L 17 SB 43/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
17
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SB 386/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 SB 43/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 9/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 17.12.2018 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlich Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Entscheidungsgründe:

Die 1963 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung in Höhe von 50.

Mit Bescheid vom 14.01.1991 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) in Höhe von 30, mit Bescheid vom 10.11.1994 dann einen GdB von 40 fest, wobei sie vom Vorliegen einer Zuckerkrankheit mit einem Einzel-GdB von 40 und umbildenden Veränderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 ausging. Ein im Jahr 2014 von der Klägerin gestellter Änderungsantrag blieb erfolglos.

Am 19.09.2016 stellte die Klägerin erneut einen Änderungsantrag. Der Beklagte holte Befundberichte der Diabetologin H und des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. R ein und ließ die beigezogenen medizinischen Unterlagen und die von der Klägerin vorgelegten Auszüge aus deren Diabetes-Tagebuch durch Dr. T auswerten. Dieser bewertete den Gesamt-GdB der Klägerin weiterhin mit 40 und berücksichtigte dabei die Zuckerkrankheit mit einem Einzel-GdB von 40 und umbildende Veränderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10.

Mit Bescheid vom 07.12.2016 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Feststellung eines höheren GdB ab.

Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid unter Vorlage einer Bescheinigung der Diabetologin H Widerspruch. Sie trug vor, Dr. T habe den bei ihr bestehenden Diabetes mellitus Typ I unzureichend bewertet. Es bestehe bei ihr auch eine Hypoangststörung. Aufgrund dieser Störung habe sie eher höhere Blutzuckerwerte. Es seien aber auch weiterhin Unterzuckerungen vorhanden. Sie messe den Blutzucker 8 bis 10 mal am Tag, da der Stoffwechsel labil sei. Sie zeige eine erhöhte Neigung zu Hypoglykämien.

Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme der beratenden Ärztin Dr. U wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2017 zurück.

Zur Begründung ihrer hiergegen am 19.05.2017 Klage erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, der bei ihr bestehende Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von 40 unzureichend bewertet. Es bestünden erhebliche Einschnitte, die sie gravierend in der Lebensführung beeinträchtigen würden. Sie erleide aufgrund des Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 07.12.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 04.05.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, für sie ab dem 19.09.2016 einen GdB in Höhe von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, es lasse sich nicht feststellen, dass für die Klägerin aufgrund des Diabetes mellitus gravierende Beeinträchtigungen der Lebensführung, wie z.B. infolge klinisch relevanter Unterzuckerungen ein Fremdhilfebedarf, bestehen würde. Auch besondere Erschwernisse bei der Durchführung der Insulintherapie könnten nicht festgestellt werden.

Auf Veranlassung des Sozialgerichts (SG) hat die Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Diabetologie Dr. D aufgrund einer Untersuchung der Klägerin ein Gutachten vom 10.10.2017 erstellt. Die Sachverständige ist zu der Einschätzung gelangt, dass der bei der Klägerin bestehende Diabetes mellitus Typ I mit ausgeprägter Neigung zu Unterzuckerungen und Wahrnehmungsstörungen derselben einherginge und dadurch bedingt Angstzustände mit Angst vor Unterzuckerungen und fremd- und autoaggressives Verhalten bestehe. Hierdurch sei die Teilnahme der Klägerin am Leben der Gesellschaft deutlich beeinträchtigt in Form von Konzentrationsstörungen und eine Gefährdung bei der Arbeit und im Straßenverkehr durch nicht früh genug erkannte Unterzuckerungen bei Hypowahrnehmungsstörungen. Diese instabile Stoffwechsellage zwinge die Klägerin häufiger als sonst bei intensivierter Therapie Blutzuckermessungen durchzuführen und die Blutzuckerwerte zu korrigieren. Sie leide deshalb unter Einschnitten in der Lebensführung z.B. bei der Gestaltung und der Planung des Tagesablaufs sowie der Freizeit. Es bestehe ein Bedarf von Fremdhilfe von ca. vier Mal im Quartal. Sie halte den Grad der Behinderung für höher als der Beklagte aufgrund der extrem schwankenden Werte, die nicht vorhersehbar seien und das Leben der Patientin erheblich beeinträchtigten und zu Wahrnehmungsstörungen der Unterzuckerung mit fremdaggressivem und autoaggressivem Verhalten führten.

Nach Vorlage einer Stellungnahme der beratenden Ärztin Dr. U durch den Beklagten und Beiziehung weiterer Blutzuckerdokumentation der Klägerin für Zeit vom 30.07.2017 bis zum 09.10.2017 durch das SG hat Dr. D eine ergänzende Stellungnahme vom 03.09.2018 zu ihrem Gutachten vorgelegt. Sie hat darauf hingewiesen, dass die von der Klägerin durchgeführten nächtlichen Messungen über einen anzunehmenden insulinpflichtigen „Diabetes Normalfall“ deutlich hinausgingen. Aufgrund der eingereichten Blutzuckertagesprotokolle bestünden bei der Klägerin extrem schwankende Blutzuckerwerte ohne eindeutiges Muster, wann es zu hyper- oder hypoglykämischen Entgleisungen komme. Aufgrund der stark schwankenden Blutzuckerwerte mit sehr raschem Abfall von zu hohen Werten auf deutliche Werte in den hypoglykämischen Bereich seien die Angaben der Klägerin zur Häufigkeit von Fremdhilfe und fremd- und autoagressivem Verhalten glaubhaft. Nach ihrer Einschätzung sei die Klägerin in ihrer Lebensführung gravierend beeinträchtigt.

Mit Urteil vom 17.12.2018 hat das SG die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin ab dem 19.09.2016 einen GdB in Höhe von 50 festzustellen. Nach Teil B Ziffer 15.1 Abs. 4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) müssten für die Feststellung eines GdB von 50 wegen eines Diabetes mellitus drei Kriterien erfüllt sein nämlich:

1. täglich mindestens vier Insulininjektionen

2. selbständige Variierung der Insulindosis, in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der eingenommenen Mahlzeit und der körperlichen Belastung sowie

3. eine (durch erhebliche Einschnitte) gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung. Diese Kriterien seien jedoch nicht gesondert für sich genommen starr anzuwenden, sondern sollten vielmehr eine sachgerechte Beurteilung des Gesamtzustands erleichtern (Hinweis auf BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R -). Allein der Umstand, dass bei der Klägerin die ersten beiden Voraussetzungen erfüllt seien, begründe danach keinen Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines GdB in Höhe von 50, sondern vielmehr müsse die betroffene Person durch die Auswirkungen des Diabetes mellitus insgesamt gesehen in der Lebensführung beeinträchtigt sein. Je nach den persönlichen Fähigkeiten und Umständen der betreffenden Person könnten sich die Anzahl der Insulininjektionen und die Anpassung der Dosis nämlich unterschiedlich auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Abgesehen davon sei für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus auch die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam, die im Rahmen der Prüfung des dritten Merkmals (gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung) berücksichtigt werden könne. Die durch erheblich Einschnitte bewirkte gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung könne mithin auf Besonderheiten der Therapie beruhen, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund persönlicher Defizite für eine Injektion erheblich mehr Zeit benötigt als ein anderer mit dem Umgang mit den Injektionsutensilien versierter Mensch. Einschnitte in der Lebensführung zeigten sich daneben auch bei einem unzulänglichen Therapieerfolg, also an der Stoffwechsellage des erkrankten Menschen. Auf dieser rechtlichen Grundlage verlange die Bewertung des GdB eine am jeweiligen Einzelfall orientierte Beurteilung, die sämtliche die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinflussenden Umstände berücksichtige (Hinweis auf BSG, a.a.O.).

Eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung könne nicht allein deshalb abgelehnt werden, weil die zu einer Teilhabebeeinträchtigung führenden erheblichen Einschnitte nur einen einzelnen Lebensbereich betreffen. Gegen eine solche Betrachtungsweise spreche schon der Wortlaut von Teil B Ziffer 15.1 Abs. 4 VMG. Auch in der Begründung der Neufassung werde lediglich beispielhaft auf verschiedene Bereiche hingewiesen, wie z.B. Planung des Tagesablaufs, Gestaltung der Freizeit, Zubereitung der Mahlzeiten, Berufsausübung und Mobilität (BR-Drucks. 285/10 S. 3). Auch gebiete die Vereinbarkeit der Regelung in den VMG mit höherrangigem Recht ein weites Verständnis, das eine Gesamtbetrachtung der Teilhabebeeinträchtigung ermögliche. Hieraus ergebe sich, dass Auswirkungen der Behinderung durchaus im Rahmen des Kriteriums der gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung berücksichtigt werden könnten (Hinweis auf LSG NRW, Urteil vom 29.11.2017 - L 10 SB 399/15 -). Es könne insbesondere berücksichtigt werden, dass für die betreffende Person die Notwendigkeit nächtlicher Insulingabe bestehe, weil es hierbei nicht mit einer kurzen Injektion der bereits vorbereiteten Dosis getan, sondern es erforderlich sei, den Blutzucker zu messen und zu dokumentieren, um sodann die passende Insulindosis zu bestimmen und zu injizieren. Durch diese Nacht für Nacht sich wiederholende Prozedur werde jedenfalls ein noch berufstätiger Mensch in einer Weise an durchgehender Nachtruhe gehindert, die einen gravierenden Einschnitt in die Lebensführung darstelle (Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.12.21016 - Az. L 13 SB 232/14 -).

Nach der danach gebotenen Gesamtschau sei die Klägerin nach Auffassung der Kammer durch die Auswirkungen des Diabetes mellitus durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass der bei der Klägerin bestehende Diabetes mellitus schwer einstellbar sei. Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. D ergebe sich aus den von der Sachverständigen ausgewerteten Blutzuckertagesprotokollen, dass bei der Klägerin extrem schwankende Blutzuckerwerte bestünden. Die Auswertung der von der Klägerin eingereichten Unterlagen habe zudem ergeben, dass ein eindeutiges Muster hinsichtlich des Auftretens hyperglykämischer oder hypoglykämischen Entgleisungen nicht erkennbar sei, was auch die behandelnde Diabetologin bestätigt habe. Außerdem leide die Klägerin an einer Hypowahrnehmungsstörung und an einer Hypoangst, die nach den Angaben der behandelnden Diabetologin H nach einer schweren Hypoglykämie im Jahre 2012 bzw. 2013 mit der Notwendigkeit einer stationären Behandlung aufgetreten seien. Aufgrund der Hypowahrnehmungsstörung und der Hypoangst fahre die Klägerin ihre Blutzuckerwerte besonders vor Autofahrten und auch während der Arbeit nach den Angaben der behandelnden Diabetologin H zu hoch mit der Folge, dass eine optimale Stoffwechseleinstellung bisher nicht habe erreicht werden können. Die Kammer sei auch überzeugt davon, dass die Klägerin wegen des Auftretens von Hypoglykämien regelmäßig auf Fremdhilfe - wenn auch in eingeschränktem Umfang - angewiesen sei. Die Notwendigkeit einer stationären Behandlung wegen einer Hypoglykämie habe die Diabetologin H im Befundbericht vom 20.10.2016 bestätigt. Dr. D habe zudem in der ergänzenden Stellungnahme vom 03.09.2018 bestätigt, dass die Angaben der Klägerin zur Häufigkeit von Fremdhilfe und zum fremdaggressiven und autoaggressiven Verhalten aufgrund der stark schwankenden Blutzuckerwerte glaubhaft seien. Die schwankenden Blutzuckerwerte machten es für die Klägerin zusätzlich auch erforderlich, häufiger als sonst bei intensivierter Insulintherapie Blutzuckermessungen durchzuführen und die Blutzuckerwerte zu korrigieren. Anders als beim „Normalfall“ sei die Klägerin wegen der schwankenden Blutzuckerwerte außerdem gehalten, regelmäßig auch nach 22.00 Uhr Blutzuckermessungen durchzuführen und erforderlichenfalls die Injektion von Insulin vorzunehmen. Die Sachverständige empfehle Blutzuckermessungen nachts zwischen 22.00 Uhr und 03.00 Uhr nur in der Einstellungsphase und bei schwierigen Fällen. Zu diesen schwierigen Fällen zähle die Klägerin. Die nächtlichen Blutzuckermessungen und insbesondere die im Einzelfall erforderlich werdenden Insulininjektionen führten zu einer Störung des Schlafs, die wiederum Auswirkungen auf die Aktivitäten der Klägerin am Folgetag, insbesondere auf die berufliche Tätigkeit der Klägerin habe. Unerheblich sei, dass die Klägerin nach der vorgelegten Blutzuckerdokumentation die Messungen und die Injektionen nicht jede Nacht durchführen müsse. Die Notwendigkeit, im Einzelfall Messungen vorzunehmen und Insulin zu injizieren, sei im Vergleich mit einem „Normalfall“ mit einer zusätzlichen Teilhabebeeinträchtigung verbunden. Diese Gesamtumstände führen nach Auffassung des SG dazu, dass die Klägerin durch den schwer einstellbaren Diabetes mellitus erheblichen Einschnitten ausgesetzt und gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sei.

Nach den vorliegenden Empfangsbekenntnissen ist dem Beklagten das vom SG am 21.12.2018 abgesandte Urteil am 03.01.2019, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 27.12.2018 zugegangen. Gegen das Urteil richtet sich die vom Beklagten am 31.01.2019 eingelegte Berufung. Zu deren Begründung trägt er unter Vorlage einer Stellungnahme seines Beratungsarztes Baumeister vor, dass das Urteil im Widerspruch zur Rechtsprechung des BSG zur Bewertung des Diabetes mellitus stehe. Dieses verlange, dass die gravierenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung neben der Betrachtung des Therapieaufwandes und -erfolges ein zusätzliches Kriterium in Sinne der vierten Fallkonstellation Teil B Ziff. 15.1 VMG erfüllt. Ein objektivierbarer Nachweis zur Annahme gravierender Beeinträchtigungen in der Lebensführung habe eben so wenig erbracht werden können wie eine außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellage. Nach dem Urteil des LSG NRW vom 21.01.2021 (L 13 SB 29/20) spiele die Güte der Stoffwechseleinstellung allein im Rahmen der Frage, ob ein GdB von 30 oder 40 festzustellen sei, eine Rolle. Außergewöhnliche Stoffwechsellagen, die einen höheren GdB bedingen könnten, lägen nur bei Hypoglykämien vor, die der dokumentierten, invasiven Fremdhilfe bedürften oder bei schweren hyperglykämischen Stoffwechselentgleisungen, etwa dann, wenn durch wiederholte stationäre Behandlungen eine zufriedenstellende Einstellung nicht gelinge. Beides sei bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Vom Nachweis des Vorliegens einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung sei nicht auszugehen. Eine Schulung bei Hypowahrnehmungsstörung sei von der Klägerin abgelehnt worden, sodass die behandelnde Diabetologin keinen Spielraum bei der Therapie gesehen habe. Bei tatsächlich diagnostizierter Hypoglykämiewahrnehmungsstörung wäre überdies ein Hinweis auf eine in Frage zu stellende Fahreignung der Klägerin zu erwarten gewesen. Soweit das SG auf das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.12.2016 (L 13 SB 232/14) verwiesen habe, sei ein vergleichbarer Fall hier nicht gegeben. Die Notwendigkeit nächtlicher Intervention gar von Insulinapplikationen sei durch die behandelnde Diabetologin an keiner Stelle thematisiert worden. In den von der Klägerin dokumentierten insgesamt 275 Tagen sei zwar in 214 Fällen nach 23:00 Uhr Insulin gemessen worden, es sei davon aber nur 24 mal Insulin verabreicht worden, was einer Quote von unter 10 % der Fälle entspreche. Eine vergleichbare, sich Nacht für Nacht wiederholende, Prozedur liege damit nicht vor.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 17.12.2018 aufzuheben.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie geht von einer Unzulässigkeit der Berufung wegen verspäteter Berufungseinlegung aus und hält diese aus den Gründen des angefochtenen Urteils überdies für unbegründet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07.12.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2017 zu Recht verurteilt, den GdB der Klägerin ab dem 19.09.2016 mit 50 zu bewerten.

Die Berufung ist zulässig und insbesondere auch fristgerecht eingelegt. Entgegen der Einschätzung der Klägerin geht der Senat davon aus, dass die Berufung dem Beklagten erst am 03.01.2019 zugegangen ist, wie dies auch aus dem entsprechenden Empfangsbekenntnis hervorgeht. Grundsätzlich erbringt ein datiertes und unterschriebenes Empfangsbekenntnis Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (st. Rspr. BSG, vgl. nur Urteil vom 13.05.2015 - B 6 KA 18/14 R -; Beschluss vom 17.12.2020 – B 1 KR 68/19 B -, juris Rn. 6). Der grundsätzlich zulässige Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (BSG, Beschluss vom 17.12.2020 a.a.O., juris Rn. 7; BSG, Beschluss vom 08.07.2002 - B 3 P 3/02 R -, juris Rn. 3). Aus dem Vorbringen der Klägerin, dass sich auf den Hinweis beschränkt, dass ihr das am selben Tag vom Gericht abgesandte Urteil bereits mehrere Tage vor dem Beklagten zugegangen ist, ergibt sich nichts, was geeignet wäre, die Beweiskraft des Empfangsbekenntnisses zu entkräften, zumal es sich bei mehreren der Tage um Wochenendtage bzw. gesetzliche Feiertage (Neujahr) gehandelt hat.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Zur Begründung nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung des Sozialgerichts, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt, und insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe absieht (§ 153 Abs.2 SGG).

Die Ausführungen der Beklagten in der Berufungsbegründung sind nicht geeignet, eine abweichende Entscheidung zu begründen. Entgegen deren Vorbringen hat das Sozialgericht zu Recht das Vorliegen therapiebedingter erheblicher Einschnitte, die zu einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung führen und einen GdB von 50 rechtfertigen, bejaht.

Das SG hat dabei zunächst in zutreffender Weise auf einen unzulänglichen Therapieerfolg und die schwierige Stoffwechsellage abgestellt, in dem es dargelegt hat, dass der Diabetes bei der Klägerin schwer einstellbar ist und was sich in extrem schwankenden Blutzuckerwerten mit einer ausgeprägten Neigung zu Unterzuckerungen zeigt. Diese erhöhte Neigung zu Hypoglykämien wird von der Sachverständigen unter Hinweis auf die vorliegenden Diabetestagebücher und die sich über mehrere Jahre erstreckenden Berichte der diabetologischen Schwerpunktpraxis in überzeugender Weise festgestellt. Aus den Diabetestagebüchern ergeben sich zudem extreme Schwankungen des Blutzuckerspiegels innerhalb eines Tages, ohne dass nach Auffassung der Sachverständigen bei der Insulingabe erkennbare Fehler dokumentiert sind, was für eine die erforderlich schwere Einstellbarkeit und nicht lediglich auf eine schlechte Einstellung spricht. Zu einem nicht befriedigenden Therapieerfolg passt auch, dass der Langzeitblutzuckerwert (HbA1c) bei der Klägerin nicht nur bei der Sachverständigen (mit 8,5), sondern auch bei mehreren dokumentierten Messungen zuvor deutlich erhöht war, was sich etwa aus einem Bericht der behandelnden diabetologischen Schwerpunktpraxis aus dem Jahr 2016 zeigt (dort 8,4). Therapiebedingte erhebliche Einschnitte, die zu einer gravierenden Beeinträchtigung der Lebensführung beitragen, hat das Sozialgericht vor diesem Hintergrund u. a. auch darin gesehen, dass die Klägerin nachts regelmäßig ihren Blutzucker messen und auch therapeutisch durch Aufnahme von Kohlehydraten oder auch durch Insulingabe eingreifen muss. Die Sachverständige hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies über den Therapieaufwand, der in einem insulinpflichtigen „Diabetes-Normalfall“ zu erbringen ist, deutlich hinausgeht. Es lässt sich ohne weiteres nachvollziehen, dass durch häufige, bei einem normalen insulinpflichtigen Diabetes nicht erforderliche, nächtliche, Messungen mit entsprechender Unterbrechung des Schlafes, auch Beeinträchtigungen der Aktivitäten am Folgetag zu erwarten sind. Soweit die Beklagte insoweit geltend macht, das vom Sozialgericht in diesem Zusammenhang angeführte Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.12.2016 - L 13 SB 232/14 -, sei hier nicht einschlägig, weil bei der Klägerin nur in 10 % der dokumentierten Tage nach 23.00 Uhr eine Insulininjektion erforderlich gewesen sei, überzeugt dies nicht. Zutreffend ist zwar, dass in dem diesem Urteil zu Grunde liegenden Sachverhalt bei einem berufstätigen Menschen eine regelmäßige Insulingabe um 2 Uhr nachts erforderlich war. Anders als das LSG Berlin-Brandenburg in dem von ihm entschiedenen Fall, hat sich das Sozialgericht bei der Annahme einer gravierenden Beeinträchtigung allerdings nicht ausschließlich auf diese nächtlichen Messungen und Insulingaben gestützt. Mit dem Sozialgericht und der Sachverständigen geht auch der Senat insoweit davon aus, dass die Klägerin regelmäßig auch auf Fremdhilfe, insbesondere durch ihren Mann, angewiesen ist. Die Sachverständige hat in diesem Zusammenhang auf die extrem schwankenden Blutzuckerwerte hingewiesen. Nach Auskunft der behandelnden Diabetologin, an deren Angaben zu zweifeln der Senat keinen Anlass hat, ist bei der Klägerin im Zusammenhang mit einer gravierenden Unterzuckerung auch bereits ein stationärer Aufenthalt erforderlich geworden. Die Klägerin erfährt überdies auch Einschnitte in die Lebensführung durch auto- und fremdagressives Verhalten bei Auftreten von hypoglykämischen Stoffwechsellagen, was der Senat mit dem SG und der Sachverständigen angesichts der festgestellten Stoffwechsellage ebenfalls für nachgewiesen erachtet.

Anders als der Beklagte geht der Senat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei der Klägerin auch vom Vorliegen einer Hypowahrnehmungsstörung mit den daraus vom Sozialgericht beschriebenen zusätzlichen Auswirkungen aus. Er schließt sich dabei ebenso wie das Sozialgericht der Beurteilung durch die Sachverständige Dr. Vedder-Laurenz an, die er auch auf Grund der Angaben, die die Klägerin in der Sitzung vor dem Sozialgericht und dem Senat gemacht hat, für überzeugend und zutreffend erachtet. Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass die Beurteilung der Sachverständigen auch deswegen nicht zu überzeugen vermöge, weil sich diese bei tatsächlichem Vorliegen einer solchen Störung auch zur Frage der Fahreignung hätte äußern müssen, ist darauf hinzuweisen, dass Äußerungen eines Sachverständigen, die Feststellungen über die durch den Beweisbeschluss vorgegebenen Beweisfragen hinausgehen und vom Auftrag nicht erfasste Fragen – hier der Fahreignung – beantworten, u. U. einen Ablehnungsgrund darstellen können (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.09.2019 – II-3 WF 92/19 –, Rn. 17, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 24.01.2013 – 4 W 645/12 –, Rn. 36, juris). Vor diesem Hintergrund lässt sich daraus, dass ein Sachverständiger es in einem Gutachten unterlässt, ungefragt rechtliche Konsequenzen darzulegen, die sich möglicherweise aus einem von ihm festgestellten Erkrankungsbild ergeben könnten, nicht schließen, dass ein entsprechender medizinischer Zustand beim Probanden nicht vorliegt bzw. ist ein solches Unterlassen nicht geeignet, Zweifel am Vorliegen eines entsprechenden Krankheitsbildes zu begründen.

Soweit der Beklagte schließlich unter Hinweis auf ein Urteil des 13. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22.01.2021 - L 13 SB 29/20 - die Auffassung vertritt, dass die Güte der Stoffwechseleinstellung lediglich bei der Frage zu berücksichtigen sei, ob ein GdB von 30 oder 40 vorliegt und höhere GdB-Werte nur bei außergewöhnlich schwer regulierbaren Stoffwechsellagen eine Rolle spielen, ist auch dies nach Auffassung des Senats nicht zutreffend. Wie sich aus dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe dieses Urteils ergibt, sind die dortigen Ausführungen vielmehr so zu verstehen, dass auch bei Nichtvorliegen einer gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung im Sinne von Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 VMG – die bereits einen GdB von 50 bedingen würde - bei Vorliegen außergewöhnlich schwer regulierbarer Stoffwechsellagen dennoch ein GdB von 50 festgestellt werden kann. Nur dieses Verständnis wird dem Wortlaut von Teil B Nr. 15.1 Abs. 5 VMG gerecht, wonach außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen „jeweils“ höhere GdB-Werte bedingen können. Hiermit ist nach Auffassung des Senats gemeint, dass bei Vorliegen entsprechender Stoffwechsellagen in allen Fallgruppen eine Erhöhung in Betracht kommt und etwa bei Behinderten, bei denen die Voraussetzungen von Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 VMG vorliegen, damit auch noch höhere GdB-Werte als 50 festgestellt werden können. Im Übrigen entspricht es auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass für die Beurteilung des GdB bei Diabetes mellitus die jeweilige Stoffwechsellage bedeutsam ist und der darin zum Ausdruck kommende Therapieerfolg im Rahmen des Merkmals „gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung“ berücksichtigt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 B 9 SB 2/13 R -, juris Rn. 18).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
Saved