S 38 KA 50/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 50/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der beklagte Beschwerdeausschuss ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bei der Wahl der Prüfmethode (Wirtschaftlichkeitsprüfung) weitgehend frei (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2001, B 6 KA 66/00R). Dies schließt den Wechsel der Prüfmethode mit ein. Wird ein Prüfantrag nach § 23 der Prüfvereinbarung gestellt mit der Begründung, es werde die zulässige Höchstdosis überschritten, ist aber die Verordnung insgesamt als unzulässig anzusehen, weil das Medikament nicht für den bestimmten Anwendungsbereich zugelassen ist, bestehen keine rechtlichen Bedenken, dass die Prüfungsgremien abweichend vom Prüfantrag eine Prüfung der Zulässigkeit der Verordnungsweise vornehmen.

2. Die Verordnung von Medikinet 10mg/ Medikinet 20mg, zugelassen für Kinder und Jugendliche stellt bei der Verordnung für Erwachsene nach wie vor (Jahre 2018, 2019) einen unzulässigen off-label-use dar. Es liegt für Erwachsene kein bestimmungsgemäßer Gebrauch vor, auch wenn die identischen Wirkstoffe in den für Erwachsene zugelassenen Medikamenten und den für Kinder zugelassenen Medikamenten enthalten sind.

3. Ein aut-idem -Fall, d.h. ein zulässiges Ersetzen nach § 129 Abs. 1 SGB V liegt nur dann vor wenn das zugelassene teure Medikament gegen ein ebenfalls für diesen Anwendungsbereich zugelassenen billigeren Medikament ausgetauscht wird.


I. Die Klage wird abgewiesen.


II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
 

III. Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Gegenstand der zum Sozialgericht München eingelegten Klage ist der Ausgangsbescheid in der Fassung der Widerspruchsbescheide jeweils vom 03.01.2022. Es fand eine Prüfung der Verordnungsweise in Einzelfällen gemäß § 23 der Prüfvereinbarung (PV) statt. Die Prüfung bezog sich auf die Verordnung von Methylphenidat in den Quartalen 2/18 und 2/19 und führte zu einem Nachforderungsbetrag in Höhe von insgesamt 241,77 € (2/18: 157,50 € und 2/19: 84,27 €). Die Beklagte führte aus, Medikinet 10mg, 20 mg sei nicht für die Behandlung von Erwachsenen zugelassen. Es handle sich daher um einen sog. off-Label-use. Die Voraussetzungen für diesen ergäben sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, insbesondere aus dessen Urteilen vom 19.03.2002 (Az B 1 KR 37/00R) und vom 26.09.2006 (Az B 1 KR 1/06R). Die dort genannten Voraussetzungen müssten kumulativ vorliegen. Zu diesen gehöre, dass es für die im Abrechnungsschein aufgeführte Diagnose grundsätzlich keine Behandlungsalternativen gebe. Genau dies sei aber hier der Fall. Der Beschwerdeausschuss habe sich auch mit der Frage befasst, ob eine Beratung ausreichend wäre, habe dies aber dann im Ergebnis im Hinblick darauf verneint, dass es um die Frage eines zugelassenen Arzneimittels gehe.

Dagegen legte die Klägerin Klage zum Sozialgericht München ein. Sie wies auf das Schreiben des BMG vom 21.07.2011 zur Verordnung von methylphenidathaltigen Medikamenten bei Erwachsenen trotz fehlender Zulassung hin. Außerdem gab sie an, es habe zahlreiche Veranstaltungen des Berufsverbandes der Deutschen Nervenärzte zu diesem Thema gegeben. Schließlich sei die Verordnung auch wirtschaftlich. Denn beispielsweise koste das Methylphenidat-Präparat von TDA 20 mg mit 50 Stück 29,90 €, während das Methylphenidat Präparat Adult mit 52 Stück zum Preis von 43,63 € abgegeben werde. Ferner führte sie aus, es habe auch keine Ermahnung stattgefunden, die Verordnungsweise zu ändern. Sie widersprach außerdem der Darstellung des Beklagten zur Zulassung von Medikinet. Die Erstzulassung sei bereits am 13.02.2006 erteilt worden mit Markteinführung am 01.07.2011. Das BMG habe sich eindeutig dahingehend geäußert, es liege "kein nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch, sondern ein sachgerechter ordnungsgemäßer Gebrauch" vor. Methylphenidathaltige Arzneimittel gebe es sowohl in "retardierter", als auch in "unretardierter" Form. Bei den erstgenannten könnten Nebenwirkungen auftreten, wie zum Beispiel Appetit- und Schlafstörungen. Für Erwachsene seien nur Kombinationspräparate verfügbar, was zu hohen Arzneimittelkosten führe. Für die Verordnung bei Kindern fänden in der Regel "unretardierte" Medikamente Anwendungen. Nach Beendigung des 18. Lebensjahres bestehe dann der Zwang, auf Kombinationspräparate mit einem hohen Anteil "retard" umzustellen. Aufgrund des Schreibens des BMG und der Äußerungen des Berufsverbandes habe man davon ausgehen müssen, dass Rechtssicherheit bezüglich der Verordnungen bestehe.

Demgegenüber betonte der Beschwerdeausschuss in seiner Replik, die Zulassung von Medikinet Adult sei im Sommer 2011 erfolgt. Soweit sich der Kläger auf das Schreiben des BMG beziehe, werde nicht zum Ausdruck gebracht, dass es sich um keinen off-label-use bei Verordnungen von methylphenidathaltigen Arzneimitteln für Kinder bei Erwachsenen handle. Es würden nur die vom Bundessozialgericht aufgestellten Voraussetzungen zum off-label-use angewandt. Im Ergebnis gehe es auch nur um das Haftungsrisiko. In seiner Replik führte der Beschwerdeausschuss weiter aus, im Vordergrund stehe die Frage des off-label-use. Das Schreiben des Bundesgesundheitsministeriums vom 21.07.2011, worauf der Kläger hingewiesen habe, sei zu einem Zeitpunkt verfasst worden, als es noch keine Zulassung methylphenidathaltiger Medikamente für Erwachsene gegeben habe.

Für die Klägerin sei nicht nachvollziehbar, warum jetzt eine Beanstandung erfolge, während fast zehn Jahre keine Beanstandungen der Verordnungsweise stattgefunden hätten. Es sei mit 400 weiteren Regressverfahren zu rechnen, auch wenn das Verordnungsverhalten nunmehr geändert werde. Der Behandlungschwerpunkt der Praxis liege in der Behandlung von ADHS-Patienten.

In der mündlichen Verhandlung am 20.10.2022 wurde die Sach-und Rechtslage mit den anwesenden Beteiligten auch in den Parallelverfahren S 38 KA 53/22 und S 38 KA 54/22 besprochen.

Der Vertreter der Klägerin ergänzte den bisherigen Vortrag, der Gemeinsame Bundesausschuss habe keine Stellungnahme zu Medikamenten abgegeben, sondern zu Inhaltsstoffen. Auf diese komme es an. Früher sei von einem off-label-use ausgegangen worden. Nachdem mit der Zulassung von Medikinet Adult die Inhaltsstoffe zugelassen worden seien, handle es sich bei der vom Beklagten vorgenommenen Prüfung nicht mehr um einen off-label-use. Die Prüfung passe deshalb nicht mehr. Wenn ein Medikament mit bestimmten Wirkstoffen zugelassen sei, seien automatisch andere Medikamente mit denselben Wirkstoffen ebenfalls zugelassen. Konkret führe nur die unterschiedliche Aufarbeitung von Methylphenidat zu einem "retard". Vielmehr liege ein "aut-idem"-Verfahren vor. Ziel der getätigten Verordnungen sei gewesen, eine möglichst hohe Wirksamkeit bei möglichst wenig Nebenwirkungen zu erreichen. Der Beklagte habe auch eine Prüfung vorgenommen, die von den Anträgen der Krankenkassen abgewichen sei. Beanstandet worden sei von diesen nicht ein unzulässiger off-label-use, sondern eine "Zuvielverordnung".

Dagegen betonte die Beklagte, es sei nach wie vor von einem unzulässigen off-label-use auszugehen. Sie nahm Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 30.06.2009, Az B 1 KR 5/09). Obwohl es damals keine Alternative gegeben habe, sei man der Auffassung gewesen, es liege keine schwerwiegende Erkrankung vor, eine der Voraussetzungen für einen zulässigen off-label-use. Auch hätten damals keine entsprechenden Studien vorgelegen. Die Voraussetzungen für einen off-label-use seien restriktiv zu handhaben. Der zulässige off-label-use solle die absolute Ausnahme darstellen. Die Beklagte führte zum streitgegenständlichen Verfahren aus, dafür, dass beispielsweise ein schwerer Fall vorgelegen habe, habe die Klägerseite nichts vorgetragen. Außerdem seien jetzt Therapiealternativen vorhanden. Es habe daher nahegelegen, ein zugelassenes Medikament zu verordnen. Ein Medikament, das nicht in seinem Indikationsbereich eingesetzt werde, sei nicht zulasten der GKV verordnungsfähig. Es komme auf die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) an. Einschlägig sei § 21 Nummer 1 Arzneimittelrichtlinie. Zugelassen würden lediglich Arzneimittel.

Nach Auffassung der Beigeladenen zu 1 ist auf die Wirkstoffe bei der Bewertung des off-label-use abzustellen. Bei ADHS handle es sich nach Auffassung der Beigeladenen zu 1 durchaus um eine schwerwiegende Erkrankung, die im Extrem- und Einzelfall schwerwiegende Begleiterscheinungen nach sich ziehen könne. Außerdem machte die Beigeladene zu 1 darauf aufmerksam, die Arzneimittelrichtlinie sei geändert worden. Es werde nunmehr allgemein auf den Wirkstoff Methylphenidat abgestellt. Außerdem müsse die Differenzmethode nach § 106b Abs. 2a SGB V ab dem 11.05.2009 (zweites Quartal 2019) Anwendung finden.

Der Kläger stellte für die Klägerin folgenden Antrag:
Der Bescheid des Beschwerdeausschusses vom 03.01.2022 (Anm: 2 Bescheide) wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, über den Widerspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Hilfsweise wurde beantragt, die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht zuzulassen.

Die Vertreterin des Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen. Hilfsweise wurde beantragt, die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht zuzulassen.
Die anwesenden Vertreter der Beigeladenen stellten keinen Antrag.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakte, die Beklagtenakten auch in den Parallelverfahren S 38 KA 53/22 und S 38 KA 54/22 und die Klageakten in diesen Verfahren. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 20.10.2022 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Die Rückforderung bezieht sich auf die Verordnung von Medikinet 10mg, 20mg, verordnet bei einem erwachsenen Patienten über 18 Jahre in den Quartalen 2/08 und 2/09. Die angefochtenen Bescheide sind sowohl formell, als auch materiell rechtmäßig.
Was die formelle Rechtmäßigkeit betrifft, sind die Bescheide des Beklagten nicht zu beanstanden. Der Klägerin ist einzuräumen, dass Ausgangspunkt der Prüfung der Prüfantrag der Beigeladenen zu 2 war. Gestellt wurde ein Antrag nach § 23 der Prüfvereinbarung mit der Begründung, die von der Praxis verordnete Menge überschreite erheblich die maximale Tagesdosis von Methylphenidat. Schließlich entschied aber der Beklagte mit dem Inhalt, die Verordnung sei unzulässig bei erwachsenen Patienten. Hierbei stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Entscheidung um eine Entscheidung nach § 23 der Prüfvereinbarung handelt (Einzelfallprüfung der Verordnungsweise), oder aber die Entscheidung unter § 27 der Prüfvereinbarung (Prüfung unzulässiger Verordnungen) zu subsumieren ist. Ist von einer Entscheidung nach § 27 der Prüfvereinbarung auszugehen, wofür nach Ansicht des Gerichts einiges spricht, stellt sich die Frage, ob wegen der Abweichung vom Prüfantrag der Beigeladenen zu 2 die Entscheidung des Beklagten als formell rechtswidrig anzusehen ist. Nach § 6 Abs. 1 der Prüfvereinbarung prüft die Prüfungsstelle die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung von Amts wegen oder auf Antrag. Eine Prüfung auf Antrag wird unter anderem eingeleitet (§ 6 Abs. 3 S. 1 Buchstabe d der Prüfvereinbarung) bei Prüfungen in Einzelfällen, Einzelposten bzw. von unzulässigen Verordnungen, also sowohl nach § 23 der Prüfvereinbarung (Einzelfallprüfung der Verordnungsweise), als auch nach § 27 der Prüfvereinbarung (Prüfung unzulässiger Verordnungen). Es handelt sich somit um einen Wechsel in der Prüfmethode durch den Beklagten, der seinerseits aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts seine Prüfmethode weitgehend frei selbst auswählen darf (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.2001, B 6 KA 66/00R). Wird ein Prüfantrag nach § 23 der Prüfvereinbarung gestellt mit der Begründung, es werde die zulässige Höchstdosis überschritten, ist aber die Verordnung insgesamt als unzulässig anzusehen, weil das Medikament nicht für den bestimmten Anwendungsbereich zugelassen ist, bestehen keine rechtlichen Bedenken, dass die Prüfungsgremien abweichend vom Prüfantrag eine Prüfung der Zulässigkeit der Verordnungsweise vornehmen. In diesem Fall erschiene es unpraktikabel, die Prüfungsgremien am Prüfantrag festzuhalten und auf der Basis eines neuen Prüfantrags der Krankenkassen das Prüfverfahren durchzuführen.

Nach § 27 Abs. 1 Ziff 3 SGB V und § 31 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr 6 ausgeschlossen sind. Die von der Klägerin verordneten Medikamente Medikinet 10 mg und Medikinet 20mg sind apothekenpflichtige Arzneimittel, jedoch nur für Kinder und Jugendliche bis zum Erreichen eines Lebensalters von 18 Jahren zugelassen. Die Klägerin hat die genannten Medikamente bei erwachsenen Patienten verordnet. Damit sind die Medikamente nicht zulasten der GKV verordnungsfähig.

Zum Zeitpunkt der Verordnungen war bereits Medikinet 40mg zur Behandlung von Erwachsenen zugelassen.
Es stellt sich die Frage, ob es sich hier um einen zulässigen bzw. unzulässigen off-label-use handelt oder um eine sog. aut-idem Verordnung.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat zum off-label-use mehrfach entschieden und dabei verschiedene Kriterien aufgestellt (vgl BSG, Urteil vom 19.03.2002, Az B 1 KR 37/00R; BSG, Urteil vom 26.09.2006, Az B 1 KR 1/06R; BSG, Urteil vom 30.06.2009, Az B 1 KR 5/09R; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.10.2010, Az L 1 KR 17/09). Danach kommt ein off-label-use außer in den Seltenheitsfällen oder bei einem Systemversagen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kumulativ oder palliativ) erzielt werden kann. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat mittlerweile auch Eingang gefunden in das SGB V (hier § 35c SGB V) und in die Arzneimittelrichtlinien (§ 30 AM-RL).

Im Speziellen hat sich die Rechtsprechung auch mit dem off-label-use bei methylphenidathaltigen Medikamenten auseinandergesetzt. So war Gegenstand des Verfahrens vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (aaO) die Frage der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 S. 1 zweite Alternative SGB V, betreffend die Verordnung von Medikinet retard bei erwachsenen Patienten im Jahr 2007. Das Gericht stellte damals den Behandlungserfolg infrage und verwies auch darauf, es müsse die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt sein und das Ergebnis einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III vorliegen. Außerdem hielt es das Gericht für problematisch, wobei es sich ergebnisoffen zeigte, ADHS als lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung anzusehen. Das Bundessozialgericht (Urteil vom 30.06.2009, Az B 1 KR 5/09R) zitierend wies das Gericht darauf hin, es bedürfe einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose Weiterversorgung eines Betroffenen (Erstverordnung vor Erreichen des 18. Lebensjahres) mit dem begehrten Mittel nach Erreichen des 18. Lebensjahres abzulehnen. Das Bundessozialgericht hatte seinerseits von einer abgestuften, modifizierenden Anwendung der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum off-label-use gesprochen. Im Ergebnis hätten in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Erwachsene aber grundsätzlich keinen Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung eines nur zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassenen Arzneimittels unter erleichterten Voraussetzungen, selbst wenn eine gleiche Wirksamkeit des Mittels unterstellt werde.

Im hier strittigen Verordnungszeitraum (Jahre 2018/2019) ist die Verordnung von Medikinet 10mg/ Medikinet 20mg nicht anders zu beurteilen. Die Voraussetzungen für einen off-label-use müssen kumulativ vorliegen. Wie im vom Landessozialgericht Berlin-Brandenburg entschiedenen Verfahren (Jahr 2007) stellt sich die Frage, ob es sich bei ADHS um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handelt, was vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 30.06.2009 (Az B 1 KR 5/09R) verneint wird. Ebenfalls zu bezweifeln ist, ob von einem Behandlungserfolg auszugehen ist. Dabei ist sich das Gericht allerdings bewusst, dass das von der Klägerin verordnete Medikament für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS zugelassen ist und mittlerweile ein anderes Medikament, nämlich Medikinet Adult 40mg zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit ADHS zugelassen und verfügbar ist. Bei beiden Medikamenten handelt es sich um methylphenidathaltige Arzneimittel. Der darin enthaltene Wirkstoff Methylphenidat aus der Gruppe der sogenannten Psychoanaleptika, Psychostimulanzien und Nootropika sowie der zentral wirkenden Sympathomimetika verbessert die Aktivität bestimmter Teile des Gehirns, die nicht aktiv genug sind. Das Arzneimittel kann dabei helfen, die Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsspanne) und Konzentration zu verbessern und impulsives Verhalten zu vermindern. Der Unterschied zwischen den Medikamtenten besteht darin, dass das von der Klägerin verordnete Medikament "unretar" ist, während das für Erwachsene zugelassene und zur Verfügung stehende Medikament als "retard" bezeichnet wird.

Mit der Zulassung von Medikinet Adult steht außerdem eine andere Therapiemöglichkeit zur Verfügung, sodass auch diese Voraussetzung für das Vorliegen eines zulässigen off-label-use nicht vorliegt. Dabei kommt es auch nicht darauf an, dass die Verordnung von Medikinet 10mg/20mg, wie der Vertreter der Klägerin ausführt, günstiger ist und damit wirtschaftlicher wäre. Denn der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ist nicht geeignet, die Verordnungsfähigkeit eines für Erwachsene nicht zugelassenen Medikaments ausnahmsweise zu bejahen.

Entgegen der Auffassung der Klägerseite ist aus dem Umstand, dass Medikamente mit denselben Wirkstoffen sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene zugelassen sind, nicht zu schließen, der Wirkstoff sei an sich zugelassen und es liege deshalb auch kein off-label-use vor. Im Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (AMG), dessen Zweck darin besteht, "im Interesse an einer ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln, insbesondere für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit Arzneimittel zu sorgen (§ 1 AMG), ist geregelt, dass Fertigarzneimittel nur in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind oder wenn für sie die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EU) Nr 726/2004 erteilt hat. Eine solche Zulassung oder Genehmigung liegt für Medikinet 10mg/20mg nicht vor, wie bereits oben ausgeführt. In § 22 AMG sind die Angaben genannt, die der Arzneimittelhersteller zwingend seinem Antrag auf Zulassung beifügen muss. Über den Antrag auf Zulassung entscheidet die zuständige Bundesoberbehörde unter Zuteilung einer Zulassungsnummer (§ 25 Abs. 1 S. 1 AMG). Nach § 25 Abs. 1 S. 2 AMG gilt die Zulassung nur für das im Zulassungsbescheid aufgeführte Arzneimittel. Dies bedeutet, dass nicht Wirkstoffe, sondern ein bestimmtes Arzneimittel zugelassen wird. Hintergrund ist, dass sich die Prüfung im Rahmen des Zulassungsverfahrens zwar auch auf den Wirkstoff, daneben aber auf die sonstigen Unterlagen wie Darreichungsform (§ 22 Abs. 1 Ziff 4) und Anwendungsgebiete (§ 22 Abs. 1 Ziff 6) bezieht. Zwischen einem Medikament "unretar" und einem Medikament "retard" gibt es Unterschiede. Das Medikament "unretar" hat sofort freisetzende Wirkung, während die Arzneimittelform "retard" dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wirkstoffe erst verzögert und über einen längeren Zeitraum freigegeben werden. Dies kann erreicht werden, indem die Tabletten einen speziellen Überzug haben, der der Magensäure längere Zeit widersteht. Damit verbunden ist auch eine Verringerung der Einnahmehäufigkeit. Es kommt somit nicht nur auf den identischen Wirkstoff an. Besteht eine Zulassung für Medikinet Adult, das den Wirkstoff Methylphenidat enthält, liegt für Medikinet 10mg, 20 mg, das nur für Kinder und Jugendliche bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres zugelassen ist, bei Verordnung für Erwachsene kein bestimmungsgemäßer Gebrauch vor, auch wenn die identischen Wirkstoffe enthalten sind. Bereits das Bundessozialgericht hat in der bereits zitierten Entscheidung (BSG, Urteil vom 30.06.2009, Az B 1 KR 5/09R) darauf hingewiesen, versicherte Erwachsene hätten grundsätzlich keinen Anspruch auf zulassungsüberschreitende Anwendung eines nur zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassenen Arzneimittels unter erleichterten Voraussetzungen, selbst wenn eine gleiche Wirksamkeit des Mittels unterstellt werde. In dem Zusammenhang hat das BSG (aaO) darauf hingewiesen, diese Arzneimittel gehörten zu den Psychostimulanzien. Diese hätten in der Regel ein besonderes Suchtpotenzial, verbunden mit Missbrauchsrisiken insbesondere bei der Dauertherapie. Diese seien bei Erwachsenen höher einzuschätzen als bei einem gegebenfalls nur vorübergehenden bzw. schon gefestigt kontrollierten Einsatz der Mittel im Kindesalter.

Unabhängig davon - würde man sich der Ansicht der Klägerseite anschließen, es handle sich um einen bestimmungsgemäßen Gebrauch im Hinblick auf die Wirkstoffidentität, somit um keinen off-label-use - wäre das Zulassungsverfahren für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, geregelt im AMG jedenfalls zum Teil obsolet. Wie das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 19.03.2002, Az B 1 KR 37/00R) ausführt, könnte sich der Hersteller "den Aufwand und die Kosten eines neuen Zulassungsverfahrens ersparen und stattdessen abwarten, bis sich der Zulassung überschreitende Einsatz in der Praxis etabliert und von dritter Seite eine Anerkennung durch den Bundesausschuss beantragt wird. Zugleich wäre er von der Haftung für etwaige gesundheitliche Schäden nach § 84 AMG frei."

Nichts anders ergibt sich auch aus dem von der Klägerseite zitierte Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vom 21.07.2011. Gegenstand des Schreibens, gerichtet an die Kassenärztliche Bundesvereinigung, war die Behandlung von Erwachsenen mit Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln. Das BMG führte aus, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte habe am 14.04.2011 erstmals einer Indikationserweiterung auf Erwachsene bei einigen Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln zugestimmt. Aufgrund der nunmehr vorliegenden Ergebnisse aus klinischen Studien habe die Wirksamkeit und Sicherheit eine Anwendung bei Erwachsenen hinreichend belegt werden können. Weiter heißt es u.a. wie folgt: "Liegt für ein Arzneimittel die entsprechende Zulassung für ein Anwendungsgebiet vor, ist regelmäßig von einem bestimmungsgemäßen Gebrauch auch der anderen wirkstoffgleichen Arzneimittel auszugehen." Diese Aussagen mögen zunächst für Irritationen auch bei den Behandlern gesorgt haben. Sie stehen aber ausschließlich im Kontext mit der Haftungsfrage. Eine Aussage zur Zulässigkeit der Verordnung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist damit jedoch nicht verbunden.

Ein Vertrauensschutz kann daraus nach Auffassung des Gerichts inhaltlich nicht abgeleitet werden. Erst recht vermögen die Äußerungen des Berufsverbandes der Deutschen Nervenärzte einen Vertrauensschutz zu begründen. Denn Voraussetzung ist, dass von der zuständigen Behörde ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der die von der Klägerseite getätigte Verordnung rechtfertigt. Der Berufsverband gehört jedenfalls nicht zu den Institutionen, die qua ihrer Zuständigkeit einen solchen Vertrauenstatbestand schaffen können. Ferner ergibt sich auch aus dem Vortrag des Klägers, die Verordnungen von ausschließlich für Kinder und Jugendliche zugelassenen Medikamenten bei Erwachsenen seien über Jahre hinweg geduldet worden, kein Vertrauensschutz. Das Bundessozialgericht hat in mehreren Urteilen (vgl BSG, Urteil vom 28.08.2013, Az B 6 KA 43/12 R) bestimmte Fallkonstellationen aufgezeigt, in denen ein Vertrauensschutz anzunehmen ist. Hierzu gehört aber nicht diese Fallkonstellation. Denn der Sachverhalt ist auch nicht vergleichbar mit einer vorausgegangenen vorbehaltlosen Prüfung im Rahmen einer sachlich-rechnerischen Richtigstellung (vgl SG München, Urteil vom 28.10.2020, Az S 38 KA 270/18).

Soweit die Klägerseite geltend macht, es handle sich um keinen unzulässigen off-label-use, vielmehr um einen sog. "aut-idem"-Fall, teilt das Gericht diese Ansicht nicht. "Aut-idem" spielt insbesondere eine Rolle im Bereich der Generika. Nach § 129 Abs. 1 SGB V sind die Apotheken bei der Abgabe verordneter Arzneimittel an Versicherte nach Maßgabe des Rahmenvertrages nach Abs. 2 u.a. zur Abgabe eines preisgünstigen Arzneimittels in den Fällen verpflichtet, in denen der verordnende Arzt ein Arzneimittel nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung verordnet oder die Ersetzung des Arzneimittels durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel nicht ausgeschlossen hat. In Betracht kommt hier nur die zweite Alternative. Zulässig ist aber nur ein Ersetzen eines zugelassenen teuren Medikaments gegen ein ebenfalls für diesen Anwendungsbereich zugelassenen billigeren Medikaments. Nachdem Medikinet 10mg, 20mg für Erwachsene nicht zugelassen ist und damit der Anwendungsbereich ein anderer ist, fehlen die Voraussetzungen für ein Ersetzen. Andernfalls wäre zu besorgen, dass die strengen Voraussetzungen an einen zulässigen off-label-use umgangen würden.

Die Anwendung der Differenzmethode nach § 106b Abs. 2a SGB V ab dem 11.05.2009 (zweites Quartal 2019) - worauf die Beigeladene zu 1 hingewiesen hat - auf den Fall einer unzulässigen off-label-use-Verordnung hat die Kammer in ihrer Besetzung verneint (vgl SG Stuttgart, Gerichtsbescheid vom 02.06.2021, Az S 4 KA 3885/20; aA SG München, Urteil vom 05.05.2022, Az S 49 KA 139/21; Urteil vom 23.06.2022, Az S 38 KA 145/21).

Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO.
Die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht war wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 144 Abs. 2 Ziff. 1 SGG zuzulassen.
 

 

 

Rechtskraft
Aus
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