S 16 SB 199/17

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 16 SB 199/17
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 SB 47/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 30/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

1.    Die Klage wird abgewiesen.

2.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grads der Behinderung (GdB) sowie die Entziehung des Merkzeichens aG. 

Durch Bescheid vom 18.9.2014 hatte der Beklagte bei dem 2012 geborenen Kläger einen GdB von 100 und die Merkzeichen G, B, aG und H festgestellt für die Behinderung „Trisomie 21“. Der GdB wurde insbesondere im Hinblick auf die ausgeprägte Muskelhypotonie begründet, dass Kind konnte seinerzeit noch nicht frei Stehen und Gehen.

Im August 2016 leitete der Beklagte eine Nachuntersuchung von Amts wegen ein, zur Akte gelangten Arztbriefe des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 23.10.2015 und 29.07.2016, außerdem ein Arztbrief des Mutter-Kind-Kurheims F. in C-Stadt vom 18.09.2016 sowie der Befundbericht der Augenärzte vom 25.11.2016.
Mit Schreiben vom 01.02.2017 hörte der Beklagte den Kläger an zur Herabsetzung des GdB auf 80 sowie Entziehung des Merkzeichens aG wegen wesentlicher Besserung.

Durch Bescheid vom 06.03.2017 setzte der Beklagte den GdB auf 80 herab und erkannte weiterhin die Merkzeichen G, B und H an, dass Merkzeichen aG wurde mit Wirkung ab 01.04.2017 entzogen.
Als Behinderungen wurden anerkannt
•    Down-Syndrom (Einzel-GdB 70)
•    Sehbehinderung (Einzel-GdB 20).

Der Kläger legte hiergegen fristgerecht Widerspruch ein und begehrte weiterhin einen GdB von 100 sowie auch weiter die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Es bestehe weiterhin eine deutliche Sprachentwicklungsverzögerung und erhebliche Entwicklungsrückstände, so dass er als 5-jähriger Junge im Kindergarten eine Gruppe für 3-jährige besuche. Er sei außerdem lediglich in der Lage, eine Wegstrecke von 20 Schritten zu bewältigen. Das Laufen und Rennen sei nach wie vor wackelig. Charakteristisch für die Erkrankung sei die rasche Ermüdung im Vergleich zu gesunden Kindern, so dass er dann nicht mehr in der Lage sei, sich weiter fortzubewegen. Damit eine kindgerechte Teilhabe und Integration gewährleistet werden könne, werde er bei Ausflügen und Spaziergängen mit dem Kinderwagen transportiert. Er könne lediglich wenige Schritte eigenständig zurücklegen. Beigefügt waren Bescheinigungen des Kindergartens vom 04.05.2017 sowie der Kinderärzte vom 09.05.2017, wonach der Kläger bei Ausflügen mit dem Kinderwagen gefahren werden müsse.

Durch Widerspruchsbescheid vom 31.07.2017 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Der Kläger hat hiergegen am 18.08.2017 vor dem Sozialgericht Gießen Klage erhoben.

Der Kläger vertritt die Auffassung, die behaupteten Entwicklungsfortschritte seien nicht derart erheblich, dass eine Herabsetzung des GdB bzw. die Entziehung des Merkzeichens aG gerechtfertigt sei. Nach wie vor sei keine zielgerichtete Fortbewegung möglich und es bestehe auch unverändert eine deutliche Limitierung der Wegstrecke.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 06.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.07.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm auch weiterhin einen GdB von 100 einschließlich des Merkzeichens aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die getroffenen Feststellungen für zutreffend.

Der Kläger hat einen Arztbrief des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 05.10.2017, eine Bescheinigung der Kinderärzte vom 20.11.2017 und eine Bescheinigung des Kindergartens vom 21.11.2017 vorgelegt.

Hierzu hat der Beklagte eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 24.01.2018 vorgelegt, sowie auf richterliche Nachfrage bzgl. aG wegen eventueller Weglauftendenz eine weitere Stellungnahme vom 06.04.2018.

Der Kläger hat schließlich noch eine Bescheinigung der Kinderklinik vom 20.06.2018 vorgelegt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Augenscheineinnahme. Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte sowie die Schwerbehindertenakte des Klägers bei dem Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, da sie insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben wurde. 

Die Klage ist jedoch nicht begründet.

Die Feststellungen des Beklagten sind nicht zu beanstanden, denn sie sind nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 80 sowie die weitere Anerkennung des Nachteilsausgleichs aG, weil in den gesundheitlichen Verhältnissen eine wesentliche Besserung gegenüber der Situation im Bescheid vom 18.09.2014 eingetreten ist.

Gemäß § 152 Abs. 1 des SGB IX in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG / früher § 69 Abs. 1 SGB IX) stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auch die hierzu erforderlichen Feststellungen (§ 152 Abs. 4 SGB IX/BTHG-Fassung).
Für den Grad der Behinderung wie auch bezüglich der Feststellung von Nachteilsausgleichen galten bisher die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäben entsprechend. Im Interesse möglichst einheitlicher Bewertungen war dabei für die Beurteilung des GdB regelmäßig von den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP), herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auszugehen.

Seit Inkrafttreten der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizinverordnung   VersMedV, vgl. BGBl. I 2008, S. 2412 ff.) zum 01.01.2009 werden die Grundsätze für die medizinische Bewertung von Gesundheitsstörungen und der Feststellung des Grads der Behinderung als Anlage zu § 2 der VersMedV (http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/versmedv/gesamt.pdf) in verfassungsrechtlich nicht mehr zu beanstandender Weise im Wege einer Verordnung geregelt. 

Haben die oben genannten Behörden schon Feststellungen nach § 152 Abs. 1 des SGB IX getroffen, so ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - 10. Buch - SGB X der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung auf Antrag oder von Amts wegen mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. 
Eine wesentliche Änderung liegt nur vor, wenn der veränderte Gesundheitszustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Änderung des GdB wenigstens 10 beträgt oder etwa die Voraussetzungen für ein Merkzeichen neu festzustellen oder weggefallen sind (vgl. Anlage zu § 2 VersMedV Teil A Kap. 7).

I.

Zutreffend ist der Beklagte bei dem Kläger von einer wesentlichen Änderung im Sinne einer Besserung in den gesundheitlichen Verhältnissen ausgegangen, welcher nunmehr insgesamt nur noch einen GdB von 80 bedingt.

Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind als GdB nach 10er Graden, abgestuft von 20 bis 100, festzustellen (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX).

Nach diesen Kriterien und den Vorgaben der VersMedV sind die GdB-Feststellungen des Beklagten nicht zu beanstanden, denn dieser hat die bei dem Kläger zu berücksichtigenden Einzelbehinderungen korrekt bewertet und auch die Feststellung des Gesamt-GdB mit 80 ist nicht zu beanstanden.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hier zunächst auf die zutreffende Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des Beklagten vom 24.01.2018 Bezug genommen. Diese stellt zur Überzeugung des Gerichts den Sach- und Rechtsstand schlüssig dar, die Bewertungen der einzelnen Behinderungen sind begründet und entsprechen den Kriterien der VersMedV.

Bestätigt wird diese Einschätzung insbesondere durch die im Verfahren zur Akte gelangten Befundberichte, so der Arztbrief des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 5.10.2017, in dem es heißt: „A. könnte nächstes Jahr in die Schule, die Eltern möchten ihn jedoch zurückstellen. Er besucht einen normalen Kindergarten, ist dort auf einem Integrationsplatz gut versorgt. Er spielt im Kindergarten schön, zuhause aber kaum. Dort brauche er mehr Beschäftigung. Er spiele mit seinen 4 und 10 Jahre alten Schwestern. Vor allem mit seiner jüngeren Schwester verbinde er sich sehr. Er sage momentan zu allem „nein". A. gehe immer seine eigenen Wege, was den Umgang mit dem Jungen sehr schwierig macht. Er ist seit einem Jahr tagsüber sauber, nachts benötige er noch Windeln. Er zieht sich mit Hilfe alleine an und aus. (…) A. hat sensomotorische Einlagen, die er aber nicht in die Hausschuhe wechselt. Im Moment bekommt er noch zusätzlich Betreuung über eine Sportstudentin, die Wassergewöhnung mit ihm macht.“

Dieser derzeitige Entwicklungsstand des Klägers ist nach der VersMedV Teil B Kap. 3.4 vom Beklagten zutreffend mit einem Einzel-GdB von 70 bewertet worden. 
Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund einer Trisomie 21 sind geprägt von einem sehr breiten Spektrum von Einschränkungen, so dass keine pauschale GdB-Bewertung anhand eines fixen Wertes allein aufgrund der Diagnose erfolgen kann. Es ist daher insgesamt und einzelfallbezogen auf das Ausmaß der globalen Entwicklungsstörungen (Einschränkungen in den Bereichen Sprache und Kommunikation, Wahrnehmung und Spielverhalten, Motorik, Selbständigkeit und soziale Integration (Kap. 3.4.1), auf die Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit sowie auf das Ausmaß der sozialen Anpassungsstörungen im Sinne von Verhaltens- und emotionalen Störungen (Kap. 3.5) abzustellen.

Der hier zugrunde gelegte Wert von 70 entspricht sog. „starken globalen Entwicklungsstörungen“, ein GdB von 80 bis 100 wäre „schweren Auswirkungen“ mit einem Entwicklungsquotienten von 50 und weniger vorbehalten. Bezogen auf die allgemeine Bildbarkeit beschreibt ein GdB-Rahmen von 50 bis 70 den Zustand, wenn während des Schulbesuchs die Störungen so stark ausgeprägt sind, dass mit einem Schulversagen zu rechnen ist bzw. der behinderte Mensch wegen seiner Behinderung trotz Fördermöglichkeiten nicht in der Lage ist, sich auch unter Nutzung der Sonderregelungen für behinderte Menschen beruflich zu qualifizieren. Bezogen auf tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Kap. 3.5.1) bedeutet ein GdB von 50 bis 70 sog. „mittlere Anpassungsschwierigkeiten“, welche dann vorliegen, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (z.B. einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist, wobei der Wert von 70 dann einer 1:1 Betreuung entspricht. Ein GdB- Rahmen von 80 bis 100 würde schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten erfordern, welche von der VersMedV so definiert werden, dass eine Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.

Letztere Situation ist bei dem Kläger nicht gegeben. Dieser ist in der Lage, mit Integrationshelfer beschult zu werden, auch im persönlichen Eindruck war er zu sozialer Kontaktaufnahme und Kommunikation in der Lage, ein massiver Entwicklungsrückstand, wie noch zu der dem Bescheid vom 18.09.2014 zugrundeliegende Zeit beschrieben wurde, war nicht mehr erkennbar. Ein höherer GdB als 70 für die Behinderung Trisomie 21 ist daher nicht begründbar.

Unter Heranziehung der Bewertungskriterien der VersMedV Teil B, Kap. 4.3 ist bei einem korrigierten Visus von 0,4 für das rechte und 0,3 für das linke Auge ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist somit von folgenden Einzel-Werten auszugehen: 
•    Trisomie 21/Down-Syndrom (Einzel-GdB 70)
•    Sehbehinderung (Einzel-GdB 20).

Integrierend ist der vom Beklagten festgestellte Gesamt- GdB von 80 daher korrekt, denn § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R).
Hier ist, auch in Ansehung der Tatsache, dass der Kläger durch seine Behinderungen weiterhin erheblich in der Teilhabe beeinträchtigt ist und entsprechender umfänglicher Förderung bedarf, ein GdB von 100 keinesfalls mehr gerechtfertigt, da dies die absolute Obergrenze der Bemessung der Teilhabeeinschränkungen darstellen würde, die vom Kläger aufgrund seiner positiven Entwicklung zur Überzeugung des Gerichts nicht mehr erreicht wird.

II.

Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens aG erfüllt der Kläger nach den vorliegenden Befunden nicht mehr, so dass insoweit eine wesentliche Änderung gegenüber dem Bescheid vom 19.08.2014 eingetreten ist, welcher die Entziehung dieses Nachteilsausgleichs rechtfertigt.

Die Kriterien, unter denen der Nachteilsausgleich aG festgestellt werden kann, ergeben sich nach dem Erlass des Bundesteilhabegesetzes (BGBl. I 2016, S. 3234 ff.) für den Zeitraum ab 01.01.2018 aus der ab diesem Zeitpunkt geltenden Fassung des § 229 Abs. 3 SGB IX (BGBl. I 2016, S. 3303), welcher lautet:
„Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen - aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt.“
Damit hat der Gesetzgeber sich nunmehr für die Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung an der Frage der Teilhabebeeinträchtigung orientiert und alle relevanten Funktionsstörungen auf allen medizinischen Fachgebieten sowie auch Kombinationen von Beeinträchtigungen erfasst. Er hat sich damit aber nicht grundsätzlich von den in der Rechtsprechung entwickelten strengen Bewertungsmaßstäben entfernt (vgl. HLSG, Beschluss vom 23. Juni 2017 - L 3 SB 138/16).

Unstreitig gehört der Kläger bei allein auf sein physisch mögliches Gehen reduzierter Sichtweise nicht mehr zu dem vorstehend beschriebenen Personenkreis, denn er hat gegenüber der dem Bescheid vom 18.09.2014 zugrundeliegenden Situation muskulär und seine Motorik betreffend erfreuliche Fortschritte gemacht.
Bestand seinerzeit noch eine ausgeprägte Muskelhypotonie, er war mit 2 Jahren noch nicht in der Lage zu krabbeln bzw. zu stehen oder zu gehen, so heißt es bereits in den Arztbriefen des Zentrums für Kinderheilkunde des UKGM Gießen vom 23.10.2015 und 29.07.2016, dass das Laufen und Rennen nach wie vor wackelig sei, er laufe aber überall frei. A. schaffe aber keine wirkliche Strecke zu gehen. Ein Spaziergang mit ihm oder ein Gang in die Stadt seien nicht möglich, auch mit dem Kindergarten schaffe er keine Spaziergänge mit durchzuhalten.
Danach ist es dem Kläger aufgrund seiner physischen Konstitution mittlerweile möglich, zumindest kurze Strecken – und nur darauf kommt es bei dem Nachteilsausgleich aG an – ohne unzumutbare körperliche Belastung zurückzulegen.

Der Kläger ist jedoch auch nicht aufgrund seiner mentalen Beeinträchtigung im Sinne eines Down-Syndroms dem aG-berechtigten Personenkreis gleichzustellen, denn er ist zur Überzeugung des Gerichts inzwischen nicht mehr dauerhaft außerstande, selbständig zielgerichtet – gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme einer Begleitperson – eine bestimmte kurze Strecke zurückzulegen.

Schon das BSG hatte im Urteil vom 13.12.1994, Az. 9 RVs 3/94 noch zu den bisher geltenden Vorschriften ausgeführt, dass zwar weder Orientierungsstörungen noch zeitweise Anfälle den Anspruch auf aG begründen könnten, es für die Frage der allgemeinen Vergleichbarkeit aber entscheidend darauf ankomme, dass die Auswirkungen der Behinderung funktionell dem beschriebenen Personenkreis gleich zu achten seien. Der Leidenszustand müsse ebenfalls wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken.
Dies sei etwa dann der Fall, wenn sich die mit der Behinderung verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren dahingehend auswirken, dass der behinderte Mensch im innerstädtischen Fußgängerverkehr auch durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden kann. Ein solcher Zustand wäre etwa erreicht, wenn eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten wegen der Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl bewegen würde (vgl. BSG, Urteil vom 29. Januar 1992 - 9a RVs 4/90).

Auch das LSG NRW hat mit Urteil vom 25.08.2005, Az. L 7 SB 176/04 diese Parallele gezogen und für das Merkzeichen aG bei fehlender funktioneller Einschränkung des Gehvermögens bezüglich ständig aufsichtsbedürftiger Personen gefordert, dass sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr von einer Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden können. Ein solcher Zustand sei noch nicht erreicht, wenn der Behinderte wegen der Beeinträchtigung seines Orientierungsvermögens und seines unkontrollierbaren Bewegungsdranges der Führung durch eine Begleitperson bedarf. Hinzukommen müsse eine so starke Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter aufgrund der Auswirkungen der Behinderung, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr dauerhaft nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde (siehe auch BAG Urteil vom 29.01.1992, 9 a/9 RVs 4/90; Urteil vom 22.04.1998, B 9 SB 7/97 R; Bayerisches LSG, Urteil vom 18.03.2003, L 15 SB 77/00). 

Schließlich hat das LSG Berlin Brandenburg mit Beschluss vom 15.10.2013, Az. L 11 SB 207/13 B PKH ebenfalls unter Bezug auf die Rechtsprechung des BSG ausgeführt, auch ständig aufsichtsbedürftige Personen könnten dem in der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO im einzelnen angesprochenen Personenkreis erst dann gleichgestellt werden, wenn sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson dauerhaft nicht mehr sicher geführt werden können.

In allen diesen Entscheidungen, zuletzt z.B. auch im Urteil des LSH Hamburg vom 14.05.2019, Az. L 3 SB 22/17 wurde darauf abgestellt, dass es sich bei dieser massiven mentalen Einschränkung nicht um eine nur phasenweise auftretende Einschränkung des Gehvermögens handeln dürfe, sondern dass dieser Zustand der Rollstuhlpflichtigkeit dauerhaft vorliegen müsse.

Nach dieser Rechtsprechung, der sich das Gericht vollumfänglich anschließt, sind bei dem Kläger die Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht gegeben, denn zur Überzeugung der Kammer ist bei diesem aufgrund seiner mentalen Behinderung nicht davon auszugehen, dass die Begleitperson jederzeit damit rechnen muss, dass er sich losreißt, von dieser weglaufen möchte oder in impulsiven/aggressiven Ausbrüchen gegen die Begleitperson oder Dritte losgehen könnte. 

Der Kläger ist bei der Augenscheinseinnahme durch das Gericht frei und ohne Unterstützung eine bestimmte Strecke gelaufen, auch der Rückweg gestaltete sich problemlos. Beim Verlassen des Sitzungssaales lief der Kläger ebenfalls wieder frei und ohne dass diese Fortbewegung durch massive Abwehrreaktionen etc. beeinträchtigt wurde.

Das Gericht glaubt dem Vater des Klägers durchaus dessen Vortrag, dass die „üblichen“ Strecken z.B. von der Schule nach Hause mit dem Kind oft mühsam sind, gerade wenn der Kläger eine bestimmte Strecke nicht zurücklegen möchte. Eine andauernde Einschränkung, welche die in vorstehender Rechtsprechung dargestellte ausnahmsweise Gleichstellung des Klägers mit dem aG-berechtigten Personenkreis rechtfertigen könnte, kann das Gericht aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger aber nicht erkennen. Der Kläger vermittelte vielmehr den Eindruck, bei entsprechender Motivierung durchaus zu bestimmtem, gewünschtem Verhalten bereit zu sein.

Der weiteren Vernehmung der benannten Integrationshelfer bedurfte es aufgrund der Augenscheineinnahme nicht.

Der Klage war daher abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.

Rechtskraft
Aus
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