L 8 BA 62/21 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Betriebsprüfungen
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 39 BA 230/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 BA 62/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.4.2021 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der beim Sozialgericht Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 1 BA 231/18 anhängigen Klage gegen den Bescheid vom 25.5.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.9.2018 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 3.061,64 Euro festgesetzt.

 

Gründe:

 

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 14.4.2021 ist begründet. Auf ihren Antrag vom 17.9.2018  ist die aufschiebende Wirkung der am selben Tag beim SG erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 25.5.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.9.2018 anzuordnen.

Der Eilantrag der Antragstellerin ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86b Abs., 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, diese auf Antrag ganz oder teilweise anordnen.

1. Soweit die Antragstellerin (zuvor) im Verfahren S 39 R 955/16 ER beantragt hatte, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid vom 25.5.2016 anzuordnen, ist dieser Antrag, der nach Erteilung des Widerspruchsbescheides und Klageerhebung als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hätte fortgeführt werden können (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 11.2.2021 – L 8 BA 163/20 B ER – juris Rn. 1), von ihr mit Datum vom 17.9.2018 zurückgenommen worden. Mit der Beendigung des Verfahrens endete dessen Rechtshängigkeit (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG. 13. Aufl. 2020, § 94 Rn. 4). Entsprechend steht dem hier streitigen Antrag nicht das Verbot der doppelten Rechtshängigkeit gemäß § 202 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 2 des Gerichtsverfassungsge­setzes (GVG) entgegen (vgl. BSG Urt. v. 12.12.2013 – B 4 AS 17/13 R – juris Rn. 14).

2. Der Antragstellerin fehlt für den Eilantrag auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die von ihr erhobene Klage gegen die streitigen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin Zinsen in Höhe von 12.246,57 Euro für einen Zeitraum fordert, in dem sie die Vollziehung eines Betriebsprüfungsbescheides auf Antrag ausgesetzt hatte, hat nicht (bereits) kraft Gesetzes gem. § 86a Abs. 1 S. 1 SGG aufschiebende Wirkung.

Nach der Ausnahmevorschrift des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG kommt einem Rechtsbehelf, der sich gegen die Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie die Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten richtet, keine aufschiebende Wirkung zu. Dies erfasst auch die hier erhobenen Aussetzungs- bzw. Stundungszinsen. Dabei kann dahinstehen, ob die geltend gemachten Zinsen (unmittelbar) als öffentliche Abgaben (so VGH München Beschl. v. 2.4.1985 – 23 CS 85 A.361; VGH Baden-Württemberg Beschl. v. 1.6.1992 – 2 S 2999/90 – juris Rn. 2) oder als Nebenkosten im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren sind. Zumindest teilen sie als streng akzessorische Nebenleistung das Schicksal der Beitragsforderung, für deren Aufschub sie von der Antragsgegnerin erhoben worden sind (vgl. Gersdorf in: BeckOK VwGO, § 80 Rn. 52; Schoch in: Schoch/Schneider, VwGO, § 80 Rn. 138). Dies entspricht auch Sinn und Zweck des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG. Hiernach sollen Bescheide über Abgaben bzw. Kosten von der aufschiebenden Wirkung ausgenommen werden, die zur Deckung des Finanzbedarfs öffentlicher Aufgabenerfüllung im Bereich der Sozialversicherung erforderlich sind. Die Vorschrift dient damit der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der sozialrechtlichen Leistungsträger. Durch sie soll verhindert werden, dass die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen Beitrags- bzw. Abgabenbescheide zu einer Gefährdung der Finanzierung und Durchführung notwendiger öffentlicher Aufgaben führt (vgl. z.B. BVerwG Urt. v. 17.12.1992 – 4 C 30/90 juris Rn. 16; Richter in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG § 86a SGG Rn. 33 m.w.N.; Wahrendorf in: BeckOGK § 86a SGG Rn. 42; Binder in: Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Aufl. 2021, § 86a Rn. 14). Dieser Sicherstellung der Aufgabenerfüllung dienen auch Nebenleistungen wie Säumniszuschläge und Stundungszinsen, deren Erhebung standardisiert (zumindest auch) einen durch die verspätete Zahlung entstandenen Schaden ausgleichen soll (vgl. für Säumniszuschläge z.B. BSG Urt. v. 12.4.2004 – B 13 RJ 28/03 R – juris Rn. 21 m.w.N.).

3. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist auch begründet.

Die Entscheidung, ob eine aufschiebende Wirkung ausnahmsweise gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt aufgrund einer umfassenden Abwägung des Suspensivinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsakts andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86a Abs. 3 S. 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 21.10.2020 – L 8 BA 143/19 B ER – juris Rn. 3).

Da § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Suspensivinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs zumindest wahrscheinlich erscheinen lassen. Hierfür reicht es nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfest­stellungen zu treffen sind. Maßgebend ist vielmehr, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (st. Rspr. des erkennenden Senats, vgl. z.B. Beschl. v. 21.10.2020 – L 8 BA 143/19 B ER – juris Rn. 4 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, da deren Erfolg wahrscheinlich ist. Es spricht nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung derzeit mehr dafür als dagegen, dass sich die von der Antragsgegnerin erlassenen streitigen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin Zinsen für den Zeitraum der Aussetzung des um den Beitragsbescheid geführten Rechtsstreits fordert, im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweisen werden.

Nach der im Eilverfahren durchzuführenden summarischen Prüfung ist bereits nicht erkennbar, auf welche Rechtsgrundlage die Antragsgegnerin die erfolgte Zinserhebung stützt. Ausdrücklich hat sie selbst darauf hingewiesen, dass die Geltendmachung von Zinsen als Auflage bei einer (positiven) Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung von Beitragsbescheiden gem. § 86a Abs. 3 SGG durch mehrere Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit als nicht rechtmäßig beurteilt worden sei und hat auf hierzu u.a. ergangene Urteile des LSG Sachsen (Urt. v. 2.8.2019 – L 2 KR 64/14 und Urt. v. 15.6.2020 – L 2 KR 242/14) hingewiesen. Eine Verzinsung sei keine gem. § 86a Abs. 3 S. 4 SGG zulässige Auflage, da dieser ein Sicherungszweck zugrunde liegen müsse. Die Pflicht zur Zinszahlung während der Aussetzung hingegen diene (allein) der Vermehrung der Forderung. Während § 237 Abgabenordnung die Verzinsung bei Aussetzung der Vollziehung im Steuerrecht explizit regele, fehle eine entsprechende Norm im SGG. Hier könne nicht von einer Gesetzeslücke ausgegangen werden; vielmehr sei ein beredtes Schweigen des Gesetzgebers anzunehmen. Ebenso hat die Antragsgegnerin ergänzend (selbst) darauf hingewiesen, dass Bestrebungen der Deutschen Rentenversicherung Bund, eine gesetzliche Ergänzung des § 86a SGG zu veranlassen, nicht berücksichtigt worden seien und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in der Regelung des § 86a SGG keinen Anhalt für eine Analogie zur Verzinsungsvorschrift bei einer Stundung der Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle nach § 76 Abs. 2 Nr. 2 SGB IV gesehen habe. Im Falle einer Stundung erkenne der Beitragsschuldner die Forderung grundsätzlich an, in einem Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren mit einer Aussetzung der Vollziehung werde diese dagegen generell oder in der festgestellten Höhe nicht akzeptiert. Dadurch sei eine Gleichbehandlung nicht zwingend geboten, zumal die der Aussetzung der Vollziehung vergleichbare Regelung in § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ebenfalls keine Verzinsung vorsehe. Diese Argumentation des BMAS sei – so die Beklagte – von den Spitzenverbänden der Rentenversicherungsträger in einem Gremienbeschluss vom 16./17.11.2020 für nachvollziehbar angesehen worden und Bescheide – als Ergebnis der Beratung – seit 2021 nicht mehr mit der Auflage der Verzinsung zu versehen.

Weshalb die Antragsgegnerin – trotz dieser eigenen Ausführungen – an der hier streitigen Zinsauflage festhält, ist dem Senat – auch vor dem Hintergrund weiterer entsprechender obergerichtlicher Entscheidungen (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg Beschl. v. 31.7.2015 – L 11 R 2693/15 ER-B – juris Rn. 19; LSG Schleswig-Holstein Beschl. v. 4.11.2016 – L 5 KR 162/16 B ER – juris Rn. 22) – nicht ersichtlich. Ergänzender Vortrag hierzu bleibt ihr im Hauptsacheverfahren unbenommen.

Unabhängig von der Frage der Rechtsgrundlage wird darauf hingewiesen, dass auch die Formulierung der Zinsauflage im Schreiben der Antragstellerin vom 14.6.2005 mangels hinreichender Konkretisierung nicht bestimmt genug ist. Allein die mit der Aussetzung verbundene Formulierung, „dass die ausgesetzten Beträge der Verzinsung unterliegen“, vermag den Anforderungen an die Begründung einer rechtswirksamen Zinspflicht nicht zu entsprechen. Mangels jeglicher genauer Angaben zur Zinshöhe, zum Beginn, zum Ende und zur Grundlage der Verzinsung war eine konkrete für die Antragstellerin resultierende Verpflichtung nicht – wie erforderlich (vgl. zu § 32 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch z.B. BSG Urt. v. 17.12.2014 – B 8 SO 15/13 R – juris Rn. 11; Urt. v. 6.4.2000 – B 11/7 AL 10/99 R – juris Rn. 25 m.w.N.; Mutschler in: Kassler Kommentar, SGB X, 116. EL, § 32 Rn. 9) – hinreichend klar, verständlich und widerspruchsfrei sowie eindeutig. Unklarheiten gehen zu Lasten der erklärenden Behörde, weil sie es in der Hand hat, ihre Vorstellungen und Absichten unmissverständlich auszudrücken (vgl. BSG Urt. v. 25.6.1998 – B 7 AL 126/95 R – juris Rn. 34; Mutschler a.a.O.).

Ob darüber hinaus auch der von der Antragsgegnerin angesetzte Zinssatz, wie von der Antragstellerin bezweifelt, in einer strukturellen Niedrigzinsphase als verfassungswidrig anzusehen ist, konnte der Senat im Hinblick auf die vorigen Ausführungen offenlassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Festsetzung des Streitwertes für das einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem SG und für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 47 Abs. 1, 52, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG) und berücksichtigt, dass in Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes, die Beitragsangelegenheiten betreffen, regelmäßig nur ein Viertel des Wertes der Hauptsache einschließlich etwaiger Säumniszuschläge als Streitwert anzusetzen ist (vgl. z.B. Senatsbeschl. v. 22.4.2020 – L 8 BA 266/19 B ER – juris Rn. 30 m.w.N.).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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