S 9 R 233/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 9 R 233/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 187/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 128/22 B
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Der Kläger begehrt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Kraftfahrzeughilfe.

Der 1960 geborene Kläger ist seit 01.07.2019 in der Verwaltung der Universität C-Stadt abhängig beschäftigt. Bei ihm ist mit Bescheid vom 01.02.2008 wegen Hirnanfallsleiden ein Grad der Behinderung von 70 v.H. ohne Merkzeichen anerkannt.

Mit Schreiben vom 16.10.2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme von Beförderungskosten von seinem Wohnhaus in A-Stadt zum Bahnhof E-Stadt und zurück, wobei er angab, wegen seines Hirnanfallsleidens nicht Auto fahren zu dürfen. Es gebe morgens keinen öffentlichen Nahverkehr, mit dem er den Zug in E-Stadt um 06:39 Uhr erreichen könne, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Abends gebe es zwar eine Busverbindung, jedoch müsse er zweimal umsteigen und die Fahrt dauere 65 Minuten, während ein PKW nur 16 Minuten benötige. Bisher werde er von seiner Ehefrau, seiner Tochter oder seinen Bekannten gefahren. Das Familienauto benötige seine Frau zur Fahrt zur Arbeit in G-Stadt, das von A-Stadt in entgegengesetzter Richtung zu C-Stadt liege. Der Kläger legte Auskünfte von Taxidiensten vor, wonach die von ihm angedachte Beförderung 35-40 Euro pro Fahrt, d.h. 70-80 Euro pro Tag koste.

Mit Bescheid vom 27.01.2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass nach § 16 Sozialgesetzbuch (SGB) VI in Verbindung mit der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung (KfzHV) Hilfe erhalte, wer wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht nur vorübergehend für die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsplatz auf die Benutzung eines eigenen Kraftfahrzeuges angewiesen sei. Nach den vorliegenden Unterlagen sei es dem Kläger zumutbar, seinen Arbeitsort mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Dass keine Verkehrsmittel vorhanden seien, sei unerheblich, da er insofern auch ohne seine gesundheitlichen Einschränkungen auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sei. 

Mit Fax seiner Bevollmächtigten vom 18.02.2020 legte der Kläger Widerspruch ein. Der Kläger wies darauf hin, dass es ihm um die Kosten für einen Fahrdienst gehe. Er meinte, Anspruch auf einen Nachteilsausgleich zu haben, da ein Gesunder mit seinem PKW von A-Stadt nach C-Stadt fahren könne, er aber nicht.

Die Beklagte überlegte an Mobilitätshilfen, zumal der Kläger am 01.07.2019 einen neuen Arbeitsplatz angetreten habe. Sie fragte den Kläger, wie lange das Verbot der PKW-Nutzung voraussichtlich noch bestehe und wie häufige seine Anfälle seien. Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 06.05.2020 antwortete der Kläger, etwa alle drei Wochen einen Anfall zu haben, seit 2004 keine Fahrerlaubnis zu haben und diese wohl auch nicht wiederzuerlangen. Die Beklagte legte den Vorgang ihrer beratenden Ärztin K. vor, die am 14.07.2020 feststellte, dass der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wieder Fahreignung erreichen werde. Die Wegefähigkeit sei aber nicht eingeschränkt, der Kläger könne öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Es liege ein Infrastruktur-Problem vor. Die Beklagte ermittelte weiter medizinisch; der behandelnde Prof. Dr. S. plädierte für Mobilitätshilfe, um unzumutbar lange Pendelzeiten und folgend einen Verlust des Arbeitsplatzes zu vermeiden sowie wertzuschätzen, dass der Kläger Sozialabgaben leiste. Parallel stellte die Beklagte fest, dass Leistungen zur Aktivierung und beruflichen Eignung bei einem Nettoverdienst von 2.452,97 € wirtschaftlich nicht in Betracht kämen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.08.2020 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 10 SGB VI und § 49 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX in Verbindung mit der KfzHV voraussetzten, dass ein behinderter Mensch infolge seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht nur vorübergehend auf die Benutzung eines Kfz angewiesen sei, um seinen Arbeitsort zu erreichen, und der behinderte Mensch ein Kfz führen kann oder gewährleistet ist, dass ein Dritter das Kfz für ihn führt. Der Sozialmedizinische Dienst habe festgestellt, dass der Kläger grundsätzlich öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne und somit behinderungsbedingt nicht auf ein Kfz angewiesen sei um seinen Arbeitsort zu erreichen. Der im Widerspruchsverfahren gehörte Behandler Prof. Dr. S. habe dies bestätigt. Für die Frage der Kausalität zwischen der Behinderung und der Notwendigkeit der Kraftfahrzeugbenutzung für den Arbeitsweg sei die Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel, das heiße, ob diese zu den benötigten Zeiten verkehren, nicht entscheidend. Auch nichtbehinderte Arbeitnehmer nutzten ein Kfz, wenn öffentlicher Nahverkehr zu benötigten Zeiten nicht zur Verfügung stehe, oder dies die Wegedauer verkürze. 

Am 08.09.2020 hat der Kläger durch seine Bevollmächtigten Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben.

Der Kläger meint, dass die Entscheidung der Beklagten über Kraftfahrzeughilfe nicht seinem Begehren entspreche, er wolle Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, konkret Beförderungskosten. Er wiederholt seine Meinung aus dem Widerspruchsverfahren, dass der Nachteil ausgeglichen werden müsse, dass er – im Gegensatz zu einem gesunden Arbeitnehmer – kein Fahrzeug für die Fahrt nach C-Stadt nutzen könne. Weiter meint er, dass ihm und seiner Familie weder Umzug noch Arbeitsplatzwechsel zumutbar seien noch seiner Familie ständige Fahrdienste. Der Kläger bemüht den Gleichheitsgrundsatz und teilt mit, erreichen zu wollen, dass in die deutsche Gesetzgebung endlich Epilepsie aufgenommen werde. 

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27.01.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, auf den Antrag des Klägers vom 18.10.2019 Kosten für einen Fahrdienst zweimal täglich an fünf Tagen in der Woche von dem Wohnort des Klägers A-Stadt zum Bahnhof nach E-Stadt hin und zurück zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte weist daraufhin, dass der Kläger seinen Antrag auf dem Formblatt G100 Kraftfahrzeughilfe angekreuzt habe und sie diese daher habe prüfen müssen und dies auch getan habe. Dass Dilemma der nicht ausreichenden Verfügbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel werde erkannt, müsse aber unberücksichtigt bleiben. 

Mit Schreiben vom 21.12.2020 hat das Gericht die Beteiligten mit einer Äußerungsfrist von einem Monat zu einer beabsichtigten Entscheidung per Gerichtsbescheid angehört. Das Schreiben ist nach den vorliegenden Empfangsbekenntnissen den Bevollmächtigten des Klägers am 04.01.2021 und der Beklagten am 30.12.2020 zugegangen. Mit Schreiben vom 07.01.2021 hat die Beklagte und mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 30.03.2020 hat der Kläger Einverständnis erklärt. 
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand dieser Entscheidung waren.
 

Entscheidungsgründe

Der Rechtsstreit konnte ohne mündliche Verhandlung gem. § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid in Beschlussbesetzung – ohne ehrenamtliche Richter – entschieden werden, nachdem die Beteiligten zu einer solchen Entscheidung binnen angemessener Frist angehört worden sind. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, und der Sachverhalt ist geklärt. Der Gerichtsbescheid wirkt insoweit als Urteil (§ 105 Abs. 3 1. Halbsatz SGG).

Die Klage hat keinen Erfolg. 

Bei der Gewährung von Kraftfahrzeughilfe, zu denen Beförderungskosten gehören können, handelt es sich gemäß § 10 SGB VI und § 49 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX in Verbindung mit der KfzHV um eine Ermessensentscheidung, für die grundsätzlich nur die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsbescheidungsklage statthaft ist (siehe BSG vom 21.03.2001 – B 5 RJ 8/00 R, zitiert nach juris). Letztere ist nach § 123 SGG im vom Kläger formulierten kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag enthalten. Insofern liegen die Sachurteilsvoraussetzungen vor.

Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27.01.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten. Der Kläger erfüllt nicht die Leistungsvoraussetzungen für die begehrten Beförderungskosten.

Die Entscheidung der Frage, ob dem Kläger berufsfördernde Rehabilitationsleistungen zu gewähren sind (sog. Eingangsprüfung), steht nicht im Ermessen der Beklagten, sondern ist davon abhängig, ob neben den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen von § 10 (persönliche Voraussetzungen), § 11 (versicherungsrechtliche Voraussetzungen) und § 12 SGB VI (kein Leistungsausschluss) die in der KfzHV genannten, zusätzlichen (u.a. persönlichen, § 3 KfzHV) Voraussetzungen vorliegen. Ein Anspruch auf Ausübung des Ermessens besteht nämlich nur, wenn die Voraussetzungen für die Pflicht zur Ermessensbetätigung vorliegen. Wenn die rechtlichen Voraussetzungen für die Ermessensbetätigungspflicht vorliegen, hat der Versicherte keinen Anspruch auf eine bestimmte Leistung (§ 54 Abs. 4 SGG) - ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null liegt nicht vor -, sondern nur Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I) (vgl. BSG vom 21.03.2001, a.a.O, m.w.N.).

Der Kläger erfüllt nicht die persönlichen Voraussetzungen des § 3 KfzHV. Danach setzt Kraftfahrzeughilfe voraus, dass (Abs. 1) 1. der Behinderte infolge seiner Behinderung nicht nur vorübergehend auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist, um seinen Arbeits- oder Ausbildungsort oder den Ort einer sonstigen Maßnahme der beruflichen Bildung zu erreichen, und 2. der Behinderte ein Kraftfahrzeug führen kann oder gewährleistet ist, dass ein Dritter das Kraftfahrzeug für ihn führt. Bei dem Kläger ist ein GdB von 70 v.H. anerkannt, er ist Behinderter im Sinne dieser Regelung. Unter Behinderung im Sinne der Rentenversicherung ist eine medizinisch bedeutsame Abweichung vom Normalzustand zu verstehen (vgl. BSG vom 21.03.2001, a.a.O., m.w.N.). Der Kläger ist jedoch nicht wegen Art und/oder Schwere seiner Behinderung auf die Nutzung eines Kfz (durch Dritte für ihn) angewiesen. Der Kläger bestreitet bereits selbst nicht, dass er grundsätzlich öffentliche Verkehrsmittel erreichen und nutzen kann. Zu diesem Ergebnis sind auch sowohl sein behandelnder Arzt Prof. Dr. S. als auch der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten gekommen. Die tatsächliche Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur Anbindung an den Bahnhof E-Stadt scheitert nach Angaben des Klägers morgens an mangelnder Verfügbarkeit und abends an der vergleichsweise längeren Fahrdauer. Die Bewilligung von Kraftfahrzeughilfe setzt aber voraus, dass der Behinderte allein infolge seiner Behinderung auf die Benutzung eines Kfz angewiesen ist, nur soweit reicht auch der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz). Eine Förderung der Kraftfahrzeugbeschaffung nach der KfzHV kommt nicht in Betracht, wenn die Benutzung eines Kraftfahrzeuges erst durch das Hinzutreten sonstiger Gründe (z.B. unzureichende öffentliche Verkehrsmittel, ungünstige Fahrplangestaltung, besondere Arbeitszeiten) erforderlich wird (vgl. Bay. LSG vom 15.05.1991 – L 8 Al 390/89, zitiert nach juris; BSG vom 26.08.1992 – 9b Rar 14/91, zitiert nach juris; Plagemann-Tolmein, MAH Sozialrecht, § 28 Rn. 102, zitiert nach beck-online; Brand-Karmanski, SGB III, § 3 KfzHV Rn. 7, zitiert nach beck-online). Darauf, ob ein Mensch ohne Behinderung diese nicht-behinderungsbedingten sonstigen Gründe (einfacher) ausgleichen könnte, kommt es nicht an. Der Ausgleich infrastruktureller Defizite des ländlichen Raumes fällt nicht in den Aufgabenbereich der gesetzlichen Rentenversicherung. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache selbst. 

Rechtskraft
Aus
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