L 3 U 23/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 8 U 28/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 23/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 168/22 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Zur Bemessung der MdE bei Unfallfolgen ist es grundsätzlich von Bedeutung, ob eine Funktionseinschränkung durch prothetische Versorgung ausgeglichen wird oder nicht (hier: Implantat nach Zahnverlust).

I.    Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. November 2019 wird zurückgewiesen.

II.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 

III.    Die Revision wird nicht zugelassen. 

 
Tatbestand

Die 1959 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung weiterer Unfallfolgen sowie die Gewährung einer Rente auf Grund eines anerkannten Arbeitsunfalles.

Die Klägerin ist ausgebildete Hotelfachfrau und arbeitete in einem Krankenhaus als Hausdame. Am 3. Januar 2008 stürzte sie auf dem Heimweg auf eisglatten Straßenbahnschienen, fiel zunächst auf die rechte Hand und sodann mit dem Gesicht auf die Schienen. Der Unfall wurde der Beklagten mit Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 13. Februar 2008 gemeldet. Wegen der Verletzung am rechten Handgelenk war die Klägerin am Unfalltag in Erstversorgung bei dem Durchgangsarzt (D-Arzt) Prof. Dr. E., Universitätsklinik Frankfurt am Main, der eine Prellung an der rechten Hand diagnostizierte. Wegen ihrer Verletzung im Mund/Zahnbereich erfolgte die Erstversorgung am 10. Januar 2008 durch Dr. F., Zahnärztliches Universitäts-Institut der Stiftung H., der ein Röntgenbild des Oberkiefers anfertigte und eine Kontusion (Lockerung) der Zähne 21 und 22 feststellte (zahnärztliche Auskunft vom 25. Januar 2008). Laut zahnärztlicher Auskunft des behandelnden Zahnarztes Dr. G. vom 19. Februar 2008 waren die Zähne 22 und 23 bereits vor dem Unfall mit Kronen versorgt worden. Der Zahn 22 habe nach dem Unfall gezogen werden müssen, zur Vorbereitung einer Implantation sei am 21. Januar 2008 ein Knochenaufbau durchgeführt worden. Der zahnärztliche Beratungsarzt der Beklagten, Dr. K., stellte in seiner Stellungnahme vom 27. Mai 2008 fest, die Unfallschädigung beziehe sich „letztendlich“ auf die Zähne 21, 22 und 23, wobei Zahn 22 in Verlust geraten sei. Er empfahl sowohl die Übernahme der Kosten für die Behandlung durch Knochenaufbau mit Langzeitprovisorium als auch die Versorgung durch Implantation Zahn 22 (beratungsärztliche Stellungnahmen vom 27. Mai 2008 und vom 24. Juni 2008). Entsprechend übernahm die Beklagte die prothetische Versorgung der Klägerin (Schreiben der Beklagten vom 8. Juli 2008). In der Folgezeit wurde der Klägerin auch der Zahn 21 gezogen. Auch dies war nach Dr. K. eine Folge bzw. Spätfolge des Unfalls und er empfahl die Versorgung durch Implantation (Stellungnahme vom 25. Mai 2009).

Mit Schreiben vom 12. Mai 2009 machte die Klägerin den Anspruch auf Gewährung einer Rente geltend und gab als Unfallfolgen den Verlust der Zähne 21 und 22 an sowie (erstmalig) den vollständigen Verlust des Geschmackssinnes und Mundtrockenheit.

Die Beklagte holte daraufhin ein mund-, kiefer-, gesichtschirurgisches Gutachten von Prof. Dr. med. Dr. med. dent. S., Universitätsmedizin Mainz, vom 17. September 2010 und eine ergänzende Stellungnahme dieses Arztes vom 28. November 2011 ein sowie ein Hals-Nasen-Ohren(HNO)-ärztliches Gutachten von Prof. Dr. J., Klinikum Ludwigshafen, vom 21. Januar 2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 13. März 2013. Prof. Dr. S. kam zu dem Ergebnis, unfallbedingt seien sukzessive die Zähne 21 bis 23 entfernt und durch eine implantatgetragene Brücke von regio 21 bis 23 ersetzt worden. Der Unfall sei zudem verantwortlich für chronische Schmerzen im Bereich der linken Gesichtshälfte inklusive einer Überempfindlichkeit im Bereich des Oberkiefers regio 21 bis 23, den Verlust des Geruchssinnes und eine erhebliche Reduktion des Geschmacksinns. Weiterhin stellte er eine Anästhesie der Oberlippe links und eine Hypästhesie der Haut des Nasenflügels bis zur Wange links fest, wobei es sich um die Hautareale handele, welche durch den Nervus supraorbitalis links und durch den Nervus infraorbitalis links versorgt würden. Eine Druckschädigung des Nervus infraorbitalis ist nach Prof. Dr. Dr. S. auch ohne große Hämatome, Prellmarken, Schädel-Hirn-Trauma (SHT) möglich (ergänzende Stellungnahme vom 28. November 2011). Der von der Klägerin beklagte Verlust des Geruchssinns und die Einschränkung des Geschmackssinns seien mit dem Trauma vereinbar. Eine Mundtrockenheit sei nicht nachvollziehbar. Der HNO-ärztliche Gutachter, Prof. Dr. J., führte in seinem Gutachten aus, die von der Klägerin geschilderte Stirnverletzung könne zwar ein geringfügiges Trauma und eine Riechstörung hervorrufen. Die Riechprüfung habe indes den Verdacht auf Aggravation ergeben. Eine Störung des Geschmacksinns durch den Unfall sei unwahrscheinlich, da dies ein hier nicht vorliegendes schweres SHT als Auslöser voraussetze. Bei seiner Beurteilung berücksichtigte Prof. Dr. J. auch ein von der Klägerin vorgelegtes MRT des Schädels vom 10. September 2010. Ein verminderter Speichelfluss ist nach Prof. Dr. J. nicht erkennbar und lässt sich auch durch den Unfallhergang nicht erklären. Ein Zusammenhang zwischen der beklagten Gefühlsminderung der linken Wange und dem Trauma sei aufgrund der räumlichen Entfernung des Nervus infraorbitalis links zur regio 21 bis 23 fraglich. Soweit sich Prof. Dr. Dr. S. - fachfremd - zu den Symptomen im HNO-Fachgebiet geäußert habe, seien dessen Angaben nicht nachvollziehbar.

Auf Grund der unterschiedlichen Bewertungen der beiden Gutachter hörte die Beklagte ihren Beratungsarzt Prof. Dr. Dr. R., Facharzt für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie, an. Dieser stellte in seiner Stellungnahme vom 24. März 2011 fest, den Befunden zur Erstuntersuchung und den Nachuntersuchungen ließen sich keine Hinweise für ein starkes Trauma der linken Gesichtshälfte oder für ein gravierendes SHT entnehmen, zumal Prellmarken, Hämatome oder äußere Verletzungen der Gesichtshaut fehlten oder zumindest nicht dokumentiert seien. Ein Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den beklagten chronischen Schmerzen sei nicht erkennbar. Eine unfallbedingte Nervschädigung des linken Nervus infraorbitalis erscheine unter dem Gesichtspunkt fehlender Prellmarken, Hämatome und äußerer Verletzungen der Haut ebenfalls unwahrscheinlich. Dies gelte auch für die Schädigung gustatorischer Nerven und sekretorischer Nerven, die, wie im HNO-ärztlichen Gutachten dargestellt, ein schweres SHT als Auslöser voraussetzten. Das MRT vom 10. September 2010 habe keinen Hinweis für einen raumfordernden Prozess ergeben. Sofern die Beschwerden der Klägerin tatsächlich vorhanden wären, wäre dafür eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in Höhe von 15 von Hundert (v. H.) angemessen. Nach Auswertung verschiedener, von der Klägerin vorgelegter Untersuchungsergebnisse aus den Jahren 2010 und 2011 (CBCT = dreidimensionales bildgebendes Tomographie-Verfahren vom 26. September 2010, MRT vom 25. Februar 2011, Trigeminus-SSEP vom 25. Januar 2011, Befund des Zahnarztes Dr. Q. vom 30. Mai 2011) teilte Prof. Dr. Dr. R. unter dem Datum vom 25. Juli 2011 mit, es gebe keine eindeutigen Belege für einen Zusammenhang der diffusen Beschwerdesymptomatik mit dem Unfallereignis. Auch der nach Entfernung der Zähne 21 bis 23 aufgetretene Verlust des Knochens und der natürlichen Papillen sei prothetisch versorgt worden. Auch wenn er die kieferchirurgische Versorgung im Frontzahnbereich nicht als optimale Lösung bewerte, begründe dies nach seiner Ansicht keine MdE. In seiner Stellungnahme vom 9. Januar 2012 führte Prof. Dr. Dr. R. als weiteres Argument gegen einen Zusammenhang von Nervenschädigungen mit dem Unfall an, eine Besserung der klinischen Symptomatik sei nach sechs bis zwölf Monaten zu erwarten, ein permanenter vollständiger Sensibilitätsverlust sei eher selten. Ungeklärt bleibe weiterhin der Verlust des Geschmacks- und Geruchssinnes.

Die Beklagte ließ einen von der Klägerin vorgelegten Befundbericht des HNO-Arztes Dr. P. vom 11. Januar 2012 durch ihren Beratungsarzt Dr. T. (Stellungnahme vom 13. Februar 2012) auswerten, holte weitere Auskünfte des behandelnden Zahnarztes Dr. G. ein und zog die Behandlungsunterlagen dieses Arztes bei. Nach den Angaben des behandelnden Zahnarztes wurde der Zahn 22 bereits vor dem Unfall an der Wurzel behandelt. Bei der Freilegung der Wurzel habe er einen bereits erheblichen Knochenabbau festgestellt, welcher eindeutig nicht im Zusammenhang mit dem Unfall stehen könne (Gesprächsnotiz über ein Telefonat vom 23. April 2012). Absprengungen von Knochenlamellen und einen Kieferbruch hat Dr. G. nach dem Unfall nicht feststellen können, der Heilungsverlauf bezüglich der Versorgung nach dem Sturz ist nach den Angaben des Arztes im Übrigen auch auf eine parodontal bedingte Vorschädigung der Zähne durch Versorgung eines Kieferbruchs/einer Mittelgesichtsfraktur vor 10 – 15 Jahren zurückzuführen (Schreiben des Zahnarztes an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin vom 24. August 2010).

Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme von Prof. Dr. Dr. R. vom 13. August 2012 erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 8. November 2012 einen Arbeitsunfall an. Ein Anspruch auf Rente bestehe nicht, da die Erwerbsfähigkeit nicht um mindestens 20 v. H. gemindert sei. Die bei dem Unfall erlittene Handgelenksprellung rechts sei folgenlos ausgeheilt. Die bei dem Unfall erlittene Lockerung der Zähne 21 und 22 mit nachfolgender Infektion, daraus resultierendem Knochenverlust des Oberkiefers und letztlich dem Verlust der Zähne 21 und 22 sei zwischenzeitlich prothetisch versorgt worden. Als fortbestehende Unfallfolgen würden chronische Schmerzen im Bereich des Oberkiefers mit Ausstrahlung in die linke Gesichtshälfte, Taubheitsgefühl im Bereich der Oberlippe sowie Überempfindlichkeit der Haut des Nasenflügels anerkannt. Unfallunabhängig bestünden eine Parodontitis, der Verlust des Zahnes 23, ein nicht objektivierbarer Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes sowie Mundtrockenheit. 

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie habe durch den Unfall nicht nur die Zähne 21 und 22 verloren, sondern auch einen Teil des Knochens und den Zahn 23. Ebenso seien der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes und die Schädigung des Trigeminusnervs auf den Unfall zurückzuführen. Die Klägerin hat dazu ein zahnärztliches und mund-, kiefer-, gesichtschirurgisches privates Gutachten von Dr. med. Dr. med. dent. L., E-Privatklinik am W., vom 23. Dezember 2009 vorgelegt.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2014 zurück. Der Knochenverlust sei bereits als Unfallfolge anerkannt worden. Da eine unfallbedingte Schädigung des Zahnes 23 den medizinischen Unterlagen nicht zu entnehmen sei, sei dessen Verlust nicht als unfallbedingt zu berücksichtigen. Dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. S. sei hinsichtlich der chronischen Schmerzen gefolgt worden. Der Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn sei nicht objektiviert worden. Die beklagte Schädigung des Nervus Trigeminus hätte zu einer isolierten beidseitigen Schädigung der Hauptäste zwischen Schädelgrube und Augenhöhle (Nervus ophthalmicus und Nervus maxillaris) führen müssen. Eine solche Schädigung liege nicht vor.

Die Klägerin hat am 21. Februar 2014 Klage beim Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, die Infektionen in ihrem Oberkiefer seien sowohl ursächlich für den Knochenverlust als auch für den Verlust des Zahnes 23 gewesen. Die Mundtrockenheit sei noch nachzuweisen. Auch der erhebliche Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes bestehe seit dem Unfall.

Das Sozialgericht hat von Amts wegen ein HNO-ärztliches Gutachten von Dr. M. vom 24. April 2015 sowie eine ergänzende Stellungnahme dieses Sachverständigen vom 19. Januar 2017 eingeholt. Dr. M. hat festgestellt, ein Gesichtstrauma sei mit Ausnahme des Kieferbereichs nicht nachgewiesen. Hinsichtlich des Nervus trigeminus sei lediglich von einer Schädigung einzelner Nervenanteile auszugehen, die zumindest mittelbar auf den Unfall zurückzuführen seien. Die von der Klägerin angegebene Mundtrockenheit sei weiterhin nicht objektivierbar. Soweit Geruchs- und Geschmacksstörungen gerügt werden, würden diese jedenfalls keine MdE begründen. Ein kompletter Riechverlust könne nicht festgestellt werden (Stellungnahme vom 19. Januar 2017). Aufgrund der prothetischen Versorgung der Zahnverluste sei diesbezüglich keine MdE anzunehmen. Soweit chronische Schmerzen und ein Taubheitsgefühl beklagt würden, rechtfertige dies allenfalls eine MdE in Höhe von 15 v.H.

Weiterhin hat sich das Sozialgericht über die Beklagte von dem Gutachter aus dem Verwaltungsverfahren, Prof. Dr. Dr. S., eine ergänzende Stellungnahme vom 26. April 2017 vorlegen lassen und ein mund- und kiefer-orthopädisches Gutachten von Dr. N. vom 30. Oktober 2018 eingeholt. Prof. Dr. Dr. S. hat ausgeführt, eine unfallbedingte Schädigung des Zahnes 23 sei nicht ausgeschlossen, ein zweifelsfreier sicherer ursächlicher Zusammenhang könne jedoch nicht hergestellt werden Eine dokumentierte Schädigung sei lediglich für die Zähne 22 und 21 beschrieben (Stellungnahmen des Sachverständigen vom 26. April 2017 und vom 31. August 2017). Der Sachverständige Dr. N. hat in seinem Gutachten und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 8. Februar 2019 als unfallbedingte Diagnosen aufgeführt: Zahnverlust regio 21 bis 23 (durch Implantatprothetik wiederhergestellt), Taubheitsgefühl im Bereich der linken Oberlippe, des linken Nasenflügels bis zur linken Wange reichend sowie chronischer Schmerz im Bereich der linken Gesichtshälfte mit Überempfindlichkeit im Bereich des linken Oberkiefers regio 21 bis 23, insbesondere Triggerung der Schmerzen beim Abbeißen. Aufgrund der Versorgung der Zähne durch festsitzende Prothetik mit Funktionsausgleich und guter optischer Anpassung sei diesbezüglich keine MdE zuzuerkennen, bezüglich der chronischen Schmerzen sei von einer MdE in Höhe von 15 v. H. auszugehen.

Mit Urteil vom 14. November 2019 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Verlust des Zahnes 23 als weitere Unfallfolge anzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Eine Mundtrockenheit habe von keinem Gutachter objektiviert werden können. Eine Riechstörung sei nach Prof. Dr. J. schon nicht feststellbar, nach Dr. M. jedenfalls nicht kausal auf den Unfall zurückzuführen. Es fehle insoweit an dokumentierten Brückensymptomen im Zeitraum zwischen dem Unfallereignis und der erstmaligen Geltendmachung dieser Störung im Mai 2009. Das im Zusammenhang mit der geltend gemachten Schmeckstörung diskutierte SHT sei nicht im Vollbeweis gesichert. Die von Dr. P. 2012 und von Dr. M. 2015 festgestellten Frakturzeichen an der Stirn könnten wegen der fehlenden Dokumentation nicht auf das Unfallereignis zurückgeführt werden. Die von der Klägerin behauptete Mundtrockenheit habe von keinem Gutachter positiv festgestellt werden können. Die bestehenden Unfallfolgen, der Verlust der Zähne 21 bis 23, der daraus resultierende Knochenverlust im Bereich des linken Oberkiefers, die fortbestehenden chronischen Schmerzen mit Ausstrahlung in die linke Gesichtshälfte, die Taubheitsgefühle im Bereich der Oberlippe sowie Überempfindlichkeit der Haut des Nasenflügels rechtfertigten insgesamt nicht eine MdE in Höhe von 20 v.H. Für den Verlust der Zähne sei mit Dr. N., Prof. Dr. Dr. S. und Prof. Dr. Dr. R. überhaupt keine MdE zuzuerkennen, da durch die Prothetik ein vollständiger Funktionsausgleich erfolgt sei und die Implantate auch hinreichend festsitzen würden. Die chronischen Schmerzen einschließlich der Taubheit im Bereich der Oberlippe sowie der Überempfindlichkeit der Haut des Nasenflügels hätten Prof. Dr. Dr. S., Dr. M., Dr. N. und Prof. Dr. Dr. R. nachvollziehbar mit einer MdE in Höhe von 15 v. H. bewertet. Nach der unfallmedizinischen Literatur rechtfertige regelmäßig nur der Totalausfall von Nerven eine MdE von über 20 v. H. Bei partiell beschränkten und nur im Hautbereich betroffenen Schädigungen von Nerven halte das Gericht grundsätzlich eine MdE von 0 bis 10 v. H. für angemessen. Die von der Klägerin beschriebene Schmerzsymptomatik rechtfertige keine wesentliche Erhöhung der durch die Taubheitsgefühle und Missempfindungen begründeten MdE. Von einer außergewöhnlichen Schmerzsymptomatik könne nicht ausgegangen werden, zumal Dr. M. festgestellt habe, dass eine regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln nicht erfolge. Mit einer MdE in Höhe von insgesamt 15 v. H. seien die Funktionsstörungen daher zutreffend bewertet.

Gegen das ihr am 15. Januar 2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10. Februar 2020 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt eingelegt. Sie trägt vor, ihre Erstuntersuchung sei seinerzeit unzureichend gewesen und ihr eine Schnittbilduntersuchung des Schädels verweigert worden, und zwar sowohl am Unfalltag als auch am Folgetag durch die Durchgangsärzte, „die im Lager der Beklagten stehen“. Dies sei bei der Würdigung zu ihren Gunsten zu berücksichtigen. Eine Hämatombildung im Gesicht werde im Übrigen erst zu einem späteren Zeitpunkt nach dem Trauma sichtbar; so habe ihr behandelnder Zahnarzt Dr. G. zum Zeitpunkt seiner Untersuchung am 10. Januar 2008 über ein Oberlippenhämatom berichtet. Die Ausführungen des Dr. N. in dessen Stellungnahme vom 18. Februar bezüglich der Funktion der Zähne seien falsch. Aus dem Bildmaterial (Anlage zu dem Gutachten des Dr. N.) sei ersichtlich, dass zwischen dem nach Knochenabbau verbliebenen Zahnfleisch und künstlichem Zahnfleisch ein Spalt sichtbar sei; in diesen würden sich beim Kauvorgang Nahrungsreste einsetzen, die nach der Nahrungsaufnahme sorgfältig entfernt werden müssten, um Entzündungen zu verhindern. Sie habe auf Grund ihrer Sensibilitätsstörung im Bereich der linken Gesichtshälfte in ihrem Beruf als selbständige Veranstaltungsorganisatorin große Schwierigkeiten, denn sie könne an dem oft erwünschten „Voressen“ nicht teilnehmen wegen ihrer Schmerzen beim Abbeißen und ebenso nicht bei einer Verkostung von Getränken, da ihr die Getränke aus dem Mundwinkel herauslaufen würden. 

Die Klägerin beantragt, 
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. November 2019 abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 8. November 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2014 zu verurteilen, als weitere Unfallfolgen den Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns sowie eine Mundtrockenheit anzuerkennen und ihr für die Unfallfolgen insgesamt Rente nach einer MdE von mindestens 20 v.H. zu gewähren,
hilfsweise (wörtlich),
„Gelegenheit zur mündlichen Befragung der gerichtlich bestellten Sachverständigen
Dr. N., E-Straße, A-Stadt
Dr. U., F-Straße, F-Stadt
zu geben.
a) Die Gutachten Dr. N. v. 30.10 2018 und 08.02.2019 enthalten hinsichtlich der Feststellung der MdE keine eigenständige Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung zur Bewertung der bei der Klägerin unstreitig festgestellten Verletzungsbilder, insbesondere auch der Verletzung des nervus infraorbitalis.
Das Ergänzungsgutachten v.8.02.2019 ist im Übrigen nicht nachvollziehbar, wenn es einerseits die vollständige Rehabilitation der Verluste der Zähne 21 bis 23 konstatiert, andererseits das aktenkundige Attest der Zahnklinik Dr. Q. v. 21.09.2016 ausdrücklich bestätigt, das u.a.
feststellt: „Aufgrund der starken Schädigung des Kieferknochens durch das Trauma war eine vollständige prothetische und ästhetische Rehabilitation nicht möglich“. Zu dieser Widersprüchlichkeit in seinem Gutachten ist beabsichtigt, Dr. N. unter anderem zu befragen.
b) Bezüglich Dr. U. wiederhole ich den Antrag im Schriftsatz vom 26.05.2021. Das Gutachten enthält keine eigenständige, geschweige denn nachvollziehbare Bewertung der MdE. Diese möge mündlich unter Auseinandersetzung mit der zu den Verletzungsbildern bestehenden Literatur und Rechtsprechung erläutert werden. Insbesondere möge der Sachverständige darlegen, inwieweit er die Gutachten Dr. N. gerade auch im Hinblick auf die unter lit.a dargestellten Widersprüchlichkeiten für „nachvollziehbar“ erachtet.“

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen. 

Sie ist der Auffassung, die MdE für die bei der Klägerin vorliegenden Unfallfolgen sei nicht in rentenberechtigendem Maße gegeben. Nach den Sachverständigengutachten sei keine Schädigung eines Hauptastes des Nervus trigeminus nachgewiesen, sondern nur eine Schädigung eines Nebenastes. Die daraus resultierende Funktionseinschränkung sei von der Beklagten berücksichtigt und von den Sachverständigen zutreffend mit einer MdE von unter 20 v. H. bewertet worden.

Auf Antrag der Klägerin hat der Senat ein weiteres Gutachten von Dr. med. dent. U., Bestellter Sachverständiger der BZK-Koblenz, vom 3. April 2021 eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, die im Zusammenhang mit dem Unfall verlorenen Zähne in der Front seien wieder ordnungsgemäß und mit guter Prognose ersetzt. Dies stelle keine Gesundheitsstörung und Beeinträchtigung im eigentlichen Sinne mehr dar. Die Sensibilitätsstörung in der linken Gesichtshälfte der Klägerin betreffe das Ausbreitungsgebiet des Nervus infraorbitalis und könne als chronische Unfallfolge eingestuft werden. Hinsichtlich der Bewertung der MdE (in Höhe von 15 v. H.) hat sich Dr. U. den Vorgutachtern Dr. M. und Dr. N. angeschlossen.

Der Senat hat die Klägerin in einem Erörterungstermin vom 2. August 2022 persönlich angehört.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 7. Mai 2021 hat der Senat die Klägerin zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter angehört und mit Schreiben vom 22. September 2022 darauf hingewiesen, dass er an dieser Verfahrensweise festhalte. 

Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand sowie zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte (Band I und II) sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten (Band I, II und III) verwiesen, die zum Verfahren beigezogen worden sind.


Gründe

Der Senat konnte gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter entscheiden, da er die Berufung einstimmig für unbegründet hält. Die Beteiligten sind hierzu zuvor angehört worden. 

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das erstinstanzliche Urteil ist zu Recht ergangen. Die Klägerin hat auf Grund des anerkannten Arbeitsunfalls vom 3. Januar 2008 über die von der Beklagten mit Bescheid anerkannten Unfallfolgen und die mit Urteil des Sozialgerichts darüber hinaus festgestellte Unfallfolge (Verlust Zahn 23) keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Unfallfolgen sowie keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente. 

Der auf Feststellung von Unfallfolgen gerichtete Klageantrag (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) ist zusätzlich zu der auf Leistungen (Rente) gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig (BSG, Urteil vom 28. Juni 1984 – 2 RU 64/83 – juris; Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Auflage 2020, § 55 Rn 13). 

Der von der Klägerin im Antrag geltend gemachte Verlust des Geruchs- und Geschmacksinns sowie das Bestehen einer Mundtrockenheit sind nicht als Unfallfolgen festzustellen. Es handelt sich dabei nicht um länger andauernde, d.h. über die 26. Woche nach dem Ereignis hinaus anhaltende Gesundheitsstörungen (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung – SGB VII), die ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind (haftungsausfüllende Kausalität).

Gesundheitsstörungen müssen, um als Unfallfolge anerkannt zu werden, zunächst im Vollbeweis nachgewiesen sein, d.h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (stRsp, vgl nur BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 – B 2 U 8/20 R – juris). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Tatsache in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (§ 128 SGG; BSGE 103, 99, 104).

Das Bestehen einer Mundtrockenheit bzw. eines verminderten Speichelflusses ist nicht bewiesen. Wie schon das Sozialgericht in den Gründen zutreffend dargelegt hat, wird das Vorliegen einer solchen Störung von den im Verfahren gehörten Gutachtern Prof. Dr. Dr. S., Prof. Dr. J. und Dr. M. übereinstimmend verneint, Hinweise auf eine solche Störung finden sich auch nicht in der Behandlungsdokumentation des Dr. G.

Auch bezüglich des von der Klägerin geltend gemachten Verlusts des Geruchssinns ist nach Auffassung des Senats der Vollbeweis des vollständigen Verlustes nicht erbracht. 

Die Problematik bei der Feststellung dieser Diagnose liegt dabei darin, dass diese nahezu ausschließlich auf den subjektiven Angaben bei Riechprüfungen durch Verwendung von Riechstiften beruht (vgl Feldmann/Brusis, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 8. Auflage 2019, Seite 145). Das Vorliegen der Diagnose ist daher besonders kritisch zu prüfen (vgl dazu auch Feldmann/Brusis, aaO, Seite 452; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, Seite 211). Die Ergebnisse der Riechprüfungen sind hier bei den jeweiligen Untersuchungen durch die im Verfahren gehörten Ärzte sehr unterschiedlich und widersprüchlich ausgefallen. Der HNO-ärztliche Gutachter im Verwaltungsverfahren Prof. Dr. J. hat dazu ausgeführt, wegen der Untersuchungsergebnisse könne eine möglicherweise bestehende Riechstörung nicht beurteilt werden. Er sieht nachvollziehbar Hinweise auf Aggravation in dem Umstand, dass die Klägerin sowohl im Diskriminations- als auch im Identifikationstest eine auffallend niedrige Trefferzahl erreicht habe sowie dadurch, dass sie auch Riechstoffe mit Trigeminusreiz nicht wahrgenommen habe. Selbst bei einem vollständigen Ausfall des Riechvermögens hätte die Klägerin nach den Ausführungen des Gutachters über ein brennendes Gefühl in der Nase berichten müssen (Stellungnahme des Prof. Dr. J. vom 13. März 2013). Der HNO-Arzt Dr. P. hat in seinem Bericht vom 11. Januar 2012 einen „posttraumatisch bemerkten Riechverlust“ bei der Klägerin bestätigt, allerdings nur auf Grund der vagen Angabe, die Klägerin hätte alle vier Riechproben beidseits „schlecht erkannt“. Der HNO-ärztliche Sachverständige im Klageverfahren, Dr. M., geht auf Grund seiner Untersuchung und Riechprüfung davon aus, dass das Riechvermögen bei der Klägerin nicht völlig fehlt, aber eingeschränkt ist. Ein vollständiger Verlust ist nach den Ausführungen des Arztes nach einem Abriss der Riechfasern irreversibel. Die Klägerin habe die angebotenen Geruchsstoffe indes nach ihren Angaben teilweise wahrnehmen können; sie habe diese nur nicht richtig benennen können. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, auf den sich Dr. M. beruft, ist der vollständige traumatische Verlust des Geruchssinns (Anosmie) in 80-90% irreversibel. Bei dem seltenen teilweisen posttraumatischen Ausfall (Hyposmie) bildet sich die Störung in einem Drittel der Fälle im ersten Jahr nach dem Unfall zurück (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Seite 209; Feldmann/Brusis, aaO, Seite 449).

Geht man mit Dr. M. von der gesicherten Diagnose eines zumindest eingeschränkten Riechvermögens aus (dem der Sachverständige im Übrigen nur eine geringradige Erwerbsminderung beimisst), so handelt es sich hierbei nicht um eine Unfallfolge. Es fehlt der notwendige Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 3. Januar 2008 (haftungsausfüllende Kausalität).

Die Kausalitätsfeststellungen zwischen den einzelnen Gliedern des Arbeitsunfalls basieren auf der im gesetzlichen Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach geht es auf einer 1. Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d.h. - so die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - ob eine objektive Verursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 - B 2 U 9/11 R - juris). Auf dieser Stufe der Tatsachenfeststellungen ist zudem zu prüfen, ob mehrere versicherte und nicht versicherte Ursachen zusammen objektiv wirksam geworden sind, ggf. sind deren Mitwirkungsanteile festzustellen (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R – juris). Beweisrechtlich ist zudem zu beachten, dass ein möglicherweise aus mehreren Schritten bestehender Ursachenzusammenhang positiv festgestellt werden muss (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, aaO) und, dass die Anknüpfungstatsachen der Kausalkette im Vollbeweis vorliegen müssen (BSG, Beschluss vom 23. September 1997 - 2 BU 194/97 - Deppermann-Wöbbeking in: Thomann (Hrsg), Personenschäden und Unfallverletzungen, Referenz Verlag Frankfurt 2015, Seite 630). In einer 2. Stufe der Kausalitätsprüfung ist sodann die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die für den Erfolg rechtlich verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, aaO). Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für alle Kausalitätsbeziehungen im Bereich der Unfallversicherung der Maßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (vgl BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - juris).

Vorliegend fehlt es schon an dem naturwissenschaftlichen Zusammenhang (1. Prüfungsstufe). Die Riechstörung ist nicht hinreichend wahrscheinlich objektiv durch den Arbeitsunfall verursacht worden.

Für diese Feststellung stützt sich der Senat insbesondere auf die Ausführungen des HNO-ärztlichen Sachverständigen Dr. M. Der Sachverständige hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass hier schon kein geeignetes Trauma nachgewiesen ist, welches zu einem strukturellen Erstschaden geführt hat und mit dem die angenommene eingeschränkte Riechstörung erklärt werden kann. Nach wissenschaftlichem Erkenntnisstand setzt eine traumatisch bedingte Riechstörung meist ein in sagittaler Richtung, d.h. ein zur Pfeilnaht des Schädels liegendes stumpfes Schädeltrauma voraus, und zwar entweder (häufiger) durch Sturz auf den Hinterkopf oder von vorn auf die Stirn (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO; Feldmann/Brusis, aaO). Sowohl Dr. M. als auch der Vorgutachter Prof. Dr. J. haben folgerichtig auch darauf hingewiesen, dass der von der Klägerin geschilderte frontal einwirkende Schädelanprall grundsätzlich ein geeignetes Trauma sein könne. Diese Schilderung der Klägerin lässt sich indes nicht objektivieren. Ein solches Trauma geht meist mit einer frontobasalen Fraktur einher (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO; Feldmann/Brusis, aaO). Eine solche Fraktur bzw. ein Stirnschaden ist hier aber im Zusammenhang und zeitnah mit dem Unfall überhaupt nicht belegt. In den Erstbefunden finden sich keine Hinweise auf einen solchen Schaden, wie z.B. eine Stirnprellung als äußeres Verletzungszeichen. Darauf hat auch der Beratungsarzt Prof. Dr. Dr. R. nach Auswertung der Erstbefunde zutreffend hingewiesen (Stellungnahme vom 24. März 2011). Anhaltspunkte für äußere Verletzungen ergeben sich entgegen dem Vortrag der Klägerin auch nicht aus den Berichten und Behandlungsunterlagen des behandelnden Zahnarztes Dr. G. vom 10. Januar 2008. Dr. M. legt für den Senat überzeugend dar, dass auch die von Dr. P. im Januar 2012 erhobenen Befunde nicht für eine Fraktur als Unfallschaden bzw. Gesundheitserstschaden sprechen. Dr. P. hat in dem von ihm durchgeführten bildgebenden Verfahren (DVT-NNH) erstmals eine (alte) Fraktur der Stirnhöhlenvorderwand festgestellt. Dr. M. weist insoweit zutreffend darauf hin, dass in den drei Voruntersuchungen vor dem Befund des Dr. P. (DVT des Gesichtsschädels durch Prof. Dr. Dr. S. vom 21. Juli 2010, dem MRT des Kopfes vom 10. September 2010 und dem MRT von 2011) keine Knochenschädigungen an der Stirnhöhlenvorderwand dokumentiert sind. Gewichtiges Argument gegen einen Ursachenzusammenhang ist mit Dr. M. zudem die Tatsache, dass zeitnah zu dem Unfall oder zumindest in dem ersten Jahr nach dem Ereignis ein Riechverlust weder von der Klägerin geltend gemacht noch dokumentiert ist. So wird ein Riechverlust von der Klägerin erstmals gegenüber dem Gutachter Prof. Dr. Dr. S. im September 2010, also mehr als ein Jahr nach dem Unfall, geäußert, während das ihr vorgelegte private zahnärztliche/mund-, kiefer-, gesichtschirurgische Fachgutachten von Dr. Dr. L. vom 23. Dezember 2009 weder in der Anamnese noch in dem objektiven Befund Hinweise auf eine mögliche Riechstörung enthält. Im Übrigen können nach Dr. M. auch andere, unfallunabhängige Ursachen für die von ihm festgestellte eingeschränkte Riechstörung verantwortlich sein, wie z. B. Virusinfektionen. Auf die Feststellung alternativer Ursachen kommt es indes nicht an. Die Klägerin trägt die Feststellungs- und Beweislast für die von ihr vorgetragenen, ihren Anspruch stützenden Tatsachen, d. h. hier für die positive Feststellung des Kausalzusammenhangs. Dies gilt selbst dann, wenn – wie die Klägerin vorträgt – Erstuntersuchungen durch Verschulden der Beklagten nicht stattgefunden hätten; auch dies würde nicht zu der von ihr im Erörterungstermin geltend gemachten Beweislastumkehr führen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 1997 – 2 RU 38/96 – juris; Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 16. September 2021 – L 1 U 444/20 – juris). Der Senat hat für diesen Vortrag der Klägerin indes auch keinerlei Anhaltspunkte in den Akten.

Auch der im Antrag geltend gemachte Verlust des Geschmacks kann nicht als Unfallfolge festgestellt werden. Auch diesbezüglich ist der vollständige Ausfall nicht im Vollbeweis erbracht. Dr. M. weist darauf hin, dass die im Verfahren durchgeführten drei Prüfungen des Schmeckens durch Prof. Dr. J. 2010, Dr. P. 2012 und ihn selbst 2015 sehr unterschiedlich ausgefallen sind. In jedem Fall aber wäre eine solche Störung oder ein teilweiser Ausfall des Geschmackssinns, den Dr. M. annimmt, nicht hinreichend wahrscheinlich auf den Unfall zurückzuführen. Es fehlt auch hier an dem naturwissenschaftlichen Zusammenhang (1. Prüfungsstufe der Kausalität). Dr. M. hat ebenso wie der Vorgutachter Prof. Dr. J. und der Beratungsarzt Prof. Dr. Dr. R. darauf hingewiesen, dass es an einem strukturellen Erstschaden fehlt, der diese Störung als Anknüpfungstatsache vermitteln kann. Das Schmeckvermögen erfolgt durch drei verschiedene Nerven seitengetrennt (Nervus lingualis, Nervus fazialis, Nervus glossohpharyngeus), so dass nach den beiden HNO-ärztlichen Gutachtern für die erklärende Kausalität eines Ausfalls des Geschmackssinnes ein erhebliches SHT mit Schädigung der zentralen Anteile der genannten Nerven als Auslöser zu fordern ist. Wie Dr. M. zutreffend darlegt, ist weder eine Gehirnerschütterung oder ein Gedächtnisausfall dokumentiert noch war eine Veränderung der Gehirnstruktur in dem erstmals nach dem Unfall im Jahr 2010 durchgeführten MRT des Kopfes zu erkennen. Die im Verlauf des Nervus fazialis oberhalb der Geschmacksfasern angesiedelten Äste für die nervale Versorgung des Ohres sind nach der Untersuchung durch Dr. M. intakt. Die Stapedusreflexe des Nervus fazialis würden auf beiden Ohren funktionieren. Die beiden HNO-ärztlichen Gutachter überzeugen, denn sie stehen mit dem Postulat eines schweren SHT als Anknüpfung im Einklang mit dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Danach ist der isolierte vollständige Verlust des Geschmackssinns unwahrscheinlich, einem kombinierten Ausfall von Geruch und Geschmack geht immer ein schweres Trauma mit einer Kontusion (Prellung/Quetschung) des Gehirns und länger andauernder Bewusstlosigkeit voraus (Feldmann/Brusis, aaO, Seite 452; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Seite 211).

Die Klägerin hat auf Grund der bei ihr vorliegenden Unfallfolgen keinen Anspruch auf Rente nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Zutreffend hat das Sozialgericht festgestellt, dass die Voraussetzungen der Vorschrift nicht vorliegen, da die Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit nicht um wenigstens 20 v. H. mindern.

Gemäß § 56 Abs. 2 SGB VII richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteil vom 29. November 1956 – 2 RU 121/56BSGE 4, 147). Die Schadensbemessung erfolgt abstrakt, d.h. ohne konkrete Schadensfeststellung in Form eines tatsächlichen Minderverdienstes. Gleiche unfallbedingte Funktionseinschränkungen führen bei allen Versicherten grundsätzlich zur gleichen Höhe der MdE; bewertet werden dabei die unfallbedingten Funktionsdefizite und nicht Befunde und Erkrankungen (Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Auflage 2014, § 56 Rn 47, 49, 57). Die Bemessung des Grades der MdE ist eine tatsächliche Feststellung, die der Richter nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000 – B 2 U 49/99 R – juris) anhand der durch medizinische Sachverständigengutachten ermittelten Funktionsdefizite trifft (Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, § 56 Rn 58). Zur Einschätzung der MdE sind Erfahrungssätze zu beachten und anzuwenden. Dabei handelt es sich um von der Rechtsprechung und in den einschlägigen Fachkreisen, dem versicherungsrechtlichen sowie dem versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeitete Empfehlungen, die sich über einen gewissen Zeitraum gebildet und verfestigt haben und allgemeine Anerkennung und Akzeptanz bei Gutachtern, Versicherungsträgern und Gerichten sowie Betroffenen gefunden haben. Diesen Erfahrungssätzen kommt die Bedeutung eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu und sie bilden die Basis für einen Vorschlag des medizinischen Sachverständigen zur Höhe der MdE im Einzelfall (Deppermann-Wöbbeking, in: Thomann, Klaus-Dieter (Hrsg.), Personenschäden und Unfallverletzungen, S. 633; Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, § 56 Rn 58 ff). Diese Richtwerte schließen im Übrigen die üblicherweise mit körperlichen Funktionseinschränkungen einhergehenden Schmerzen mit ein (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 244).

Die durch den Unfall erlittenen Zahnschäden bedingen keine MdE. Festgestellt sind mit Bescheid der Beklagten der Verlust der Zähne 21, 22 nach Kontusion, Lockerung, nachfolgender Infektion und daraus resultierendem Knochenverlust. Das Sozialgericht hat, gestützt auf das Gutachten des Dr. N., den Verlust des Zahnes 23 ebenfalls als Folge des Unfalls nach Schädigung des umliegenden Knochens und Entzündung festgestellt. Durch die inzwischen erfolgte prothetische Versorgung durch Knochenaufbau und Implantation bestehen durch die Zahnverluste und Knochenverluste keine unfallbedingten Funktionsdefizite mehr. Schon Prof. Dr. Dr. S. hat bei seiner Untersuchung im September 2010 einen konservierend und prothetisch gut versorgten Zahnstatus mit guter Mundhygiene festgestellt. Die von dem Arzt durchgeführten bildgebenden Verfahren (ua eine digitale Volumentomographie des Gesichtsschädels) haben parodontologisch bzw periimplantär unauffällige Knochenstrukturen gezeigt ohne Entzündungszeichen. Dr. M. (Gutachten vom 24. April 2015) und Dr. N. (Gutachten vom 30. Oktober 2018) haben ebenfalls eine festsitzende Prothetik mit Funktionsausgleich und guter optischer Anpassung bestätigt, ebenso der zuletzt gehörte Sachverständig Dr. U. im April 2021. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist für die Bemessung der MdE durchaus von Bedeutung, ob eine Funktionseinschränkung der Zähne durch eine prothetische Versorgung ausgeglichen wird oder nicht. Es kann diesbezüglich nichts Anderes gelten als beim Linsenverlust an einem Auge, der nach der Sehschärfe bemessen wird, die nach einer Korrektur durch ein Linsenimplantat oder eine Kontaktlinse besteht (Schönberger/ Mehrtens/Valentin, aaO, Seite 312) oder bei der Versorgung des Hüftgelenks oder des Kniegelenks mit einer Endoprothese, die nach den Empfehlungen Einfluss auf die MdE hat (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Seite 625 bzw 686 f). Mit dem Verlust von Gliedmaßen lässt sich der Verlust der Zähne indes nicht vergleichen, so dass hier die in Rechtsprechung und Literatur geführte Diskussion, ob sich die prothetische Versorgung bei dem Verlust von Gliedmaßen auf die Höhe der MdE auswirkt (vgl zB LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 17. September 2014 – L 3 U 1/11 – juris), keine Rolle spielt. 

Die von der Beklagten als Unfallfolge anerkannten „chronischen Schmerzen im Bereich des Oberkiefers mit Ausstrahlung in die linke Gesichtshälfte, Taubheitsgefühl im Bereich der Oberlippe links, Überempfindlichkeit der Haut des Nasenflügels“ sind von dem Sozialgericht zutreffend mit einer MdE in Höhe von 15 v. H. bewertet worden. Prof. Dr. Dr. S., Dr. M., Dr. N. und zuletzt im Berufungsverfahren Dr. U. haben dargelegt, dass die von der Klägerin beschriebenen und bei ihren Untersuchungen objektivierten Taubheitsgefühle und die Überempfindlichkeit der linken Gesichtshälfte das Ausbreitungsgebiet des Nervus infraorbitalis betreffen, einen Nebenast bzw. Nervenanteil des Nervus trigeminus, der die Aufgabe hat, die Gesichtshaut des Menschen zu versorgen, und zuständig ist für die Weiterleitung aller dort aufgenommenen Reize wie Berührung, Schmerz oder das Temperaturempfinden. Die Beschreibungen der Klägerin decken sich, so zuletzt Dr. U., mit einer Schädigung des betreffenden Nervenanteils und den dadurch möglichen Funktionsstörungen und Schmerzempfinden. Abgesehen von dem hier betroffenen Nervenanteil bzw. Nebenast ist der Nervus trigeminus nicht geschädigt. Dr. M. hat insoweit und in Übereinstimmung mit den übrigen Gutachtern und Sachverständigen überzeugend darauf hingewiesen, dass eine Schädigung des Nervus trigeminus beim Test der Nervenleitgeschwindigkeit SSEP vom 25. Januar 2011 ausgeschlossen werden konnte. Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, sehen die Erfahrungssätze in der unfallmedizinischen Literatur nur bei einem vollständigen Ausfall des Nervs eine MdE in Höhe von 20 v. H. vor (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Seite 252). Bei einer nur teilweisen einseitigen Lähmung, die von den Ärzten nicht als kosmetisch störend beschrieben ist, sehen die Erfahrungswerte nur eine MdE von bis zu 10 v. H. vor (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Seiten 276, 338). Vorliegend ist bei der Bemessung zudem zu berücksichtigen - so zutreffend das Sozialgericht - dass nur Nervenschädigungen im Hautbereich betroffen sind. Auch die Sprachfunktion ist nach der Begutachtung des Dr. U. nicht eingeschränkt. Einschränkungen für die Klägerin ergeben sich damit nur durch die von Dr. U. für plausibel erachtete Druckempfindlichkeit der Kronen 21 und 22 (Schmerzen beim Abbeißen) sowie durch die von dem Arzt geschilderte Funktionsstörung durch die Gefühllosigkeit der linken Lippenzone (Beeinträchtigung der gezielten Einnahme von Getränken). Dafür hält der Senat ebenso wie die im Verfahren gehörten Ärzte und das Sozialgericht eine MdE von 15 v. H. für angemessen und ausreichend, denn diese Störungen sind nicht mit den Konsequenzen bei einem Totalausfall des Nervus trigeminus bzw. mit ausgeprägten Störungen oder Kontrakturen zu vergleichen, für die die Erfahrungswerte eine MdE von 20 v. H. vorsehen. Der Senat weist in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass für die Bemessung der MdE der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung gilt; es kommt daher nicht auf die bisherige Tätigkeit der Versicherten an, sondern auf die Fähigkeit, sich im allgemeinen, d. h. gesamten Erwerbsleben eine Lebensgrundlage in Form eines Erwerbs zu verschaffen.

Angesichts der umfassenden Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren hält der Senat den Sachverhalt für geklärt. Den Hilfsanträgen der Klägerin brauchte er nicht nachkommen. Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren erstmals beantragt hat, den Sachverständigen Dr. N. mündlich insbesondere zu der Verletzung des Nervus infraorbitalis zu befragen, steht dem Antrag entgegen, dass dieser nicht rechtzeitig erfolgt ist, denn der Sachverständige hat sein schriftliches Gutachten im Klageverfahren erstattet. Das Fragerecht im Termin besteht für die Beteiligten indes grundsätzlich nur hinsichtlich Gutachten, die in derselben Instanz erstattet wurden (Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, § 118 Rn 12g; BSG, Beschluss vom 12. Oktober 2018 – B 2 U 12/18 BH – juris mwN aus der Rspr). Soweit die Klägerin die mündliche Befragung des im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. U. beantragt, ist der Antrag objektiv nicht sachdienlich. Die Klägerin begehrt, der Sachverständige möge mündlich eine eigenständige, nachvollziehbare Bewertung der MdE erläutern. Wie oben ausgeführt, ist die Bemessung des Grades der MdE indes eine tatsächliche Feststellung, die der Richter nach freier, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnener Überzeugung trifft. Es handelt sich um eine Rechtstatsache, die letztendlich nicht dem Sachverständigen obliegt. Dieser beschreibt nur medizinisch die Funktionsdefizite, die sodann von dem Richter der Bemessung der MdE zugrunde gelegt werden. Im Übrigen hat Dr. U. ausdrücklich (wie auch schon die Vorgutachter) bestätigt, dass die Klägerin Funktionsstörungen durch eine Schädigung des Nervus infraorbitalis aufweist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung auf § 160 Abs. 2 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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