L 13 SB 302/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 SB 924/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 SB 302/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 17/22 B
Datum
Kategorie
Beschluss

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 14.09.2021 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe:

I.

Die am 00.00.1960 geborene Klägerin begehrt von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50.

Mit Bescheid vom 25.03.2014 war bei der Klägerin wegen eines künstlichen Kniegelenks links (Einzel-GdB 20), eines Venenleidens mit Schwellneigung (Einzel-GdB 20) sowie einer Funktionseinschränkung der Füße bei Fersensporn (Einzel-GdB 20) ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 01.07.2014), die erhobene Klage blieb ohne Erfolg.

Am 22.05.2017 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag. Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei und stellte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 12.07.2017 einen GdB von 40 fest. Dem lagen ausweislich der gutachtlichen Stellungnahme folgende Behinderungen zugrunde: Funktionsstörung der Kniegelenke, Gelenkersatz links (Einzel-GdB 20), Venenleiden mit Schwellneigung (Einzel-GdB 20), Funktionseinschränkung der Füße bei Fersensporn links (Einzel-GdB 20), Funktionsstörung der Wirbelsäule, Muskelverspannungen, Schulter-Arm-Syndrom (Einzel-GdB 10), Zittern des Kopfes (Einzel-GdB 10), depressive und psychosomatische Störungen (Einzel-GdB 20), Harninkontinenz (Einzel-GdB 10), Funktionsstörung des rechten Sprunggelenkes (Einzel-GdB 10).

Der dagegen mit Schreiben vom 19.07.2017 eingelegte Widerspruch, mit dem ein GdB von zumindest 60 geltend gemacht wurde, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2017 zurückgewiesen.

Dagegen hat die Klägerin am 11.09.2017 Klage zum Sozialgericht (SG) Detmold erhoben und zur Begründung vorgetragen, die bei ihr vorliegenden erheblichen Einschränkungen mit verschiedenen Einbußen der körperlichen Beweglichkeit würden einen GdB von mindestens 60 rechtfertigen. Bei ihr lägen ein Knick der Wirbelsäule mit zwei Bandscheibenvorfällen der HWS, ein krummer Zeh, ein ca. 1 cm zu kurzes Bein, Blockaden im rechten Hand-Arm-Bereich, erheblicher Druck auf das Ohr und ein Humpeln vor. Zudem bestehe Harninkontinenz sowie eine Funktionsstörung des rechten Sprunggelenkes.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12.07.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.08.2017 zu verurteilen, bei der Klägerin ab dem 22.05.2017 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat sich auf den angefochtenen Bescheid gestützt.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E (19.12.2017) und der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie, Wirbelsäulenchirurgie des Klinikums I (04.01.2018). Zudem hat es nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens des Facharztes für Nervenheilkunde. Dr. G sowie eines orthopädischen Zusatzgutachtens des Facharztes für Orthopädie und Rehabilitation Dr. T.

Der Sachverständige Dr. T hat nach ambulanter Untersuchung der Klägerin eine Funktionsstörung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen mit Muskelreizungen (Einzel-GdB 20), einen Kniegelenkersatz links mit guter Funktion (Einzel-GdB 20), eine Funktionsstörung des rechten Sprunggelenks nach Fraktur (Einzel-GdB 10) sowie ein Venenleiden mit Schwellneigung (Einzel-GdB 20) festgestellt (Gutachten vom 17.06.2018).

Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. G lagen auf dem nervenärztlichen Fachgebiet eine leichtgradig ausgeprägte depressive Episode (Einzel-GdB 20), ein Tremor capitis (Einzel-GdB 10) sowie ein Tinnitus aurium rechts vor. Die Harnblaseninkontinenz sei mit einem Einzel-GdB von 10 oder 20 zu bewerten. Unter Berücksichtigung der orthopädischen Gesundheitsstörungen werde ein Gesamt-GdB von 40 oder 50 empfohlen und eine urologische Zusatzbegutachtung angeregt (Gutachten vom 11.07.2018).

Das SG hat sodann einen Befundbericht der Fachärztin für Urologie Dr. N (29.10.2018) eingeholt.

Die Klägerin hat im Folgenden weitere medizinische Unterlagen zur Gerichtsakte gereicht und darauf hingewiesen, dass sie sich nunmehr auch in einer Schmerztherapie befinde. Das SG hat daraufhin von Amts wegen weiter Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädisch-sozialmedizinischen Gutachtens des Facharztes für Orthopädie, Sportmedizin, Sozialmedizin, Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. S sowie eines fachinternistisch-sozialmedizinischen Zusatzgutachtens des Facharztes für Innere Medizin, Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. P.

Der Sachverständige Dr. P hat für die venösen Umlaufstörungen bei Krampfadern, Fettbildungs- und Fettverteilungsstörung der Beine einen Einzel-GdB von schwach 20, für die Harnhalteschwäche, Stuhlhalteschwäche einen Einzel-GdB von 20 und für die seelische Störungen, wiederkehrendes Kopfzittern, Ohrgeräusche einen Einzel-GdB von schwach 30 vorgeschlagen (Gutachten vom 25.09.2019).

Der Sachverständige Dr. S ist unter Einbeziehung der Feststellungen des Sachverständigen Dr. P davon ausgegangen, dass bei der Klägerin folgende Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen: Funktionseinschränkung der Kniegelenke, innenseitige Schlittenprothese links, beginnende Gonarthrose rechts (Einzel-GdB 20), Funktionsstörung der Wirbelsäule, Hohlrundrücken, muskulärstatische Insuffizienz, pseudoradikulär myofasziales Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 20 schwach), Funktionsstörung der Füße, Narben nach operiertem Sprunggelenkbruch rechts, Plantartendopathie beidseits bei Fersensporn, Senkspreizfußdeformität mit Hallux valgus und Hammerzehen beidseits (Einzel-GdB 10), venöse Umlaufstörungen bei Krampfadern, Fettbildungs- und Fettverteilungsstörung der Beine (Einzel-GdB 20 schwach), Harnhalteschwäche, Stuhlhalteschwäche (Einzel-GdB 20), leichte depressive Episode (Einzel-GdB 20), Tremor capitis (Einzel-GdB 10). Der Gesamt-GdB betrage 40 (Gutachten vom 21.11.2019).

Auf Antrag der Klägerin hat das SG sodann nach § 109 SGG weiter Beweis erhoben durch Einholung eines unfallchirurgisch-orthopädischen Gutachtens des Chefarztes der Abteilung für orthopädische Chirurgie, Unfallchirurgie und Sporttaumatologie der B-Klinik GmbH, Dr. F. Nach dessen Feststellungen sei von folgenden Behinderungen auszugehen: Funktionsschädigung beider Kniegelenke (Einzel-GdB 20), Funktionsbehinderung der LWS bei skoliotischer Fehlstellung und Osteochondrose L5/S1 (Einzel-GdB 20), OSG-Arthrose mit Belastungsschmerzen und mäßiger Bewegungsbehinderung (Einzel-GdB 10), chronische Tendinitis der Bizepssehne im rechten Schultergelenk (Einzel-GdB kleiner 10). Unter Berücksichtigung der unabhängig vom orthopädischen Fachgebiet bestehenden chronisch venösen Insuffizienz mit einem Einzel-GdB von 20, der Schäden auf urologischem Fachgebiet mit einem Einzel-GdB von 20 sowie der seelischen Störungen unter Einbeziehung des wiederkehrenden Kopfzitterns und der Ohrgeräusche mit einem Einzel-GdB von 30 sei ein Gesamt-GdB von 50 medizinisch begründbar zu machen (Gutachten vom 26.03.2020).

Das SG hat daraufhin eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S eingeholt, wonach dieser seine bisherige Einschätzung eines Gesamt-GdB von 40 weiterhin für angemessen hält (Stellungnahme vom 25.08.2020).

Sodann hat das SG von Amts wegen weiter Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie R. Danach liegen aus psychiatrischer Sicht eine Angst- und depressive Störung, gemischt (Einzel-GdB 20) sowie ein Schiefhals mit Kopftremor und Tinnitus (Einzel-GdB 10) vor. Unter Berücksichtigung der fachfremden Funktionsbeeinträchtigungen werde ein Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen (Gutachten vom 23.04.2021).

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 14.09.2021 hat die Klägerin einen Schriftsatz vom 09.09.2021 sowie ein ärztliches Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin A über eine Vorstellung am 13.09.2021 zur Gerichtsakte gereicht. Bei einer kurzfristigen Untersuchung bei dem neuen Hausarzt habe sich ergeben, dass wohl eine Herzerkrankung mit einem bereits stattgefundenen leichten Herzinfarkt vorliege.

Durch Urteil vom 14.09.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Aufgrund der nachvollziehbar und in sich schlüssig begründeten Gutachten des Orthopäden Dr. T, des Neurologen Dr. G, des Internisten Dr. P, des Orthopäden Dr. S sowie dessen ergänzender Stellungnahme, des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. F sowie des Psychiaters R könne kein GdB von mehr als 40 festgestellt werden. Die Klägerin leide an einer psychischen Störung, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. P, wonach die seelische Störung mit einem GdB von 30 zu bewerten sei, könne nicht gefolgt werden.

Unter Berücksichtigung der weiteren Gesundheitsstörungen Schiefhals mit Kopftremor und Tinnitus mit einem Einzel-GdB von 10, Funktionseinschränkung der Kniegelenke nach Teilgelenksersatz links und beginnender Gonarthrose rechts mit einem Einzel-GdB von 20, Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20, Funktionseinschränkung des Sprunggelenkes mit einem Einzel-GdB von 10, Harn- und Stuhlhalteschwäche mit einem Einzel-GdB von 20 und venöser Umlaufstörung bei Krampfadern, Fettbildungs- und Fettverteilungsstörung der Beine mit einem Einzel-GdB von 20 sei die Feststellung eines Gesamt-GdB von 40, nicht aber eines darüber hinausgehenden GdB gerechtfertigt.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 17.09.2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13.10.2021 Berufung erhoben. Sie bezieht sich auf ihr gesamtes erstinstanzliches Vorbringen. Die Einschätzung des SG, wonach lediglich ein Gesamt-GdB von 40 zu berücksichtigen sei, sei unter Nichtberücksichtigung der Auffassung von Dr. F erfolgt, welcher in seinem Gutachten einen Gesamt-GdB von 50 medizinisch als begründbar erachtet habe. Insbesondere seien nach dessen Auffassung die wiederkehrenden Beeinträchtigungen im Rahmen der seelischen Störung mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Bezüglich der psychischen Beeinträchtigung auch des Nervensystems sei zudem nach den Anhaltspunkten für die gutachterliche Tätigkeit in der Regel ein Mindest-GdB von 30 nach 26.3 anzunehmen. Zudem hätte die Herzerkrankung als weitergehende Behinderung des Herz-Kreislauf-Systems mit einem Mindest-GdB von 30 nach Herzinfarkt berücksichtigt werden müssen. Das SG hätte insofern dem Beweisantrag vom 14.09.2021 folgen und weitere Aufklärung vornehmen müssen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12.07.2017 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichtes Detmold vom 14.09.2021 den Beklagten unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 12.07.2017 in Gestalt des Widerspruchescheid vom 08.08. zu verurteilen, bei der Klägerin ab dem 22.05.2017 einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Nach Einholung eines Berichts des Facharztes für Allgemeinmedizin, Herzchirurgie Dr. M vom 07.11.2021 hat der Berichterstatter die Beteiligten mit Schreiben vom 15.11.2021 darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung durch Beschluss der Berufsrichter nach § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen.

Mit Schreiben vom 13.01.2022 hat die Klägerin im Hinblick auf eine erneute Herzuntersuchung am 30.03.2022 um Fristverlängerung gebeten. Nach deren Ablehnung mit gerichtlichem Schreiben vom 24.01.2022 ist eine weitergehende Stellungnahme der Klägerin im Anschluss an den mitgeteilten Untersuchungstermin nicht eingegangen.

Weiterer Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte.

 

II.

Der Senat hat die Berufung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zurückgewiesen, nachdem die Berufsrichter sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten. Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 15.11.2021 gehört worden.

Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zutreffend abgewiesen, weil die Klägerin durch den Bescheid vom 12.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.08.2017 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert wird. Sie hat keinen Anspruch auf die Feststellung eines GdB von mehr als 40.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze <VMG> gemäß der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26). Vorliegend ist im Vergleich zu den Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 25.03.2014 vorgelegen haben, eine Änderung eingetreten, die einen GdB von 40 seit Antragstellung am 22.05.2017 rechtfertigt. Dem ist der Beklagte mit dem Bescheid vom 12.07.2017 auch gefolgt. Die Funktionsstörungen der Klägerin rechtfertigen jedoch keinen GdB von mindestens 50.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Dabei sind für die Bewertung der festgestellten Gesundheitsstörungen seit dem 01.01.2009 ausschließlich die zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassene VersMedV vom 10.12.2008 (Bundesgesetzblatt I 2008, S. 2412) sowie die Anlage zu § 2 VersMedV, die VMG heranzuziehen, welche an die Stelle der bis zum 31.12.2008 maßgeblichen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) getreten sind und gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist.

Die Bemessung des (Gesamt-) GdB ist in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss (vgl. zuletzt BSG, Beschluss vom 21.12.2021 – B 9 SB 55/21 B, juris Rn. 8 m.w.N.). Insoweit geht der Hinweis der Klägerin auf die Nichtberücksichtigung der Gesamt-GdB-Bildung durch den Sachverständigen Dr. F fehl. In einem zweiten Schritt sind die unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens festgestellten Gesundheitsstörungen den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche Gesamt-GdB zu bilden.

Betreffend das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche ist vorliegend von einem Einzel-GdB von 20 auszugehen.

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen R leidet die Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet maßgeblich an einer Angst- und depressiven Störung gemischt. Nach Teil B Nr. 3.7 VMG bedingen leichtere psychovegetative oder psychische Störungen einen Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen Einzel-GdB von 30 bis 40 und schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) einen Einzel-GdB von 50 und mehr. Die bei der Klägerin vorliegende psychische Störung führt nach den Ausführungen des Sachverständigen zu einer geringen bis mäßigen, aber eben noch nicht zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bei bereits belastend eingeschränkter Lebensfreude. Zwar sind die Alltagsbewältigung, die berufliche Tätigkeit und die zwischenmenschlichen Beziehungen leicht leidensbedingt beeinträchtigt. Allerdings verfügt die Klägerin über einen strukturierten Tagesablauf sowie eine intakte Ehe und unterhält familiäre Beziehungen zu ihrer Mutter, deren Pflege sie komplett übernommen hat, sowie zu ihren Kindern. Gegen eine noch höhere Bewertung spricht schließlich die fehlende Inanspruchnahme spezifischer Behandlungsoptionen (vgl. zur Relevanz dieses Umstands für die GdB-Bemessung Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2010 – L 8 SB 1549/10, juris Rn. 31; Urteil vom 24.10.2013 – L 6 SB 5267/11, juris Rn. 30). Zwar erfolgt eine antidepressive Medikation, jedoch keine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Auch (teil-) stationäre psychiatrische Behandlungen sind bislang nicht durchgeführt worden.

Darüber hinaus liegen bei der Klägerin ein Schiefhals mit Kopftremor sowie ein Tinnitus vor, die nach den überzeugenden Ausführungen von Herrn R mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Nennenswerte psychische Begleiterscheinungen des Tinnitus sind nicht dokumentiert, sodass hierfür nach Teil B Nr. 5.3 VMG ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen ist. Der Kopftremor wird mit Botox behandelt und war zuletzt anlässlich der Begutachtung durch Herrn R nicht mehr nachweisbar. Auch insoweit kann maximal ein Einzel-GdB von 10 angesetzt werden.

Die Feststellungen des Sachverständigen R stimmen überein mit den Ausführungen des Sachverständigen Dr. G. Auch dieser hat aufgrund seiner ambulanten Untersuchung der Klägerin im Juli 2018 für die von ihm diagnostizierte seelische Störung in Form einer leichtgradig ausgeprägten depressiven Episode einschließlich einer bekannten Flugangst und klaustrophobischen Ängsten einen Einzel-GdB von 20 für zutreffend erachtet und das Vorliegen einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ausdrücklich verneint. Der Tremor bei fortlaufend durchgeführter Botulinum-Toxinbehandlung ist von Dr. G ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet worden.

Soweit der Sachverständige Dr. F auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet einen Einzel-GdB von (schwach) 30 annimmt, folgt der Senat dem nicht. Dr. F stützt sich auf die Einschätzung des Sachverständigen Dr. P. Dieser hat – fachfremd und ausdrücklich aus internistischer Sicht – unter Einbeziehung der Ohrgeräusche für „seelische Störungen, wiederkehrendes Kopfzittern, Ohrgeräusche, seelische Störungen“ einen Einzel-GdB von (schwach) 30 angesetzt. Eine hinreichende Begründung dieser fachfremden Bewertung des Funktionssystems Psyche kann seinem Gutachten jedoch nicht entnommen werden. Zudem kommt der Bewertung einer psychiatrischen Erkrankung aus internistischer Sicht im Vergleich zu der Bewertung durch die entsprechenden Fachärzte Dr. G und Herrn R ein geringeres Gewicht zu.

Auch das Funktionssytem Beine ist vorliegend mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, wobei sich der Senat auf die Feststellungen der Sachverständigen Dr. P, Dr. R und Dr. S stützt.

Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. P liegen bei der Klägerin venöse Umlaufstörungen bei Krampfadern sowie eine Fettbildungs- und Fettverteilungsstörung der Beine vor. Nach Teil B Nr. 9.2.3 VMG beträgt der Einzel-GdB bei chronisch venöser Insuffizienz (z.B. bei Krampfadern), postthrombotischem Syndrom ein- oder beidseitig mit geringem belastungsabhängigem Ödem, nicht ulzerösen Hautveränderungen, ohne wesentliche Stauungsbeschwerden 0 bis 10, mit erheblicher Ödembildung, häufig (mehrmals im Jahr) rezidivierenden Entzündungen 20 bis 30 und mit chronischen rezidivierenden Geschwüren, je nach Ausdehnung und Häufigkeit (einschließlich arthrogenes Stauungssyndrom) 30 bis 50. Bei der körperlichen Untersuchung durch Dr. P fielen rein äußerlich unterschiedlich ausgeprägte Krampfadern mit teigigen Ödemen im gesamten Unterschenkel- und Fußbereich auf. Erkennbare Hauternährungsstörungen oder Unterschenkelgeschwüre waren bis dahin nicht eingetreten. Insgesamt ist dafür ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen, wobei dieser gerade erreicht wird.

Die Klägerin leidet zudem an einer Funktionsstörung beider Kniegelenke sowie der Füße.

Anlässlich der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. S fanden sich am linken Knie nach künstlichem Teilgelenkersatz reizlose Narbenverhältnisse, eine stabile Bandführung, eine gute Beweglichkeit (Streckung/Beugung 0-0-110°) sowie eine leichte Muskelminderung des linken Oberschenkels. Gemäß Teil B Nr. 18.12 VMG werden bei Endoprothesen Mindest-GdB angegeben, die für Endoprothesen bei bestmöglichem Behandlungsergebnis gelten. Bei eingeschränkter Versorgungsqualität sind höhere Werte angemessen. Die Versorgungsqualität kann insbesondere beeinträchtigt sein durch Beweglichkeits- und Belastungseinschränkung, Nervenschädigung, deutliche Muskelminderung, ausgeprägte Narbenbildung. Die in der GdB-Tabelle angegebenen Werte schließen die bei der jeweiligen Versorgungsart üblicherweise gebotenen Beschränkungen ein. Aufgrund der Feststellungen von Dr. S ist von einer guten Funktion auszugehen, so dass für das linke Knie ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen ist. Am rechten Kniegelenk besteht nach den Ausführungen von Dr. S eine Innenmeniskusdegeneration mit einem Knorpelschaden des medialen Kompartments im Sinne einer beginnenden Gonarthrose. Die Bandverhältnisse waren stabil, Reizzeichen oder Bewegungseinschränkungen konnte der Sachverständige nicht feststellen (Streckung/Beugung 10-0-135°). Nach Teil B Nr. 18.14 VMG ist für ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke (z.B. Chondromalacia patellae Stadium II – IV) mit anhaltenden Reizerscheinungen einseitig ohne Bewegungseinschränkung ein Einzel-GdB von 10 bis 30 anzusetzen. Bei Vorliegen einer beginnenden Gonarthrose und dem Fehlen anhaltender Reizerscheinungen kann somit allenfalls ein Einzel-GdB von 10 angesetzt werden.

Auch der Sachverständige Dr. T hat anlässlich seiner ambulanten Untersuchung der Klägerin im Juni 2018 eine zufriedenstellende Funktion des linken Knies nach Kniegelenkersatz festgestellt und einen Einzel-GdB von 20 vorgeschlagen, ebenso der Sachverständige Dr. F.

Des Weiteren ist auf der Grundlage der Feststellungen von Dr. S für die Funktionsstörung der Füße unter Berücksichtigung der beiderseitigen Plantartendopathie und der bestehenden Schmerzen entsprechend Teil B Nr. 18. 14 VMG ein weiterer Einzel-GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Soweit Dr. T und Dr. F zudem eine geringe Bewegungseinschränkung des rechten Sprunggelenks festgestellt haben, folgt daraus auf der Grundlage der von ihnen angegebenen Werte insgesamt kein höherer Einzel-GdB als 10 (vgl. Teil B Nr. 18.14 VMG).

Für das Funktionssystem Rumpf ergibt sich ein Einzel-GdB von 20.

Gemäß Teil B Nr. 18.9 VMG ergibt sich der GdB bei angeborenen oder erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem sogenannten Postdiskotomiesyndrom) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) bedingen einen Einzel-GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel-GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel-GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen Einzel-GdB von 30 bis 40. Nach den Ausführungen von Dr. S bestanden ein linksseitiger Beckentiefstand mit leichtgradiger kompensatorischer linkskonvexer Skoliose sowie ein akzentuierter Hohlrundrücken. Funktionell war die Halswirbelsäule in allen Ebenen frei beweglich, im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule bestanden endgradige Bewegungseinschränkungen bei der Seitneigung und der Rumpfdrehung mit wechselnden, muskelassoziierten Begleitschmerzen. Sensomotorische Defizite konnte der Sachverständige Dr. G nicht feststellen. Unter Berücksichtigung des myofaszialen Schmerzsyndroms kann insoweit ein Einzel-GdB von 20 angesetzt werden, wobei dieser nach Einschätzung von Dr. S gerade eben erreicht wird (sog. schwacher Wert). Ein höherer GdB als 20 lässt sich auch nicht auf der Grundlage der Feststellungen der Sachverständigen Dr. T und Dr. F begründen.

Bei der Klägerin liegt zudem eine Harninkontinenz vor.

Nach Teil B Nr. 12.2.4 VMG bedingt eine relative Harninkontinenz mit leichtem Harnabgang bei Belastung (z.B. Stressinkontinenz Grad I) einen Einzel-GdB von 0 bis 10, mit Harnabgang tags und nachts (z.B. Stressinkontinenz Grad II – III) einen Einzel-GdB von 20 bis 40 und eine völlige Harninkontinenz einen Einzel-GdB von 50 oder mehr. Nach den Ausführungen der behandelnden Fachärztin für Urologie Dr. N in ihrem Bericht vom 27.08.2018 besteht bei der Klägerin eine medikamentös behandelte Harninkontinenz mit einer anamnestischen Miktionsfrequenz von fünf bis sieben Mal sowie einer Nykturie von zwei bis vier Mal. Gegenüber Dr. P schilderte die Klägerin Harndrang mit unkontrolliertem Harnabgang tags sowie teils auch nachts, wobei sich die Inkontinenz bei Betätigung der Bauchpresse und dem Heben und Tragen von Lasten verstärke. Ein Einzel-GdB von 20 ist insoweit zutreffend.

Soweit der Sachverständige Dr. P zusätzlich eine Stuhlhalteschwäche berücksichtigt hat, beruht dies offenbar allein auf den anamnestischen Angaben der Klägerin. Entsprechende Diagnosen oder Befunde finden sich in der Akte nicht. Ein GdB kann somit nach Ansicht des Senats dafür nicht angesetzt werden.

Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren unter Bezugnahme auf das im Termin zur mündlichen Verhandlung beim SG eingereichte Attest die Auffassung vertritt, dass zusätzlich eine Herzerkrankung nach den „Anhaltspunkten für die gutachterliche Tätigkeit“ mit einem Mindest-GdB von 30 berücksichtigt werden müsse, wird dies durch die Ermittlungen im Berufungsverfahren nicht bestätigt.

Nach Teil B Nr. 9 VMG ist bei Erkrankungen von Herz und Kreislauf für die Bemessung des GdB weniger die Art einer Herz- oder Kreislaufkrankheit maßgeblich als die Leistungseinbuße. Bei der Beurteilung des GdB ist zunächst von dem klinischen Bild und von den Funktionseinschränkungen im Alltag auszugehen. Ergometerdaten und andere Parameter stellen Richtwerte dar, die das klinische Bild ergänzen. Elektrokardiographische Abweichungen allein gestatten keinen Rückschluss auf die Leistungseinbuße. Nach Teil B Nr. 9.1.3 VMG ist der GdB nach einem Herzinfarkt von der bleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig.

Eine entsprechende Leistungsbeeinträchtigung der Herzleistung ist vorliegend nicht nachgewiesen. Nach den Ausführungen des behandelnden Arztes Dr. M in seinem Bericht vom 07.11.2021 ist eine koronare Herzerkrankung im Hinblick auf die von ihm erhobenen Befunde „möglich“, allerdings präsentierte sich die Klägerin zum Zeitpunkt der Untersuchung im September 2021 bei guter Herzfunktion körperlich beschwerdefrei, so dass die klinische Relevanz der erhobenen Befunde seiner Einschätzung nach kritisch bewertet werden müsse und wohl eine relevante Erkrankung des Herzmuskels bzw. der Koronararterien doch „fraglich“ sei. Auch im Nachgang zu dem mitgeteilten neuerlichen Untersuchungstermin vom 30.03.3022 sind abweichende Befunde, die die  Feststellung eines GdB für das Funktionssystem Herz-Kreislauf rechtfertigen könnten, nicht mitgeteilt worden.

Bei Vorliegen von Einzel-GdB von jeweils 20 für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche, die Harnorgane, den Rumpf und die Beine kann kein höherer gesamt-GdB als 40 gebildet werden.

Die Bemessung des Gesamt-GdB erfolgt nach § 152 Abs. 3 SGB IX. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Grad der Behinderung gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 VMG). Der Gesamt-GdB ist im Rahmen tatrichterlicher Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln, wobei auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden können (BSG, Beschluss vom 17.04.2013 –  B 9 SB 69/12 B, juris Rn. 11). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft – gleiches gilt für alle Feststellungsstufen des GdB - nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VMG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 50 – oder anderer Werte - fest vorgegeben ist (BSG, Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Nr. 3b) VMG). Maßgeblich sind damit grundsätzlich weder Erkrankungen oder deren Schlüsselung in Diagnosemanualen an sich noch ob eine Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit aufgetreten ist, sondern ob und wie stark die funktionellen Auswirkungen der tatsächlich vorhandenen bzw. ärztlich objektivierten Erkrankungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) anhand eines abstrakten Bemessungsrahmens beeinträchtigen.

Bei Vorliegen mehrerer Gesundheitsstörungen, die jeweils (nur) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sind, kommt die Feststellung eines GdB von 50 und damit die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft regelmäßig nicht in Betracht (so auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16.06.2015 – L 7 SB 100/13, juris Rn. 53, 54). Eine solche Wertigkeit kommt den vom Verordnungsgeber als leichte Behinderungen eingestuften Funktionseinschränkungen in der Regel nicht zu (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2014 -–L 8 SB 211/13, juris Rn. 34).

Auf der Grundlage der bei der Klägerin vorliegenden, jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten Gesundheitsstörungen lässt die gebotene Einzelfallbetrachtung nach Ansicht des Senats vorliegend nicht – ausnahmsweise - die Feststellung eines GdB von 50 zu.

Zwar wird die Klägerin durch ihre psychische Erkrankung, ihre Harninkontinenz, das Wirbelsäulenleiden und die Funktionsstörungen der unteren Extremitäten in ihrer Teilhabe beeinträchtigt. Sie verfügt jedoch über einen strukturierten Tagesablauf sowie ein intaktes soziales Umfeld und kann trotz ihrer Mobilitätseinschränkungen den Haushalt bewältigen, ihre Mutter pflegen und sportlichen Aktivitäten (Radfahren, Schwimmen) nachgehen.

Darüber hinaus ist die Klägerin auch nicht mit einem Menschen zu vergleichen, der an einer einzelnen Gesundheitsstörung leidet, für die nach den VMG ein Tabellenwert von 50 anzusetzen ist. Eine vergleichbar erhebliche Funktionsbeeinträchtigung (vgl. BSG, Urteil vom 16.03.1993 – 9 RVs 6/93, juris Rn. 13) liegt bei ihr insgesamt nicht vor. Anders etwa als bei einem Menschen mit einer schweren psychischen Störung wie einer schweren Zwangskrankheit, die zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten führt (vgl. Teil B Nr. 3.7 VMG), war nach den Feststellungen der im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen bei der Klägerin durchaus noch ein geordneter Tagesablauf darstellbar.

Ebenso wenig lässt sich die Klägerin hinsichtlich ihrer Teilhabebeeinträchtigung mit einem behinderten Menschen vergleichen, bei dem ein Wirbelsäulenschaden mit besonders schweren Auswirkungen, wie z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, vorliegt, der nach Teil B Nr. 18.9 VMG mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten ist. Eine vergleichbare Einschränkung der Beweglichkeit und Mobilität liegt bei der Klägerin nicht vor.

Zu weiteren Ermittlungen sah sich der Senat im Hinblick auf die umfangreichen Ermittlungen des SG nicht veranlasst.

Soweit die Klägerin schließlich vorträgt, das SG hätte ihrem Beweisantrag vom 14.09.2021 (gemeint ist wohl: 09.09.2021) folgen müssen, weist der Senat darauf hin, dass sie diesen ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 14.09.2021 in der mündlichen Verhandlung nicht aufrechterhalten hat. Ein Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren eine Warnfunktion. Er soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch nicht für erfüllt hält. Diese Warnfunktion verfehlen bloße Beweisgesuche, die lediglich in der Klage- oder Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind, da es sich insoweit nur um Hinweise oder bloße Anregungen handelt. Um das Gericht ausreichend vor einer Verletzung seiner Amtsermittlungspflicht zu warnen, muss ein im Verfahren rechtskundig vertretener Beteiligter- wie die Klägerin - sein zuvor geäußertes Beweisbegehren deshalb in der mündlichen Verhandlung als prozessordnungsgemäßen Beweisantrag im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG wiederholen und protokollieren lassen (BSG, Beschluss vom 02.02.2022 – B 9 SB 4721 B, juris Rn. 8). Wird der Antrag von der anwaltlich vertretenen Klägerin in der mündlichen Verhandlung hingegen – wie vorliegend - nicht ausdrücklich aufrechterhalten, kann er als erledigt angesehen werden (vgl. Leitherer, in: Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 160 Rn. 18c m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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