L 3 AS 245/22 B

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 20 AS 594/20
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 245/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Die Aufklärung des Sachverhalts ist zwar vorrangiger Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens. Die Anordnung kann jedoch auch aus anderen Gründen, insbesondere mit dem Zweck erfolgen, das Verfahren zu beschleunigen, eine vergleichsweise Erledigung oder Konfliktlösung herbeizuführen, eine argumentative Auseinandersetzung zu ermöglichen oder ein Rechtsgespräch mit den Beteiligten zur Erläuterung der Sach- und Rechtslage zu führen.

2. Die Frage, ob ein Ordnungsgeld festgesetzt wird, ist eine Ermessensentscheidung, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss. Dabei ist bereits im Rahmen des Erschließungsermessens zu würdigen, warum die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgte, ob sie auch (noch) im Zeitpunkt des Termins, dem der Beteiligte ferngeblieben ist, geboten war, und ob die Verhängung eines Ordnungsgeldes gemessen am Zweck der Vorschrift und unter Berücksichtigung des Fortgangs des Verfahrens die gebotene Reaktion auf das Ausbleiben darstellt.

3. Wenn das Gericht ohne Verzögerung abschließend in der Sache entscheiden konnte, ist regelmäßig die Festsetzung eines Ordnungsgeldes ermessensfehlerhaft, wenn weitere Erwägungen fehlen.

 

 

Bild entfernt.L 3 AS 245/22 B

S 20 AS 594/20 Dresden

 

 

 

 

 

 

SÄCHSISCHES LANDESSOZIALGERICHT BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

  1.  Z....

- Klägerin und Beschwerdeführerin -

 

  1.  Y....

- Kläger und Beschwerdeführer-

 

  1.  X....

- Klägerin und Beschwerdeführerin -

 

Prozessbevollmächtigter:       Z....

 

gegen

 

 

Jobcenter Dresden, vertreten durch den Geschäftsführer, Budapester Straße 30, 01069 Dresden

- Beklagte -

 

 

hat der 3. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts am 14. September 2022 in Chemnitz durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. Scheer, die Richterin am Landessozialgericht Schneider und den Richter am Landessozialgericht Kups ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

 

 

    1. Auf die Beschwerden der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 11. April 2022 aufgehoben.

 

 

    1. Die Staatskasse hat den Klägern die ihnen im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

 

 

Gründe:

 

 

I.

 

 

Die Kläger wenden sich gegen ein ihnen auferlegtes Ordnungsgeld.

 

 

Die Kläger haben vor dem Sozialgericht ein Klageverfahren betrieben und sich gegen die Aufhebung und Erstattung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in Höhe von insgesamt 224,81 EUR gewandt. Sie haben geltend gemacht, dass das auf dem Konto der Klägerin zu 1 eingezahlte Geld aus Leistungen des Beklagten stammen würde und fehlerhaft als Einkommen angerechnet worden sei. Es sei ein Freibetrag von 100,00 EUR zu berücksichtigen. Aus Datenschutzgründen werde die Person, welchen das Geld überwiesen habe, nicht genannt.

 

Mit Verfügung vom 17. August 2020 hat der Kammervorsitzende den Klägern mitgeteilt, dass ein Freibetrag von 100,00 EUR nur anrechenbar sei, wenn es sich bei dem Einkommen um Erwerbseinkommen handele. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Daher habe das Jobcenter zutreffend die Versicherungspauschale von 30,00 EUR angerechnet. Die Kläger mögen mitteilen, ob sie an der Klage festhalten würden.

 

Die Kläger haben mit Schreiben vom 16. November 2020 mitgeteilt, dass sie die Klage aufrechterhalten.

 

Der Kammervorsitzende hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 31. Januar 2022 bestimmt und das persönliche Erscheinen der Kläger zu 1 bis 3 angeordnet.

 

Die an die Kläger adressierten Ladungsschreiben vom 10. Dezember 2021 sind ihnen ausweislich der Postzustellungsurkunden am 13. Dezember 2021, 8:11 Uhr, durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden. In diesen Schreiben ist den Klägern mitgeteilt worden, dass sie auch dann persönlich zu erscheinen hätten, wenn sie einen Bevollmächtigten entsenden würden. Ferner ist auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden.

 

Die Kläger sind zum Termin ohne Entschuldigung nicht erschienen. Das Gericht hat die Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht aufgehoben. Der Kammervorsitzende hat darauf hingewiesen, dass die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen die Kläger zu 1 bis 3 wegen ihres Nichterscheinens zur Verhandlung vorbehalten bleibe. Das Gericht hat mündlich verhandelt und die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2022 abgewiesen.

 

Der Kammervorsitzende hat mit Schreiben vom 15. Februar 2022 die Kläger mit der Möglichkeit der Stellungnahme darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils 100,00 EUR zu verhängen.

 

Mit einem von allen Klägern persönlich unterzeichneten Schreiben vom 21. Februar 2022 haben die Kläger (formlos) versichert, von dem Termin nichts gewusst zu haben. Eventuell seien die Ladungen aus dem Briefkasten entwendet worden. Es sei bereits mehrfach etwas gestohlen worden.

 

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 11. April 2022 gegen die Kläger zu 1 bis 3 jeweils ein Ordnungsgeld in Höhe von 50,00 EUR festgesetzt. Das persönliche Erscheinen sei angeordnet gewesen. Entschuldigungsgründe seien nicht vorgetragen. Der pauschale Hinweis auf eine eventuelle Entwendung der nachweislich zugestellten Ladung reiche als Entschuldigung nicht aus. Das persönliche Erscheinen könne im sozialgerichtlichen Verfahren nicht nur zur Aufklärung des Sachverhalts, sondern auch mit dem Ziel, ein Rechtsgespräch zu führen und eine unstreitige Erledigung zu fördern, angeordnet werden. Dies ergäbe sich bereits aus dem Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften und ihrer systematischen Stellung. Die Entscheidung stehe im Ermessen. Die Kläger hätten keine Gründe vorgetragen, aus denen sich eine individuelle Unzumutbarkeit der Wahrnehmung des Termins ergäbe. Im Verhältnis zum Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens (das öffentliche Interesse an der Sicherstellung eines prozessual ordnungsgemäßen Verfahrens unter Berücksichtigung der Verpflichtung des Gerichts, den Sachverhalt aufzuklären und auf eine gütliche Einigung hinzuwirken) sei die Verhängung des Ordnungsgeldes angemessen. Da trotzdem habe entschieden werden können, werde nur ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils 50,00 EUR festgesetzt.

 

Die Kläger haben sich gegen den Beschluss am 14. April 2022 mit Beschwerden gewandt. Sie hätten vom Termin keine Kenntnis gehabt.

 

Die Kläger beantragen sinngemäß,

 

 

den Ordnungsgeldbeschluss des Sozialgerichtes Dresden vom 11. April 2022 aufzuheben.

 

Der Beklagte beantragt,

 

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

 

Der Zugang der Ladung sei durch die Postzustellungsurkunde belegt. Gründe für das Nichterscheinen seien nicht vorgetragen.

 

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen Bezug genommen.

 

 

II.

 

 

1. Die statthafte und zulässige Beschwerde (vgl. §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht gegen die Kläger ein Ordnungsgeld verhängt.

 

  1. Die Entscheidung über die Festsetzung von Ordnungsgeld ergeht durch Beschluss (vgl. § 142 SGG). Das Sozialgericht kann dabei den Ordnungsgeldbeschluss auch noch nach dem Ende der mündlichen Verhandlung erlassen (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 28. Juli 2015 – L 3 BK 2/13 BNZS 2015, 799 f. = juris Rdnr. 14 und Beschluss vom 28. Februar 2018 – L 3 AS 803/17 B – juris Rdnr. 11; Keller, in: Meyer- Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [13. Aufl., 2020], § 12 Rdnr. 2b). In diesem Fall entscheidet der Kammervorsitzende – wie auch vorliegend – allein, das heißt ohne Mitwirkung von ehrenamtlichen Richtern (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 3 SGG).

 

Nach § 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7, §§ 111, 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 141 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zu einem Termin zur Erörterung des Sachverhalts bzw. zur mündlichen Verhandlung angeordnet werden und gegen denjenigen, der der Anordnung nicht Folge leistet, Ordnungsgeld wie gegen einen im Vernehmungstermin nicht erschienenen Zeugen (vgl. §§ 380, 381 ZPO) festgesetzt werden. Während es in § 380 Abs. 1 Satz 2 ZPO heißt, „[…] wird gegen ihn ein Ordnungsgeld […] festgesetzt“, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen also ein Ordnungsgeld zu verhängen ist, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 141 Abs. 3 Satz 1 ZPO, dass das Gericht bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen Ermessen nicht nur in Bezug auf die Höhe des Ordnungsgeldes (Auswahlermessen), sondern auch im Hinblick auf das „Ob“ der Festsetzung (Entschließungsermessen) hat (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 28. Februar 2018, a. a. O., juris Rdnr. 15 m. w. N..; Thür. LSG, Beschluss vom 17. Juli 2014 – L 6 KR 507/14 B – juris Rdnr. 15; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2017 – L 31 AS 1027/17 B – juris Rdnr. 11 f.; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [13. Aufl., 2020], § 111 Rdnr. 6a, m. w. N.).

 

Die Auferlegung eines Ordnungsgeldes setzt somit zum einen voraus, dass der Beteiligte unter Anordnung des persönlichen Erscheinens und Hinweis auf die Folgen seines Ausbleibens (§ 111 Abs. 1 Satz 2 SGG) ordnungsgemäß geladen worden ist, zum anderen, dass er ohne rechtzeitige genügende Entschuldigung (vgl. § 381 Abs. 1 Satz 1 ZPO) zum Termin weder erschienen ist noch einen geeigneten Vertreter entsandt hat (vgl. § 141 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Die Begründung des Beschlusses muss erkennen lassen, dass das Sozialgericht seinen Ermessensspielraum sowohl im Hinblick auf das „Ob“ der Festsetzung als auch der Höhe der Festsetzung erkannt hat und von welchen Ermessensgesichtspunkten es unter Berücksichtigung welcher maßgebenden Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgegangen ist.

 

  1. Die anwaltlich nicht vertretenen Kläger erschienen zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung, Anordnung ihres persönlichen Erscheinens und einer (grundsätzlich bei Zugang der Ladung) ausreichenden Belehrung über die Folgen des Nichterscheinens nicht. Ob jedoch das Nichterscheinen mit dem am 21. Februar 2022 bei Gericht eingegangenen Schreiben hinreichend entschuldigt war, jedenfalls weitere Ermittlungen notwendig gewesen wären, kann vorliegend dahinstehen.

 

  1. Über die Frage der ausreichenden Entschuldigung hat das Gericht unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu entscheiden. Die Entschuldigungsgründe sind glaubhaft zu machen. Für die genügende Entschuldigung müssen Umstände vorliegen, die das Ausbleiben als nicht pflichtwidrig erscheinen lassen und daher schwerwiegende Gründe sind. Dabei muss der Verhinderungsgrund so dargelegt und untermauert sein, dass das Gericht ohne weitere Nachforschungen selbst beurteilen kann, ob er vorliegt (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 21. Februar 2022 – L 1 KR 326/21 B – juris Rdnr. 17 f.; Bay. LSG, Beschluss vom 25. April 2022 – L 2 AL 62/22 B – juris Rdnr. 29).

 

  1. Die von den drei Klägern persönlich unterzeichnete Erklärung, mit welcher sie ausdrücklich versichern, die Ladungen seien ihnen nicht bekannt gewesen und seien offensichtlich – wie in der Vergangenheit bereits geschehen – aus dem Briefkasten entwendet worden, würde – soweit man den Vortrag als wahr unterstellt – das Nichterscheinen der Kläger unmittelbar erklären und entschuldigen. Die Erklärung wäre auch rechtzeitig erfolgt, da die Kläger erst durch das am 15. Februar 2022 zugestellte Protokoll Kenntnis vom Termin erhalten hätten. Die Kläger bestritten auch nicht pauschal den Zugang der Ladung, sondern erklärten, warum sie trotz erfolgreicher Zustellung durch Einwurf in den Briefkasten, keine Kenntnis von der Ladung gehabt hätten.

 

Auch wenn zur Würdigung der Behauptung ein weiterer Vortrag zu den früheren Vorfällen und zu den örtlichen Gegebenheiten hätte abverlangt werden können, fehlt es entgegen der Ausführungen im Beschluss damit allein an der notwendigen hinreichenden Glaubhaftmachung. Denn zur behaupteten Entwendung der Ladungen aus dem Briefkasten ist den Klägern ein weiterer Vortrag rein tatsächlich nicht möglich. Die weiteren Umstände wären daher allein im Rahmen der Beweiswürdigung zu werten. Insofern obliegt es dem Kammervorsitzenden, von Amts wegen Ermittlungen anzustellen, strafbewehrte Versicherung an Eides statt zu verlangen und sodann innerhalb der Denkgesetze der Logik und der naturgesetzlichen Gegebenheiten in freier Überzeugungsbildung zu entscheiden, ob eine genügende Entschuldigung glaubhaft gemacht worden ist. Vorliegend wurde werde im Rahmen der Anhörung auf die Notwendigkeit der Glaubhaftmachung hingewiesen noch wurden nachträglich weitere Erläuterungen oder Versicherung an Eides statt angefordert.

 

  1. Die Entscheidung, gegen alle drei Kläger ein Ordnungsgeld festzusetzen, stellt sich im konkreten Fall jedoch bereits als ermessensfehlerhaft dar. Zwar hat das Sozialgericht zutreffend ausgeführt, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht allein aus Gründen der Sachverhaltsaufklärung ergehen kann (1). Im Rahmen der Festsetzung eines Ordnungsgeldes ist jedoch bereits im Rahmen des Entschließungsermessens unter Darlegung der zu würdigenden Umstände abzuwägen, ob die Anordnung des persönlichen Erscheinens – auch (noch) im Zeitpunkt des Termins, dem der Beteiligte ferngeblieben ist – geboten war, und ob die Verhängung eines Ordnungsgeldes gemessen am Zweck der Vorschrift und unter Berücksichtigung des Fortgangs des Verfahrens die gebotene Reaktion auf das Ausbleiben darstellt (2). Eine entsprechende Ermessensausübung fehlt vorliegend (3).

 

  1. Ob der Vorsitzende das persönliche Erscheinen eines Beteiligten nach den § 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7, § 111 SGG anordnen will, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Nach § 106 Abs. 2 und 2 Nr. 7 SGG hat der Vorsitzende bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen, und kann zu diesem Zweck das persönliche Erscheinen der Beteiligten anordnen. Das Gericht soll nach § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO das persönliche Erscheinen beider Parteien anordnen, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Hieraus folgt, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten jedenfalls dann ermessensfehlerfrei ist, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Das Gericht hat jedoch im Rahmen der Entscheidung, ob es das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zur Aufklärung des Sachverhalts anordnet, auch den damit für den Beteiligten verbundenen Aufwand, den Wert des Streitgegenstandes und sonstige wichtige Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. § 141 Abs. 1 Satz 2 ZPO; Vgl. hierzu: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. März 2010– L 5 AS 1114/09 B – juris 12; Kühl, in: Fichte/Jüttner, SGG [3. Aufl., 2020], § 111 Rdnr. 2).

 

Ob und in welchem Umfang aus anderen Gründen das persönliche Erscheinen eines Beteiligten verlangt werden kann, ist streitig. Bereits aus dem Wortlaut von § 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7 SGG und insbesondere des § 111 Abs. 1 Satz 1 SGG folgt jedoch, dass im sozial- gerichtlichen Verfahren der Ermessensspielraum weit. Denn sie setzen die Gebotenheit zur Aufklärung des Sachverhalts nicht voraus. Danach ist die Aufklärung des Sachverhalts zwar vorrangiger Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens. Die Anordnung kann jedoch auch aus anderen Gründen, insbesondere mit dem Zweck erfolgten, das Verfahren zu beschleunigen, eine vergleichsweise Erledigung oder Konfliktlösung herbeizuführen, eine argumentative Auseinandersetzung zu ermöglichen oder ein Rechtsgespräch mit den Beteiligten zur Erläuterung der Sach- und Rechtslage zu führen (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 6. März 2006 – L 5 B 159/04 AL – juris Rdnr. 2; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. September 2009 – L 11 KA 8/08 – juris Rdnr. 13; Hess. LSG, Beschluss vom 7. September 2010 - L 8 KR 231/09 B – juris

 

Rdnr. 10; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2017 – L 31 AS 1027/17 B – juris Rdnr. 13; Bay. LSG, a. a. O., juris Rdnr. 24; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Februar 2020 – L 7 AS 2137/19 B – juris Rdnr. 10; Kühl, a. a. O., § 111 Rdnr. 2; Schmidt, a. a. O., Rdnr. 2). Dabei ist es sowohl für die Prozessbeteiligten als auch für die Festsetzung eines Ordnungsgeldes sinnvoll, die Gründe für die Anordnung in die Ladung aufzunehmen (so auch: Hauck, in: Zeihe, SGG [66. Erg.-Lfg., Stand: September 2021], § 111 Rdnr. 4c; Schmidt, a. a. O.). Zwingend notwendig ist dies, mangels entsprechender gesetzlicher Regelung, jedoch nicht.

 

  1. Die Frage, ob ein Ordnungsgeld festgesetzt wird, ist eine Ermessensentscheidung, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss. Dabei ist bereits im Rahmen des Erschließungsermessens zu würdigen, warum die Anordnung des persönlichen Erscheinens erfolgte, ob sie auch (noch) im Zeitpunkt des Termins, dem der Beteiligte ferngeblieben ist, geboten war, und ob die Verhängung eines Ordnungsgeldes gemessen am Zweck der Vorschrift und unter Berücksichtigung des Fortgangs des Verfahrens die gebotene Reaktion auf das Ausbleiben darstellt (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, a. a. O., juris Rdnr. 15; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. August 2020 – L 14 AS 870/20 B – juris Rdnr. 16). Dabei liegt der Zweck der Festsetzung eines Ordnungsgeldes nach dem heutigen Verständnis des Verhältnisses von Gericht und Prozessparteien nicht darin, den nicht erschienenen Beteiligten wegen der Nichtbefolgung gerichtlicher Anordnungen und damit der vermeintlichen Missachtung des Gerichts zu bestrafen. Vielmehr soll das Erreichen des mit der Anordnung des persönlichen Erscheinens verbundenen Zwecks sichergestellt werden. Dem Sinn und Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens Rechnung tragend kann die Verhängung eines Ordnungsgeldes insbesondere dann die gebotene Reaktion auf das nicht rechtzeitig genügend entschuldigte Ausbleiben eines Beteiligten sein, wenn das persönliche Erscheinen zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts nach § 106 Abs. 1 SGG erforderlich war und durch das Nichterscheinen die Sachaufklärung erschwert und der Prozess verzögert wurde. Konnte daher das Gericht ohne Verzögerung abschließend in der Sache entscheiden, ist regelmäßig die Festsetzung eines Ordnungsgeldes ermessensfehlerhaft, wenn weitere Erwägungen fehlen (vgl. Bay. LSG, Beschluss vom 15. April 2009 – L 2 B 64/08 AS – juris Rdnr. 12; LSG Berlin- Brandenburg, a. a. O., juris Rdnr. 15 und 19; Kühl, a. a. O., § 111 Rdnr. 3; Schmidt, a. a. O., § 111 Rdnr. 6a m. w. N.). Weder die Androhung noch die Festsetzung eines Ordnungsgeldes dürfen dazu verwendet werden, einen Vergleichsabschluss oder eine Rücknahmeerklärung zu erzwingen (vgl. auch dazu BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 – VI ZB 4/07NJW-RR 2007, 1364 = juris, Rdnr. 18 m. w. N.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Juli 2009 – L 5 AS 1110/09 B – juris Rdnr. 13; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. März 2013 – L 5 AS 161/13 B – juris Rdnr. 25; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Mai 2017, a. a. O.; Rdnr. 16).

 

  1. Der angefochtene Beschluss lässt keine Auseinandersetzung mit dem die Ermessensausübung leitenden Gesetzeszweck unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erkennen.

 

Bereits die Begründung des Ordnungsgeldbeschlusses und die trotz des Nichterscheinens erfolgte abschließende Entscheidung in der Sache belegen, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens weder zur Sachverhaltsaufklärung erfolgte noch insofern notwendig war. Die tatsächlichen Gründe für die Anordnung ergeben sich auch weder aus der Landungsverfügung noch aus dem Beschluss.

 

Im Ergebnis kann vorliegend dahinstehen, ob bereits die Anordnung des persönlichen Erscheinens (insbesondere) aller drei Kläger ermessensfehlerhaft war.

 

Streitbefangen waren drei, die jeweiligen Kläger betreffende Aufhebungs- und Erstattungsbescheide in Höhe von insgesamt 224,81 EUR. Inhaltlich wurde allein über den Zufluss eines Geldbetrages auf dem Konto der Klägerin zu 1 gestritten, welche die Schriftsätze fertigte und die weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, ihren Ehemann und die zum Zeitpunkt der Entscheidung 19-jährige Tochter, vertrat. Zudem hatte der Kammervorsitzende bereits über ein Jahr vor Ladung und Anordnung des persönlichen Erscheinens auf die Erfolglosigkeit der Klage hingewiesen. Die Klägerin zu 1 hatte daraufhin erklärt, dass sie weder weiter vortragen noch die Klage zurücknehmen würde.

 

Zwar hat das Sozialgericht seinen Ermessensspielraum grundsätzlich erkannt. Im Rahmen der Ausführungen, warum es die Festsetzung eines Ordnungsgeldes für geboten erachtet, hat es zunächst jedoch erneut auf die tatbestandliche Voraussetzung der nicht ausreichenden Entschuldigung und einer allgemeinen Zumutbarkeit den Termin wahrzunehmen verwiesen. Darüber hinaus hat es ohne Bezug zum konkreten Sachverhalt allein auf den Zweck der Anordnung des persönlichen Erscheinens hingewiesen.

 

Im Rahmen des Entschließungsermessens zur Frage der Festsetzung des Ordnungsgel- des hätte jedoch ausdrücklich gewürdigt werden müssen, ob die Anordnung des persönlichen Erscheinens – auch (noch) im Zeitpunkt des Termins, dem die Beteiligten ferngeblieben sind – geboten war, und ob die Verhängung eines Ordnungsgeldes unter Berücksichtigung des weiteren Fortgangs des Verfahrens die gebotene Reaktion auf das Aus- bleiben darstellte. Dabei hätten die bereits dargelegten Umstände vor der Ladung und die Gründe für die Anordnung des persönlichen Erscheinens vor dem Hintergrund der nicht notwendigen weiteren Sachaufklärung und nicht eingetretenen Verzögerung der Verfahrensbeendigung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gewürdigt werden müssen.

 

Ausdrücklich allein und erst im Rahmen der Entscheidung über die Höhe des festzusetzenden Ordnungsgeldes hat das Sozialgericht den Umstand berücksichtigt, dass eine die Instanz beendende Entscheidung ergangen ist. Dies obwohl die Notwendigkeit eines weiteren Rechtsgesprächs nicht ersichtlich und aufgrund der eindeutigen Erklärung der Klägerin zu 1 in der Sache die Möglichkeit einer Konfliktlösung nicht erkennbar war. Auch war eine vergleichsweise Erledigung der Sache nie in Betracht gezogen worden.

 

Im Ergebnis der Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Einbeziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kam vorliegend die Festsetzung eines Ordnungsgeldes nicht in Betracht.

 

  1. Das Beschwerdeverfahren gegen einen Ordnungsgeldbeschluss ist ein selbständiges Zwischenverfahren, das einer eigenen Kostenentscheidung bedarf. Die außerordentlichen Kosten der Kläger in dem gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahren (vgl. § 183 SGG) sind nicht dem Gegner des erstinstanzlichen Verfahrens aufzuerlegen, sondern vielmehr von der Staatskasse zu tragen (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 28. Februar 2018, a. a. O., juris Rdnr. 19 m. w. N.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30. August 2019 – L 4 AS 276/19 B – juris Rdnr. 20; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Februar 2020 – L 7 AS 2137/19 B – juris Rdnr. 18; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. August 2020 – L 14 AS 870/20 B – juris Rdnr. 24).

 

3. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

 

 

Rechtskraft
Aus
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