S 38 KA 145/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 145/21
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Die Differenzberechnung nach § 106b Abs. 2a SGB V ( Nachforderungen nach Abs. 1 Satz 2 sind auf die Differenz der Kosten zwischen der wirtschaftlichen und der tatsächlich ärztlich verordneten Leistung zu begrenzen. ) ist für die Quartale vor der Änderung der Rahmenvorgaben (Beschluss des Bundesschiedsamtes vom 10.05.2022) auch auf die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln anzuwenden (SG München, Urteil vom 05.05.2022, Az S 49 KA 139/21; a.A. SG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 02.06.2021, Az S 4 KA 3885/20).

II. Unzulässige Verordnungen sind im weitesten Sinne unwirtschaftlich (BSG, Urteil vom 11.12.2019, Az B 6 KA 23/18 R). Maßgeblich ist der Wortlaut von § 106b Abs. 2a SGB V.

III. Der normative Schadensbegriff , der auch im Vertragsarztrecht gilt (BSGE 76, 153, 155 f. m.w.N.; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.07.2003, Az L 11 KA 116/01) wird verdrängt von der gesetzlichen Regelung des § 106b Abs. 2 S. 1 SGB V und den für die Quartale 3/19 und 4/19 geltenden Rahmenvorgaben.


I. Die Klagen werden abgewiesen.


II. Die Klägerin trägt die Kosten der Verfahren.


III. Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht wird zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse begehrte die Aufhebung der Entscheidungen der Prüfungsstelle Ärzte Bayern vom 14.07.2021 und 18.08.2021. Den Anträgen der
Klägerin wurde nur teilweise stattgegeben, nämlich durch Festsetzung eines Nachforderungsbetrages in Höhe von 197,64 € (Quartal 3/19) bzw. in Höhe von 559,62 € (Quartal 4/19). Die beigeladene D. (Beigeladene zu 2 = ) verordnete im Quartal 3/19 Spasmo Mucosolvan Saft über 265,68 € und im Quartal 4/19 über 675,24 €. Zur Begründung führte die Prüfungsstelle aus, das Medikament sei nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig. Allerdings sei die Kostendifferenz nach § 106b Abs. 2a SGB V zu berücksichtigen (anzurechnender Anteil des Wirkstoffs im Durchschnitt der vier günstigsten Arzneimittel Ambroxol 30 mg/5 ml Saft bzw. Ambroxol 100 mg/200 mg). Die Differenz betrage 68,04 € im Quartal 3/19 und im Quartal 4/19 115,63 €.

Dagegen legte die Klägerin Klage zum Sozialgericht München ein. Sie führte aus, die
Differenzberechnung sei nicht auf Verordnungen von Arzneimitteln anwendbar, die
von vornherein unzulässig seien. Nicht verordnungsfähige und unzulässige Arzneimittel könnten niemals wirtschaftlich(er) sein. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 11.12.2019, Az B 6 KA 23/18 R, Rn. 27) sei eine Abgrenzung zwischen unzulässigen und unwirtschaftlichen Arzneimitteln vorzunehmen. Es gebe keinen Raum für ein Ermessen. Auch der im Zivilrecht geltende Grundsatz über den "Vorteilsausgleich" sei hier nicht anwendbar; insbesondere dann nicht, wenn ein
sogenannter Basismangel vorliege. Es werde die Auffassung vertreten, die Rahmenvorgaben nach § 106b Abs. 2 SGB V seien rechtswidrig, wenn nicht sogar nichtig.
Deshalb habe man die Rahmenvorgaben auch gekündigt. Im Übrigen gingen sämtliche Regelungen über den Ausschluss der Leistungspflicht der GKV ins Leere, wenn bei einem solchen Verstoß kein vollständiger Regress bzw. keine vollständige Nachforderung erfolgen würde. Der Vergleich eines Mehrbetrages setze außerdem gleichartige verordnungsfähige Leistungen voraus. Bei nicht zugelassenen Arzneimitteln könne eine solche Umsetzung nicht erfolgen, ohne die Therapieentscheidung des verordnenden Arztes zu ändern, dergestalt, dass sie durch eine eigene Mutmaßung der Prüfungsstelle ersetzt würde. Auch gerade weil das gegengerechnete Arzneimittel nicht verordnet worden sei, könne dieses auch nicht zu Lasten der GKV abgerechnet werden. Es sei ferner nicht
erkennbar, warum die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum "normativen
Schaden" nicht anwendbar sein sollte. Die Klägerin stütze sich auf die Regelung in § 106b Abs. 2a S. 2 SGB V. Dort seien Einsparungen im Zusammenhang mit unzulässigen Verordnungen erwähnt. Hinzuweisen sei zudem auf die Kommentarliteratur. Danach werde die Auffassung vertreten, dass einiges für eine einschränkende Auslegung des § 106b Abs. 2a SGB V spreche und die Differenzmethode nicht für unzulässige Verordnungen entgelte. Die Sichtweise der Klägerin werde auch durch eine Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart bestätigt (SG Stuttgart, Urteil vom 02.06.2021, Az S 4 KA 3885/20 Rn. 32). Das Gericht habe in der zitierten Entscheidung die Auffassung vertreten, für die Krankenkassen bestehe keine Zahlungspflicht - auch nicht zu einem gewissen Teil, wenn ein Vertragsarzt die Regeln des vertragsärztlichen Systems nicht eingehalten habe. Im Übrigen seien die Rahmenvorgaben mittlerweile zu Gunsten der Krankenkassen abgeändert worden.

§ 106b SGB V stelle eine Abkehr vom "Alles oder Nichts-Prinzip" durch die Differenzberechnung dar und sei somit lex specialis nur für unwirtschaftliche Verordnungen. Die
Gesetzesbegründung bestätige gerade nicht die Auffassung der Prüfungsstelle und die Auffassung der KVB. Es entstehe ein finanzieller Schaden der Krankenkasse. Insofern
sei der "normative Schadensbegriff" anwendbar. Es bestehe für die Krankenkassen keine - auch nicht zu einem gewissen Anteil - entsprechende Zahlungspflicht, wenn der Vertragsarzt bei Verordnungen die entsprechenden Regeln des vertragsärztlichen Systems nicht eingehalten habe. Auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 30.10.2013, Az B 6 KA 2/13 R, Rn. 10) werde hingewiesen. Nachdem die Rahmenvorgaben nach § 3a Abs. 1 S. 4 auch bei unzulässigen Verordnungen eine Differenzberechnung zuließen, seien diese zur Überarbeitung gekündigt worden.


Zum Verfahren wurde auch die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns notwendig nach § 75 Abs. 2 SGG beigeladen (Beigeladene zu 1). Diese äußerte sich dahingehend, die Vorschrift des § 106b Abs. 2a S. 1 SGB V sei im Zusammenhang mit dem Terminservice-und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt worden. Von der Differenzberechnung sollte auch die unzulässige Verordnung von Arzneimitteln erfasst werden. Dafür spreche auch der Wortlaut, der nicht zwischen wirtschaftlicher und unzulässiger Verordnung unterscheide. Ebenfalls könne für diese Sichtweise die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/8351, S. 195 f.) angeführt werden. Dort werde wie folgt ausgeführt: "Soweit sich durch eine unzulässige Verordnung Kostenersparnisse zu Gunsten des Kostenträgers ergeben, kommt dies nicht dem verordnenden Vertragsarzt zugute." Die Rahmenvorgaben regelten, in welchen Fällen die Differenzmethode keine Anwendung finde. Der hier vorliegende Fall sei davon nicht erfasst. Eine mögliche Nichtigkeit entbehre jeglicher Grundlage. Soweit geltend gemacht werde, die Differenzschadensberechnung mache eine Wirtschaftlichkeitsprüfung überflüssig, treffe dies nicht zu. Denn als Konsequenz einer unwirtschaftlichen Behandlungs- und Verordnungsweise bestehe auch die Möglichkeit, dieses Verhalten im Rahmen einer Disziplinarmaßnahme zu ahnden. Soweit die Klägerin geltend
mache, eine solche Umsetzung könne nicht erfolgen, ohne die Therapieentscheidung des verordnenden Arztes zu ändern, sei darauf aufmerksam zu machen, dass die Beklagte weder eine mutmaßliche Therapieentscheidung, noch ein hypothetisches Verordnungsverhalten des Arztes zugrunde gelegt habe. Vielmehr seien die Kosten eines alternativen (zulässigen) Präparats mit dem (auch in dem verordneten Arzneimittel enthaltenen)
Wirkstoff Ambroxol Hydrochlorid gegengerechnet worden.


In der mündlichen Verhandlung am 23.06.2022 wurden die Verfahren S 38 KA 145/21 und S 38 KA 217/21 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die Vertreterin der Klägerin wies darauf hin, im Zusammenhang mit den Rahmenvorgaben sei ein Verfahren vor dem Bundesschiedsamt durchgeführt worden, dessen Entscheidung seit Anfang Juni nunmehr vorliege. Danach sei die bisherige Regelung (§ 3a Abs. 1 S. 4)
dahingehend abgeändert worden, dass die Differenzmethode auf unzulässige Arzneimittelverordnungen nicht anwendbar sei. Nach dem noch nicht veröffentlichten Schiedsspruch solle auch bei vorangegangenen Quartalen die Differenzmethode bei unzulässigen Verordnungen keine Anwendung finden.

Eingehend auf die Entscheidung der 49. Kammer des Sozialgerichts München unter dem Aktenzeichen S 49 KA 139/21 führte die Vertreterin der Klägerin aus, es werde die Auslegung nach dem Wortlaut nicht bestritten. Gleichwohl folge die Klägerin der Ansicht von Herrn "Ladurner", wonach eine teleologische Reduktion geboten sei. Denn die Auslegung, wie sie von der Prüfungsstelle vorgenommen werde, führe zu unsinnigen Ergebnissen, die der Gesetzgeber so eigentlich nicht gewollt haben könne. Folge man der Ansicht der Beklagten und der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und wende man auch bei unzulässigen Verordnungen die Differenzberechnung an, so werde in die Therapiefreiheit des Arztes eingegriffen.

Die Vertreter der Beklagten machten darauf aufmerksam, die Beklagte habe sich an die Rahmenvorgaben gehalten. Im Übrigen werde nach den Informationen der Beklagten in anderen Bundesländern nicht zwischen unwirtschaftlichen und unzulässigen Verordnungen differenziert.

Unter Bezugnahme auf die Entscheidung der 49. Kammer des Sozialgerichts München vertrat die Beigeladene zu 1 die Auffassung, es komme auf den Wortlaut an, aus dem sich eine solche Einschränkung nicht ergebe. Wenn der Gesetzgeber die Differenzberechnung nur auf unwirtschaftliche Verordnungen angewandt haben wolle, hätte es auch keiner Gesetzesänderung bedurft, weil schon bisher die Differenzberechnung Anwendung gefunden habe.

Die Vertreterin der Klägerin stellte die Anträge aus den Schriftsätzen vom 12.08.2021 (S 38 KA 145/21) und 14.09.2021 (S 38 KA 217/21). Hilfsweise wurde die Zulassung der Berufung beantragt.

Die Beklagte beantragte, die Klagen abzuweisen. Hilfsweise wurde ebenfalls beantragt, die Berufung zuzulassen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakten. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 23.06.2022 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind zulässig, erweisen sich jedoch als unbegründet.

Strittig zwischen den Beteiligten ist nicht, ob eine Wirtschaftlichkeitsprüfung durchzuführen ist, sondern, ob der Klägerin ein ungekürzter Anspruch auf Festsetzung eines Nachforderungsbetrages bei Verordnung eines unzulässigen Arzneimittels (hier: Verordnung von Spasmo Mucosolvan Saft) zusteht.

Nach § 106b Abs. 2a SGB V (eingefügt mit Gesetz vom 06.05.2019 (BGBl I S. 646)) sind Nachforderungen nach Abs. 1 Satz 2 auf die Differenz der Kosten zwischen der wirtschaftlichen und der tatsächlich ärztlich verordneten Leistung zu begrenzen. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung betrifft hier allerdings nicht den Fall der Überdosierung oder einer Mengenüberschreitung, sondern den Fall, dass es sich bei der Verordnung von Spasmo Mucosolvan Saft um eine unzulässige Verordnung handelt. Die Verordnung wurde getätigt von einer Kinder- und Jugendpraxis. Somit gilt § 34 Abs. 1 S. 6 SGB V nicht.

Nach Auffassung der hier erkennenden Kammer (38.) des Sozialgerichts München ist die Differenzberechnung auch auf unzulässige Verordnungen von Arzneimitteln anzuwenden.

Das Sozialgericht München (49. Kammer) hat erst kürzlich (SG D-Stadt, Urteil vom 05.05.2022, Az S 49 KA 139/21) die Anwendbarkeit der Differenzberechnung des § 106b Abs. 2a SGB V auf unzulässige Verordnungen bejaht. Zur Begründung hat das Gericht in erster Linie auf den Wortlaut von § 106b Abs. 2a SGB V abgestellt. So wurde wie folgt ausgeführt: "... ist die Formulierung wirtschaftlich in diesem Zusammenhang gerade wegen des Verweises auf Abs. 1 S. 2 und die dort verwendete Diktion als wirtschaftlich im weiteren Sinne zu verstehen. Wie von der Klägerin ausgeführt, ist eine unzulässige Verordnung immer auch eine Verordnung, die unwirtschaftlich ist." Ferner hat das Gericht die Auffassung vertreten, die Rechtsauffassung der Klägerin könne auch nicht durch eine systematische Auslegung der oben genannten Norm gestützt werden. Denn die Regelung in S. 2, wonach etwaige Einsparungen keinen Anspruch zugunsten des verordnenden Arztes begründen, würde ins Leere laufen. Weder bei einer Überschreitung der Anwendungsdauer eines Medikaments und/oder der Maximaldosis noch in dem Fall, dass ein teures Originalpräparat anstelle eines Generikums verordnet werde, könne sich denknotwendig eine Einsparung zugunsten des Arztes ergeben. Eine solche komme gerade nur in der Fallgruppe von unzulässigen Verordnungen in Betracht. Das Gericht hat außerdem auf die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 19/8351 S. 195f hingewiesen. Auch dies zeige, dass der Gesetzgeber gerade unzulässige Verordnungen "im Blick" gehabt habe.

Die 38. Kammer des Sozialgerichts München schließt sich der von der 49. Kammer des Sozialgerichts München vertreten Rechtsauffassung an. Insbesondere ist das "Wortlautargument" nicht zu entkräften. Der Wortlaut von § 106b Abs. 2a SGB V spricht von Kosten der wirtschaftlichen Leistung. Die Rechtsprechung war wiederholt mit der Frage befasst, ob es sich bei unzulässigen Verordnungen auch um unwirtschaftliche Verordnungen handelt. Hierzu hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung (BSG, Urteil vom 11.12.2019, Az B 6 KA 23/18 R) klargestellt, dass für die Festsetzung von Regressen
wegen unzulässiger Arzneiverordnungen die Wirtschaftlichkeitsprüfungsgremien zuständig sind und diese Prüfung im weitesten Sinne eine Wirtschaftlichkeitsprüfung im Sinne von § 106 SGB V darstellt. Bereits diese Rechtsauffassung spricht dafür, dass zwischen einer unwirtschaftlichen und einer unzulässigen Verordnung nicht zu differenzieren und eine unzulässige Verordnung stets auch als unwirtschaftlich anzusehen ist mit der Konsequenz, dass § 106b Abs. 2a SGB V (Differenzberechnung) auch auf unzulässige Verordnungen Anwendung findet. Im Übrigen hat das Bundessozialgericht in der vorgenannten Entscheidung keine Aussage dazu getroffen, ob die Differenzberechnung des § 106b Abs. 2a SGB V auch für unzulässige Verordnungen gilt, weil hierzu kein Anlass bestand. Denn Gegenstand dieser Entscheidung war eine andere als in der streitgegenständlichen, nämlich die Rechtmäßigkeit der Verordnung von Sprechstundenbedarf.

Gegen die Anwendung der Differenzberechnung nach § 106b Abs. 2a SGB V kann auch nicht die von der Klägerin zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 30.10.2013, Az B 6 KA 2/13 R) angeführt werden. Dort wurde im Zusammenhang mit unzulässigen Verordnungen betont, es sei nicht gerechtfertigt, die Ärzte, die eine entsprechende Verordnung ausgestellt hätten, auch nur zu einem begrenzten, möglicherweise kleinen Teil an den Kosten dieser Verordnung zu beteiligen. Eine entsprechende Zahlungsverpflichtung der Krankenkassen - auch nicht zu einem gewissen Anteil - bestehe überhaupt nicht, wenn der Vertragsarzt bei der Verordnung die Regeln des vertragsärztlichen Systems nicht eingehalten habe. Diese Entscheidung würde an sich gegen die Anwendung der Differenzberechnung sprechen. Gegenstand der Entscheidung waren allerdings Verordnungen in den Quartalen 3/2001 - 2/2002. Diese Rechtsprechung kann jedoch für den hier strittigen Zeitraum (Quartale 3/2019 und 4/2019) nicht herangezogen werden, nachdem mit Gesetz vom 06.05.2019 (BGBl I S. 646) § 106b Abs. 2a SGB V neu eingefügt wurde.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin zitierten Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart (SG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 02.06.2021, Az S 4 KA 3885/20). Dort war Gegenstand die unzulässige Verordnung von Cannabis-Blüten Quartale 4/18 - 2/19 sowie Quartal 3/19, also darunter ein Quartal (3/19), bei dem die Vorschrift des § 106b Abs. 2a SGB V (eingefügt mit Gesetz vom 06.05.2019 (BGBl I S. 646)) bereits Geltung besaß. Das SG Stuttgart vertrat die Auffassung, die Differenzberechnung nach § 106b Abs. 2a SGB V sei auch für Verordnungen im Quartal 3/2009 nicht anwendbar. Denn die Verordnung stehe unter einem Genehmigungsvorbehalt der Krankenkasse bei Erst-Verordnung (§ 31 Abs. 6 S. 2 SGB V). Es widerspreche der ausdrücklichen Genehmigungspflicht in § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V, in der Differenzberechnung gerade den vorzuwerfenden Verstoß auszublenden. Insofern besteht zwischen dieser Entscheidung und der hier streitgegenständlichen keine Vergleichbarkeit, da eine Genehmigungspflicht hier keine Rolle spielt.

Soweit die Klägerseite der Auffassung ist, die Vergleichsberechnung setze gleichartige verordnungsfähige Leistungen voraus, findet diese Ansicht keine Stütze im Wortlaut von § 106b Abs. 2a SGB V. Denn dort ist lediglich die Rede von Kosten tatsächlich ärztlich verordneter Leistung, die den Kosten der wirtschaftlichen gegenüberzustellen ist. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass es sich bei der tatsächlich ärztlich verordneten Leistung ausschließlich um zulässige Verordnungen handelt, hätte er dies entsprechend zum Ausdruck bringen müssen. Im Übrigen, darauf weist die Beklagte und beigeladene KVB hin, wurde die Differenzberechnung bei unwirtschaftlichen, aber zulässigen Verordnungen schon vor Einfügung von § 106b Abs. 2a SGB V so praktiziert und gelebt.

Auch die Ansicht der Klägerin, wende man die Differenzberechnung von § 106b Abs. 2a SGB V auch bei unzulässigen Verordnungen an, werde in die Therapiefreiheit des Arztes eingegriffen und die Therapieentscheidung des Arztes durch die Prüfungsstelle ersetzt, wird vom Gericht nicht geteilt. Vielmehr handelt es sich lediglich um einen Rechnungsposten, wobei keine mutmaßliche Therapieentscheidung und auch kein hypothetisches Verordnungsverhalten zugrunde gelegt wird, sondern es werden die Kosten eines alternativen (zulässigen) Präparats mit dem (auch in dem verordneten Arzneimittel enthaltenen) Wirkstoff Ambroxol Hydrochlorid gegengerechnet.

Ferner führt der Hinweis auf den "normativen Schadensbegriff" zu keinem anderen Ergebnis. Es trifft zwar zu, dass auch im Vertragsarztrecht der sogenannte "normative Schadensbegriff" gilt. D. h., der Geschädigte muss sich bei der Ermittlung des eingetretenen Vermögensschadens schadensmindernde Vorteile nur dann entgegenhalten lassen, wenn die Anrechnung dem Zweck des Schadenersatzes entspricht (BSGE 76, 153, 155 f. m.w.N.; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.07.2003, Az L 11 KA 116/01). Allerdings wird der "normative Schadensbegriff" hier verdrängt von der gesetzlichen Regelung des § 106b Abs. 2 S. 1 SGB V und den für die Quartale 3/19 und 4/19 geltenden Rahmenvorgaben. Insofern vermag die Klägerin ihre Rechtsansicht nicht auf die Geltung des "normativen Schadensbegriffs" im Vertragsarztrecht stützen.

Die Entscheidung der Prüfungsstelle ist auch mit den Rahmenvorgaben (§ 3a Abs. 1 S. 4), die ihre Rechtsgrundlage in § 106b Abs. 2 S. 1 SGB V finden, zu vereinbaren. Dort wird in der in der für die Quartale 3/19 und 4/19 geltenden Fassung der Gesetzestext
wiederholt und geregelt, dass die Berücksichtigung einer Kostendifferenz nur dann vorzunehmen ist, wenn die in Rede stehende Verordnung nicht bereits durch § 34 SGB V oder nach Anlage 1 der Heilmittel-Richtlinie ausgeschlossen ist und die Voraussetzungen nach § 12 Abs. 11 Arzneimittel-Richtlinie nicht vorliegen. Somit bezieht sich die Differenzberechnung auch auf unzulässige Verordnungen. Es ist nicht ersichtlich, dass insoweit die Rahmenvorgaben nichtig und damit nicht anzuwenden waren. Erst im Zusammenhang mit der Änderung der Rahmenvorgaben nach Kündigung durch die Krankenkassen und aufgrund der Einigungen aus der Verhandlung des Bundesschiedsamtes vom 10.05.2022 und der Regelungen aus dem Schiedsspruch des Bundesschiedsamtes vom 10.05.2022 wurde § 3a der Rahmenvorgaben geändert. Nach dessen Satz 4 ist die Berücksichtigung einer Kostendifferenz dann vorzunehmen, wenn die in Rede stehende Verordnung unwirtschaftlich ist und nicht unzulässig und somit von der Leistungspflicht der GKV ausgeschlossen ist. Dies bedeutet, dass nunmehr, jedenfalls nach den Rahmenvorgaben die Differenzberechnung bei unzulässigen Verordnungen keine Anwendung finden soll. Ob dies mit der Rechtsgrundlage in § 106b Abs. 2 S. 1 SGB V zu vereinbaren ist, lässt das Gericht ausdrücklich dahinstehen. Dass dieser Ausschluss auch für vorangegangene Quartale gelten soll, wie die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung am 23.06.2022 ausgeführt hat, ist nicht ersichtlich. Denn in § 8 der Rahmenvorgaben ist bestimmt, dass die Rahmenvorgaben in der geänderten Fassung mit Zustellung der Entscheidung des Bundesschiedsamtes in Kraft treten, also nicht zu einem früheren Zeitpunkt.

Aus den genannten Gründen waren die Klagen abzuweisen.

Im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung war die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht gemäß § 144 Abs. 2 Nr 1 SGG zuzulassen

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.

Rechtskraft
Aus
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