahingehend ausgeübt, auf einer interdisziplinären Diagnostik - durchgeführt bei einer Frühförderstelle oder einem Sozialpädiatrischen Zentrum - zu bestehen. Dies begründe sich mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, welches den §§ 46, 79 SGB IX zugrunde liege. Im Übrigen komme für die Klägerin durchaus auch eine Komplexleistung in Frage - immerhin habe die Interdisziplinäre Frühförderstelle multiple Förderungen empfohlen, die dort in der Interdisziplinären Frühförderstelle - freilich als Komplexleistung - erfolgen könnten (siehe Kurzbericht vom 02.07.2021).

 

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

Zum 14.02.2022 gab es einen Wechsel in der Kammerzuständigkeit. Das Verfahren wurde von der ehemals zuständigen 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe auf die nunmehr zuständige 10. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe übertragen.

 

Entscheidungsgründe

 

I.  Die beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Karlsruhe form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die beantragte heilpädagogische Frühförderung als Einzelleistung bereits ab dem 01.04.2020. Der Bescheid vom 30.07.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.08.2021 ist insoweit nicht zu beanstanden.

 

1. Gern. § 99 SGB IX erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann. Die Bestimmungen der §§ 1- 3 Eingliederungshilfe-Verordnung (EingIHV) gelten weiterhin entsprechend (§ 99 Abs. 4 S. 2 SGB IX).

 

Aufgrund der vorliegenden Befunde ist unstreitig vom Bestehen einer seelischen und/oder geistigen wesentlichen Behinderung auszugehen (§§ 2, 3 Nr. 2 EingIHV). Damit  gehört die Klägerin dem im Grunde nach anspruchsberechtigten Personenkreis im Rahmen der Eingliederungshilfe an. Zum Leistungskatalog der Eingliederungshilfe zählen auch Leistungen zur sozialen Teilhabe (§ 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) und diese wiederum umfassen unter anderem auch die heilpädagogische Frühförderung (§§ 113 Abs. 2 Nr. 3, 79, 46 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 SGB IX).

 

2. Heilpädagogische Leistungen können sowohl als Einzelleistung als auch als Komplexleistung gewährt werden. Die Differenzierung folgt nach Maßgaben des § 79 SGB IX.

 

Gemäß § 79 Abs. 1 SGB IX werden heilpädagogische (Einzel-) Leistungen an noch nicht eingeschulte Kinder erbracht, wenn nach fachlicher Erkenntnis zu erwarten ist, dass hierdurch

(1.) eine drohende Behinderung abgewendet oder der fortschreitende Verlauf einer Behinderung verlangsamt wird oder

(2.) die Folgen einer Behinderung beseitigt oder gemildert werden können.

 

Heilpädagogische Leistungen werden immer an schwerstbehinderte und schwerstmehrfachbehinderte Kinder, die noch nicht eingeschult sind, erbracht.

 

Heilpädagogische Leistungen umfassen nach § 79 Abs. 2 SGB IX alle Maßnahmen, die zur Entwicklung des Kindes und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen, einschließlich der jeweils erforderlichen nichtärztlichen therapeutischen, psychologischen, sonderpädagogischen, psychosozialen Leistungen und der Beratung der Erziehungsberechtigten, soweit die Leistungen nicht von § 46 Absatz 1 erfasst sind.

 

Gemäß § 79 Abs. 3 SGB IX werden heilpädagogische Leistungen in Verbindung mit Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung nach § 46 Absatz 3 als Komplexleistung erbracht. Die Vorschriften der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder finden Anwendung. In Verbindung mit schulvorbereitenden Maßnahmen der Schulträger werden die Leistungen ebenfalls als Komplexleistung erbracht.

 

Aus dieser gesetzlichen Differenzierung folgt, dass die Maßnahmen individuell zu erfolgen haben. Die Komplexleistung ist dabei der Regelfall, die Einzelleistung ist die Ausnahme. Dies folgt aus der systematischen Einordnung von § 79 SGB IX in der Zusammenschau mit § 46 SGB IX, auf welchen § 79 Abs. 2 ausdrücklich Bezug nimmt und insoweit den Leistungen des § 46 SGB IX den Vorrang einräumt. Bei behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern liegen Schulbildung, allgemeine Fördererziehung und medizinische Versorgung gemessen an deren Bedarf regelmäßig eng beieinander. Die vorliegenden Beeinträchtigungen sind nicht selten multifunktional im Zusammenhang körperlicher, seelisch-geistiger und sozialer Faktoren anzusiedeln. Die Vielschichtigkeit der Bedarfslage erfordert in der Regel eine vermehrte Kooperation der beteiligten Instanzen (Schule und Kindergarten, Krankenkasse, Sozialamt, Jugendamt) und Professionen (Medizin und Pädagogik, insbesondere Sonder- und Heilpädagogik). Folgerichtig werden die Leistungen deshalb - und das ist der Regelfall - als Komplexleistungen erbracht (Luthe in: SchlegelNoelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 79 SGB IX, Rn. 15 – nach juris).

 

Gemäß § 1 der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV) erfolgt die Abgrenzung der durch interdisziplinäre Frühförderstellen und sozialpädiatrische Zentren ausgeführten Leistungen nach § 46 Abs. 1 und 2 SGB IX zur Früherkennung und Frühförderung noch nicht eingeschulter behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder, die Übernahme und die Teilung der Kosten zwischen den beteiligten Rehabilitationsträgern sowie die Vereinbarung der Entgelte nach den Vorschriften der FrühV. Nach § 6 FrühV umfassen Heilpädagogische Leistungen nach § 79 SGB IX alle Maßnahmen, die die Entwicklung des Kindes und die Entfaltung seiner Persönlichkeit mit pädagogischen Mitteln anregen, einschließlich der jeweils erforderlichen sozial- und sonderpädagogischen, psychologischen und psychosozialen Hilfen sowie die Beratung der Erziehungsberechtigten; § 5 Abs. 2 und 3 gilt entsprechend. Danach sind auch die Beratungs- und Unterstützungsleistungen nach §§ 5 Abs. 2, 6 FrühV notwendiger Teil der Komplexleistung Frühförderung (Luik in LPK-SGB IX, 5. Aufl. 2019, § 46 Rn. 24 unter Hinweis auf BT-Drs. 18/9522 S. 362).

 

Aus dem dargestellten Regel-Ausnahmeverhältnis der Komplex- zu der Einzelleistung, die sich auch in der FrühV widerspiegelt folgt zugleich die Verpflichtung des Rehabilitationsträgers zur Prüfung, welche der Leistungsformen bedarfsgerecht zu gewähren ist. In § 46 Abs. 4 SGB IX hat der Gesetzgeber den beteiligten Rehabilitationsträgern und den Verbänden der Leistungserbringer den Auftrag, aber auch die Verpflichtung erteilt, durch entsprechende Landesrahmenvereinbarung die Ausgestaltung der Komplexleistungen zu regeln.

 

Die nähere Ausgestaltung im Sinne von § 46 Abs. 4 SGB IX erfolgt durch die Landesrahmenvereinbarung zur Umsetzung in Baden-Württemberg vom 01.06.2014, welche auch nach der Einführung des Bundesteilhabegesetzes weiter Anwendung findet. Diese Landesrahmenvereinbarung gilt auch für die Beklagte.

 

In § 8 der Landesrahmenvereinbarung ist das Verfahren zur Erbringung von Komplexleistungen in interdisziplinären Frühförderstellen geregelt. Nach einem Erstberatungsgespräch (§ 8 Abs. 1) folgt die interdisziplinäre Diagnostik (§ 8 Abs. 2).

 

Ist nach dem Ergebnis der interdisziplinären Diagnostik zu diesem Zeitpunkt keine Komplexleistung erforderlich, wird dies im Formblatt Förder- und Behandlungsplan vermerkt und der Arzt, der die interdisziplinäre Diagnostik veranlasst hat, entsprechend informiert. Im Falle erforderlicher heilpädagogischer Einzelleistungen werden die Eltern/vertretungsberechtigten Bezugspersonen mit entsprechender Empfehlung an den örtlich zuständigen Sozialhilfeträger verwiesen (§ 8 Abs. 2 S. 3 Landesrahmenvereinbarung).

 

Daraus folgt, dass die interdisziplinäre Diagnostik zwingende Voraussetzung für die Leistungserbringung ist, und zwar unabhängig von der Frage, ob nur heilpädagogische Frühförderung als Einzelleistung im Sinne von § 79 Abs. 1 SGB IX oder als Komplexleistung im Sinne von § 79 Abs. 3 iVm § 46 SGB IX beantragt worden war. Der Prüfungsumfang ist in beiden Fällen der gleiche und ist von allen Beteiligten zu beachten.

 

Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die rechtsgutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. XXX. In seinem Gutachten führt er selbst aus, dass eine Abgrenzung zwischen Komplexleistungen nach § 46 SGB IX einerseits und Einzelleistungen gemäß § 79 Abs. 1 SGB IX vorzunehmen ist. Wie diese Abgrenzung vorzunehmen ist, wurde bereits oben dargestellt. Soweit er dann zu dem Ergebnis gelangt, dass soweit Einzelleistungen beantragt wurden keine zusätzliche Diagnostik erforderlich sein sollte, widerspricht dies dem systematischen Zusammenhang zwischen den Vorschriften § 46 und § 79 SGB IX und dem Vorrangverhältnis von § 46 SGB IX gegenüber der Einzelleistung nach § 79 Abs. 1 SGB IX. Darüber hinaus ist anzumerken, dass auch Prof. Dr. XXX in seinem Gutachten zu der Ansicht gelangt, eine ärztliche Verordnung reiche zur Erlangung der „fachlichen Erkenntnis“ im Sinne von § 79 Abs. 1 SGB IX nicht aus. Soweit also die Klägerin darauf abstellt, bereits im April 20 die Voraussetzungen für die Bewilligung der heilpädagogischen Frühförderung erfüllt zu haben, ist das Gutachten von Prof. Dr. XXX nicht geeignet, das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen zu bestätigen. Im April 2020 lag nämlich nur die ärztliche Verordnung der Gemeinschaftspraxis Dres. XXX und XXX vor.

 

3. Soweit nun der Beginn der Leistungserbringung letztendlich Streitgegenstand ist, ist aus oben genannten Gründen eine Leistungserbringung erst mit Vorliegen aller Voraussetzung für die beantragte Leistung rechtlich möglich. Dies folgt aus dem gesetzlichen Antragserfordernis, wie es auch in § 108 Abs. 1 SGB IX festgehalten ist.

 

Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden auf Antrag erbracht. Die Leistungen werden frühestens ab dem Ersten des Monats der Antragstellung erbracht, wenn zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen bereits vorlagen (§ 108 Abs. 1 SGB IX).

 

Die zwingende Voraussetzung der interdisziplinären Diagnostik wurde erst im Mai 2021 durch die Klägerin erfüllt. Mithin kann eine Leistungsbewilligung nach oben gesagtem erst ab 01.05.2021 beginnen.

 

Nach alledem konnte die Klage keinen Erfolg haben.

 

II. Die Entscheidung hinsichtlich der Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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