L 1 KR 395/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 224 KR 816/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 395/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. September 2020 wird zurückgewiesen. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Der Kläger wendet sich gegen die mit der Durchführung der freiwilligen Mitgliedschaft in der beklagten Krankenkasse seit 1. August 2015 bis 30. Juni 2021 verbundene Beitragszahlungspflicht.

 

Der 1950 geborene Kläger nahm am 1. April 1965 erstmalig eine Erwerbstätigkeit auf. Gesetzlich krankenversichert war der Kläger zuletzt in der Zeit vom 1. April 1991 bis zum 24. Januar 1992, vom 8. Februar 1992 bis zum 15. Februar 1992, vom 17. Februar 1992 bis zum 8. August 1992 sowie vom 10. August 1992 bis zum 30. November 1994 (jeweils bei der AOK), vom 1. März 2005 bis zum 31. Juli 2005 (bei der Barmer Ersatzkasse), vom 1. Oktober 2005 bis zum 15. Juni 2006 (BKK ATU) und vom 1. April 2007 bis zum 20. Oktober 2011 (BKK ATU und TK).

 

Am 20. Oktober 2011 stellte der Kläger einen Rentenantrag. Vom 21. Oktober 2011 bis 13. April 2012 war er Kläger Mitglied bei der Beklagten und vom 1. Mai 2012 bis 31. Juli 2015 dort familienversichert. Am 29. Oktober 2013 stellte der Kläger einen zweiten und am 5. Januar 2015 einen dritten Rentenantrag. Seit 1. August 2015 bezieht er Kläger eine Rente von der Deutschen Rentenversicherung Bund in Höhe von monatlich zunächst 644,87 €.

 

Mit Schreiben vom 26. August 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten zu 1) (nachfolgend nur noch: „die Beklagte“) die Aufrechterhaltung der Familienversicherung. Sofern dies nicht möglich sei, verzichte er auf eine Kranken- und Pflegeversicherung.

 

Mit Schreiben vom 23. Oktober 2015 informierte die Beklagte den Kläger über das Bestehen der freiwilligen Mitgliedschaft seit 1. August 2015. Mit Bescheid vom 27. Oktober 2015 setzte sie, auch im Namen der Beklagten zu 2), die Beiträge des Klägers zunächst anhand der jeweiligen Bemessungsgrenze fest. Dies änderte sie mit Bescheid vom 17. November 2015ab und bestimmte die Beiträge seit 1. August 2015 auf Grundlage der Mindestbeitragssätze. Unter dem 19. Dezember 2015 wurde der Kläger über einen Rückstand auf seinem Beitragskonto informiert. Gegen alle Bescheide bzw. Schreiben legte der Kläger Widerspruch ein.

 

Mit Bescheid vom 28. Dezember 2015 teilte die Beklagte dem Kläger die Beitragshöhe ab Januar 2016 mit.

 

Am 29. Januar 2016 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben auf Bescheidung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. November 2015 (Az. S 73 KR 156/16).

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2016 hat die Beklagte - auch im Namen der Beklagten zu 2) - die Widersprüche des Klägers gegen die Durchführung der freiwilligen Mitgliedschaft seit 1. August 2015 zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie u.a. angeführt, der Kläger sei nicht versicherungspflichtig in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) geworden, da er die entsprechenden Vorversicherungszeiten nicht erfülle. Nach dem Ende der Familienversicherung habe sich diese ab 1. August 2015 als freiwillige Mitgliedschaft fortgesetzt.

 

Am 17. März 2016 hat der Kläger Klage gegen die Beitragsbescheide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2016 erhoben. Das Verfahren ist zunächst unter dem Aktenzeichen S 143 KR 476/16 geführt worden.

 

Unter dem 29. April 2016hat der Kläger die Untätigkeitsklage vom 29. Januar 2016 (Az. 73 KR 156/16) für erledigt erklärt und mitgeteilt, er wolle das Klageverfahren gegen den Bescheid vom 17. November 2015 fortsetzen. Das Verfahren hat das Az. S 73 KR 816/16 erhalten. Das SG hat dieses Verfahren durch Beschluss vom 28. April 2017 mit dem Verfahren S 143 KR 476/16 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Aktenzeichen S 73 KR 816/16 (später S 224 KR 816/16) fortgeführt.

 

Mit Bescheiden vom 10. August 2016, 19. Oktober 2016, 3. Januar 2017, 17. August 2017, 21. Dezember 2017 und 9. Oktober 2018 sind dem Kläger jeweils geänderte Beitragshöhen mitgeteilt worden.

 

Nach Einholung von Auskünften u.a. beim Rentenversicherungsträger hat die Beklagte mit Bescheid vom 14. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2019einen Antrag des Klägers auf Aufnahme in die KVdR abgelehnt. Im Klageverfahren hiergegen (Az. S 198 KR 909/19) hat der Kläger bestätigt, die in diesem Bescheid aufgeführten Vorversicherungszeiten erfassten alle bei ihm anrechenbaren Zeiten. Diese Klage ist vom SG mit Urteil vom 2. August 2022 abgewiesen worden, auf das ergänzend verwiesen wird. Das Berufungsverfahren ist noch rechtshängig (Az. L 4 KR 324/22).

Weitere Beitragsbescheide der Beklagten sind am 19. Dezember 2018, 28. Februar 2019, 25. Juni 2019 und 7. Januar 2020 ergangen.

 

Der Kläger hat vorgetragen, er wolle nicht freiwillig versichert sein. Daher liege keine freiwillige Versicherung, sondern eine Zwangs- bzw. Pflichtversicherung vor. Denn er habe weder einen Antrag auf Aufnahme in eine freiwillige Versicherung unterschrieben noch einen Vertrag abgeschlossen. Damit finde auch § 240 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), der für die Beitragsermittlung freiwilliger Mitglieder gelte, keine Anwendung. Die Beiträge seien nicht aus der Mindestbemessungsgrenze, sondern aus dem Zahlbetrag der Rente zu ermitteln. Die Berechnung der Beiträge verstoße auch gegen Art. 14 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

 

Das SG hat die Klagen mit Urteil vom 10. September 2020 abgewiesen:

 

Die mit Schreiben vom 29. April 2016 von einer Untätigkeitsklage auf eine Anfechtungs- und Feststellungsklage umgestellte Klage sei wegen doppelter Rechtshängigkeit bereits nach § 202 S.1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz unzulässig.

Die am 17. März 2016 erhobene und zunächst unter dem Aktenzeichen S 243 KR 476/16 registrierte Klage sei unbegründet. Der Kläger sei seit 1. August 2015 freiwillig krankenversichert. Die Höhe der festgesetzten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung begegne keinen Bedenken.

 

Nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 S. Nr. 1 SGB V könnten der (freiwilligen) Versicherung Personen beitreten. Der Beitritt erfolge durch entsprechende Anzeige (§ 9 Abs. 2 SGB V) als einer empfangsbedürftigen Willenserklärung. Vorliegend habe der Kläger zu keinem Zeitpunkt eine solche Erklärung über den Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung abgegeben. Allerdings sei er gemäß § 188 Abs. 4 SGB V seit 1. August 2015 freiwillig krankenversichert. Nach dieser Norm setze sich für Personen, deren Versicherungspflicht oder Familienversicherung ende, die Versicherung mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Familienversicherung als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erkläre innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt. Der Austritt sei nur wirksam, wenn das Mitglied das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachweise. Satz 1 gelte nicht für Personen, deren Versicherungspflicht ende, wenn die übrigen Voraussetzungen für eine Familienversicherung erfüllt seien oder ein Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 2 SGB V bestehe, sofern im Anschluss daran das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen werde. Die Voraussetzungen des § 188 Abs. 4 SGB V lägen vor. Die Familienversicherung des Klägers habe aufgrund des Beginns des Rentenbezugs zum 31. Juli 2015 geendet, § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V. Ein wirksamer Austritt des Klägers liege nicht vor. Zwar habe der Kläger gegenüber der Beklagten wiederholt erklärt, kein freiwilliges Mitglied werden zu wollen. Er habe jedoch ebenso vorgetragen, über keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall zu verfügen. Dass der Kläger eine freiwillige Versicherung ablehne und die Versicherung selbst nicht als freiwillig empfinde, sei unerheblich. Denn die „freiwillige Versicherung" im Sinne des SGB V sei ein Rechtsbegriff bzw. rechtliches Konstrukt, das den im SGB V normierten Voraussetzungen folge.

 

Eine Versicherungspflicht in der KVdR, die eine freiwillige Mitgliedschaft ausschlösse (vgl. § 191 Abs. 1 Nr. 2 SGB V), sei nicht eingetreten. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V seien Personen versicherungspflichtig, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllten und diese Rente beantragt hätten, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder familienversichert gewesen seien. Der Kläger erfülle die in § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V vorausgesetzten Vorversicherungszeiten nicht. Dies gelte mit Blick auf alle drei Rentenanträge.

 

Hinsichtlich des Rentenantrags vom 20. Oktober 2011 erfülle der Kläger die gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erforderlichen Vorversicherungszeiten nicht. Ausgehend von einer Rahmenfrist vom 1. April 1965 (erstmalige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) bis zum 20. Oktober 2011 (Stellung des Rentenantrags) ergebe sich ein zeitlicher Umfang der Rahmenfrist von 46 Jahren, sechs Monaten und 20 Tagen. Die zweite Hälfte der Erwerbstätigkeit beginne am 11. Juli 1988. Die zu erfüllenden Vorversicherungszeiten betrügen 9/10 des Umfangs der zweiten Hälfte der Rahmenfrist, hier 20 Jahre, elf Monate und 16 Tage. Der Kläger sei in dieser zweiten Hälfte seines Erwerbslebens - berücksichtige man die Zeiten vom 1. April 1991 bis zum 24. Januar 1992 (AOK), vom 8. Februar 1992 bis zum 15. Februar 1992 (AOK), vom 17. Februar 1992 bis zum 8  August 1992 (AOK), vom 10. August 1992 bis zum 30. November 1994 (AOK), vom 1. März 2005 bis zum 31. Juli 2005 (Barmer GEK), vom 1. Oktober 2005 bis zum 15. Juni 2006 (BKK ATU) und vom 1. April 2007 bis zum 20. Oktober 2011 (BKK ATU und Beklagte zu 1) - lediglich neun Jahre, drei Monate und 20 Tage gesetzlich versichert gewesen. Hinsichtlich des Rentenantrags vom 29. Oktober 2013 erfülle der Kläger die gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erforderlichen Vorversicherungszeiten ebenfalls nicht. Ausgehend von einer Rahmenfrist vom 1. April 1965 bis zum 29. Oktober 2013, habe der Kläger in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums mindestens 21 Jahre, zehn Monate und 13 Tage in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied oder familienversichert gewesen sein müssen. Die zweite Hälfte beginne am 16. Juli 1989 und ende mit Stellung des Rentenantrags am 29. Oktober 2013. Der Kläger sei in der zweiten Hälfte seines Erwerbslebens, berücksichtige man die vorgenannten Zeiten der Krankenversicherung und zuletzt die Zeit vom 1. Mai 2012 bis zum 29. Oktober 2013 (bei der Barmer GEK), lediglich elf Jahre, drei Monate und zwölf Tage in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied oder familienversichert gewesen. Auch mit Blick auf den Rentenantrag vom 5. Januar 2015 lägen die gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erforderlichen Vorversicherungszeiten nicht vor. In dem Zeitraum vom 1. April 1965 bis zum 5. Januar 2015 (Rahmenfrist) müsste der Kläger in der zweiten Hälfte dieses Zeitraums mindestens neun Zehntel, im Fall des Klägers 22 Jahre, vier Monate und 25 Tage, in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied oder familienversichert gewesen sein. Die für die Prüfung der Vorversicherungszeit maßgebende zweite Hälfte der Rahmenfrist beginne am 19. Februar 1990 und ende mit Stellung des Rentenantrags am 5. Januar 2015. Der Kläger sei in dieser zweiten Hälfte seines Erwerbslebens, berücksichtige man die Zeiten vom 1 April 1991 bis zum 24. Januar 1992 (AOK), vom 8. Februar 1992 bis zum 15. Februar 1992 (AOK), vom 17. Februar 1992 bis zum 8. August 1992 (AOK), vom 10. August 1992 bis zum 30. November 1994 (AOK), vom 1. März 2005 bis zum 31. Juli 2005 (Barmer GEK), vom 1. Oktober 2005 bis zum 15. Juni 2006 (BKK ATU), vom 1. April 2007 bis zum 13. April 2012 (BKK ATU und Barmer GEK) und vom 1. Mai 2012 bis zum 5. Januar 2015 (Barmer GEK), indes lediglich zwölf Jahre, fünf Monate und 18 Tage in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied oder familienversichert gewesen.

 

Der Kläger sei auch nicht nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs versicherungspflichtig in der KVdR geworden. Denn die Voraussetzungen eines solchen Herstellungsanspruchs seien nicht erfüllt. Der Tatbestand dieses richterrechtlichen Rechtsinstituts setze eine Pflichtverletzung voraus, die dem zuständigen Sozialleistungsträger zuzurechnen sei. Dadurch müsse beim Berechtigten ein sozialrechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten sein. Durch Vornahme einer Amtshandlung des Trägers müsse ein Zustand hergestellt werden können, der bestünde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (Bezugnahme auf Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 22. März 2018 - B 5 RE 1/17 R). Vorliegend sei bereits eine den Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung nicht erkennbar. Zudem fehlte es - eine Pflichtverletzung unterstellt - an dem erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden.

 

Als freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sei der Kläger gemäß § 20 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) versicherungspflichtig in der sozialen Pflegeversicherung. Die Höhe der festgesetzten Beiträge sei nicht zu beanstanden. Die Höhe der Beiträge richte sich bei freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten nach § 240 SGB V, der über § 57 Abs. 4 S. 1 SGB XI für die Berechnung der Beiträge zur Pflegeversicherung entsprechend gelte. Danach werde die Beitragsbemessung für freiwillige Mitglieder einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt. Dabei sei sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitgliedes berücksichtigte (Abs. 1). Es müssten mindestens die Einnahmen des freiwilligen Mitgliedes berücksichtigt werden, die bei einem vergleichbaren versicherungspflichtigen Beschäftigten der Beitragsbemessung zugrunde zu legen sind (Abs. 2 S. 1). Es begegne insbesondere keinen Bedenken, dass die Beklagte die Beitragsbemessung an der für freiwillig Versicherte geltenden Mindestbeitragsbemessungsgrundlage und nicht an der darunterliegenden, niedrigeren Rente des Klägers ausgerichtet habe. Denn nach § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V gelte eine allgemeine Mindestbeitragsbemessungsgrundlage, wonach als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der neunzigste Teil der monatlichen Bezugsgröße (§ 18 Sozialgesetzbuch Viertes Buch) gelte. Die Berechnung der Beiträge verstoße auch nicht gegen Art. 14 Abs. 1 EMRK.

 

Am 16. September 2020 haben die Beklagten einen Beitragsbescheid für die Zeit ab August 2020 erlassen.

 

Gegen die am 28. September 2020 zugestellte Entscheidung des SG richtet sich die Berufung des Klägers vom 9. Oktober 2020. Zu deren Begründung wiederholt der Kläger sein Vorbringen. Ergänzend führt er aus, nach § 188 Abs. 3 SGB V sei der Beitritt (zur freiwilligen Mitgliedschaft) in Textform zu erklären. Dies habe er jedoch nicht getan. Die Voraussetzungen des § 188 Abs. 4 SGB V seien nicht erfüllt. Die Freiwilligkeit könne nicht dadurch fingiert werden, dass die Versicherungspflicht oder die Familienversicherung ende. Er könne nicht unter ein freiwilliges Mitglied subsumiert werden. Durch die Behandlung der Beklagten fühle er sich diskriminiert. Ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 EMRK liege vor. Im Gegensatz zu Versicherten in der KVdR, deren Beitragshöhe nur aus dem Zahlbetrag der Rente errechnet werde, seien die Beiträge für Versicherte, die nicht in dieser Versicherung seien, aufgrund der fiktiven Mindestbeitragsbemessungsgrenze entscheidend höher. Ihm sei im Jahre 2007 die sogenannte 9/10-Regelung überhaupt nicht bekannt gewesen. Er sei hierüber nicht informiert worden. Er müsse mehr als 25 % des Zahlbetrags seiner Rente im Monat als Beitrag zahlen. In der Krankenversicherung der Rentner wären dies nur 15 %. Das Verfahren sei dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 2 GG vorzulegen.

 

Unter dem 21. Dezember 2020 ist ein weiterer Beitragsbescheid für die Zeit ab 1. Januar 2021 ergangen.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. September 2020 und die Bescheide vom 23. Oktober 2015, 27. Oktober 2015, 17. November 2015, 19. Dezember 2015 und 28. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2016 sowie die Bescheide vom 10. August 2016, 19. Oktober 2016, 3. Januar 2017, 17. August 2017, 21. Dezember 2017, 9. Oktober 2018, 19. Dezember 2018, 28. Februar 2019, 25. Juni 2019, 7. Januar 2020, 16. September 2020 und 21. Dezember 2020 aufzuheben sowie

 

1. festzustellen, dass der Kläger seit 1. August 2015 kein freiwilliges Mitglied der Beklagten ist,

 

2. ferner festzustellen, dass der Kläger nicht unter die Regelung des § 240 SGB V fällt, seine Beitragsberechnung nicht von den Beklagten festgelegt wird sowie seine Beiträge aus dem Zahlbetrag der Rente zu ermitteln sind,

 

hilfsweise die Vorlage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

 

Die Beklagten beantragen,

 

die Berufung zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.

 

Sie halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

 

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten zu dem Aktenzeichen S 198 KR 909/19 - L 4 R 324/22 nebst Verwaltungsakte Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Berufung bleibt der Erfolg versagt.

 

Gegenstand der Berufung sind neben der erstinstanzlichen Entscheidung die Beitragsbescheide der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2016 sowie alle danach ergangenen, die Beitragspflicht festsetzenden Bescheide der Beklagten. Dies ergibt sich aus § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG.

 

Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Damit scheiden auch gegenteilige Feststellungen aus.

 

Das SG hat im angegriffenen Urteil ausführlich erläutert, weshalb der Kläger seit dem 1. August 2015 von Gesetzes wegen, also ohne einen schriftlichen Antrag, freiwillig krankenversichert ist. An das Ende der Familienversicherung hat sich keine Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 SGB V angeschlossen. Das SG hat bereits detailliert dargelegt, weshalb insbesondere keine Pflichtmitgliedschaft in der KVdR nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V begründet wurde. Auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Urteil wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG wird verwiesen. Gleichfalls hat das SG den Vortrag des Klägers gewürdigt, die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in die KVdR nicht gekannt zu haben, indem es ausgeführt hat, weshalb ein sogenannter sozialrechtlicher Herstellungsanspruch nicht besteht.

 

Auch der Senat hält die vom SG angewendeten Vorschriften für verfassungsgemäß. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vor, auch nicht im Lichte des Art. 14 EMRK betrachtet. So ist § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V hinsichtlich der erforderlichen 9/10-Belegung in der zweiten Hälfte der Rahmenfrist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt dieses Grundrecht nur dann, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Urteil vom 12.02.2003 - 1 BvR 624/01 - BVerfGE 107, 205, 213 f. mit weiteren Nachweisen). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er allerdings grundsätzlich berechtigt, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen (BVerfG, Beschluss vom 22.05.2001 - 1 BvL 4/96 - BVerfG 103, 392, 402 mit weiteren Nachweisen). Der Gesetzgeber darf deshalb bei der der der KVdR zugrunde liegenden, verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässigen Systemabgrenzung der gesetzlichen Krankenversicherung nach der Zugehörigkeit während des Berufslebens generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen Art 3 Abs. 1 GG zu verstoßen (BSG, Urteil vom 4. Juni 2009 – B 12 KR 26/07 R –, BSGE 103, 235-243, juris Rn. 19 mit weiterem Nachweis). Hinsichtlich des Erfordernisses der sog. Halbbelegung hat das BVerfG auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 14 GG keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben (so bereits Beschluss des Senats vom 22. März 2011 – L 1 KR 353/09 – juris Rn. 28 unter Bezugnahme auf Hessisches LSG, Urteil vom 21.10.2004 – L 1 KR 737/03 - juris Rn. 20 mit Bezug auf die BVerfGE 69, 272 sowie BVerfGE 72, 84).

 

Auch hat der hiesige Senat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge zur KVdR und der zur freiwilligen Versicherung immer mehr angleichen. Die Beitragspflicht der Rentner ist fortlaufend erhöht worden (vgl. Urt. d. Senats vom 07.11.2008 –L 1 R 1351/06- zum Zusatzbeitrag der Rentenbezieher ab 1. Juli 2005 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 18.07.2007 – B 12 R 21/06 R –; zur vollen Heranziehung von Versorgungsbezügen Urteil des Senats vom 26.10.2007 –L 1 KR 496/06 - unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 10. Mai 2006 - B 12 KR 7/05 R -). Der Gesetzgeber ist nämlich von Verfassungs wegen berechtigt, jüngere Krankenversicherte von der Finanzierung des höheren Aufwands für die Rentner zu entlasten und die Rentner entsprechend ihrem Einkommen verstärkt zur Finanzierung heranzuziehen (Beschluss des Senats, a.a.O. Rn. 31 mit Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 07.04.2008 - 1 BvR 1924/07 -).

 

Zuletzt führt auch der Umstand, dass der Kläger nach seinen Angaben ca. 25 % seiner Rente für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge aufbringen muss, nicht zu einem anderen Ergebnis. Als Folge der Fiktion von Mindesteinnahmen nach § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V müssen die Krankenkassen Beiträge von Mitgliedern erheben, auch wenn bei ihnen Einnahmen nicht oder nicht in dieser Höhe vorhanden sind. Dies trägt dem Versicherungsprinzip Rechnung: Auch wer keine oder nur geringe Einnahmen hat, soll gewisse Beiträge entrichten und nicht beitragsfrei krankenversichert sein. Im Bedarfsfall muss er Hilfen von Sozialleistungsträgern (§ 41 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB XII>; §§ 42 Nr. 2 i.V.m. 32 Abs. 2 Nr. 5 SGB XII) in Anspruch nehmen (vgl. Beck in: Kasseler Kommentar, Stand: 01.03.2022, SGB V § 240 Rn. 56).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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