L 5 KR 903/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 27 KR 2760/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 903/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 38/22 R
Datum
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 17.11.2020 hinsichtlich des Zinsanspruchs geändert. Die Beklagte wird insoweit verurteilt, an die Klägerin Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von 26.177,01 € ab dem 25.11.2017 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits auch im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 26.177,01 € festgesetzt.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären Krankenhausbehandlung.

 

Das nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhaus der Klägerin behandelte den bei der Beklagten versicherten R (im Folgenden: Versicherter) in der Zeit vom 03.04.2014 bis zu dessen Tod am 04.05.2014 stationär und berechnete ausgehend von der Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2014 <DRG>) A09C (Beatmung > 499 Stunden oder > 249 Stunden mit intensivmedizinischer Komplexbehandlung > 2352 / 2208 Aufwandspunkte, mit komplexer OR-Prozedur oder Polytrauma oder int. Komplexbeh. > 2352 / 2208 P. oder kompliz. Konstellation oder Alter < 16 Jahre) 65.642,76 € (Rechnung vom 12.06.2014). Die Beklagte bezahlte die Rechnung zunächst vollständig. Anlässlich einer im Januar 2017 durchgeführten Begehung im Krankenhaus der Klägerin stellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) fest, dass die Strukturvoraussetzungen des OPS 8-980.50 dort nicht erfüllt seien. Die Beklagte zweifelte sodann die Kodierung des OPS 8-980.50 im Behandlungsfall des Versicherten an und verrechnete am 17.11.2017 einen Betrag von 26.177,01 € gegen eine andere Forderung der Klägerin (Rechnung Nr. 01 vom 09.11.2017, Aufnahmenummer 02) gemäß entsprechend übersandter Zahlungsmitteilung. Diese weist unter der Behandlungsfallnummer des Versicherten einen entsprechenden negativen Betrag aus.

 

Am 05.12.2018 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Duisburg Klage erhoben. Die Aufrechnung der Beklagten sei unzulässig. Dies ergebe sich aus dem landesvertraglich vereinbarten Aufrechnungsverbot gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 des nordrhein-westfälischen Sicherstellungsvertrages (im Folgenden: SVTr). Es liege keine Beanstandung rechnerischer Art vor. Die Beklagte bezweifle vielmehr die Richtigkeit der Abrechnung der Behandlung des Versicherten, greife also die sachliche Berechnung der Höhe nach an. Das Strukturgutachten vom 19.06.2017 beziehe sich auf das Jahr 2016 und treffe gerade keine Aussage darüber, ob die erforderlichen Strukturmerkmale des OPS 8-980 im vorliegenden Behandlungsfall erfüllt gewesen seien. Im Übrigen könnten Erkenntnisse aus einer Prüfung nicht auf andere Einzelfälle übertragen werden.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 26.177,01 € nebst Zinsen i.H.v. 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.11.2017 zu zahlen.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat vorgetragen, die mit der Klage verfolgte Vergütung sei durch Erfüllung erloschen. Die Aufrechnung sei zu Recht erfolgt. Der Beklagten habe ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zugestanden. Der MDK habe im Rahmen der Begehung am 30.01.2017 festgestellt, dass das Krankenhaus der Klägerin die Strukturvoraussetzungen des OPS 8-980.50 zumindest bis zum 19.06.2017 nicht erfüllt habe. Die entsprechende Prozedur sei daher aus der Abrechnung der Klägerin gestrichen worden. Hieraus resultiere eine Änderung der abgerechneten DRG A09C zu A11F. Das von der Klägerin vorgetragene Aufrechnungsverbot greife vorliegend nicht, weil der Klägerin positiv bekannt gewesen sei, dass die Mindestmerkmale des OPS 8-980 nicht erfüllt würden. Gleichwohl habe sie diesen gegenüber der Beklagten abgerechnet. Die Abrechnung beruhe daher auf von der Klägerin zu vertretenden unzutreffenden Angaben i.S.d. § 15 Abs. 4 SVTr.

 

Mit Urteil vom 17.11.2020 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 26.177,01 € nebst Zinsen i.H.v. 2 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.11.2017 zu zahlen. Die Aufrechnung sei unwirksam, weil sie gegen das landesvertragliche Aufrechnungsverbot verstoße. Die Nichtigkeit dieses Aufrechnungsverbotes ergebe sich insbesondere nicht aus der Entscheidung des BSG vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R. Das BSG habe nur entschieden, dass ein etwaiges Aufrechnungsverbot im Anwendungsbereich der PrüfvV nichtig sei. Vorliegend sei der zeitliche Anwendungsbereich der PrüfvV jedoch nicht eröffnet, weil diese erst für die Überprüfung bei Patienten, die ab dem 01.01.2015 in ein Krankenhaus aufgenommen worden seien, gelte. Es liege auch keiner der im Landesvertrag ausdrücklich genannten Fälle, in denen eine Aufrechnung zulässig sei, vor. Die Beklagte stütze ihren Erstattungsanspruch darauf, dass die Klägerin den OPS 8-980.50 nicht habe abrechnen dürfen und sich bei richtiger Kodierung ein geringerer Vergütungsbetrag ergebe. Damit beanstande sie die sachliche Berechtigung der Höhe der geforderten Vergütung, also die sachliche Richtigkeit der Abrechnung. Die Abrechnung beruhe auch nicht auf von der Klägerin zu vertretenden falschen Angaben. Die Klägerin habe lediglich einen umfassenden Lebenssachverhalt anders bewertet und eine entsprechende Subsumtion vorgenommen. Unzutreffende Angaben lägen nur vor bei Fehlern in der Darstellung des tatsächlichen Behandlungsgeschehens. Vorliegend sei aber nicht das tatsächliche Behandlungsgeschehen streitig, sondern die Frage, ob das tatsächliche Behandlungsgeschehen unter die Kriterien des OPS subsumiert werden könne. Angesichts des bestehenden Aufrechnungsverbotes könne offen bleiben, ob der Rückforderungsanspruch, dessen sich die Beklagte berühme, tatsächlich bestehe.

 

Gegen das der Beklagten am 02.12.2020 zugestellte Urteil hat diese am 28.12.2020 Berufung eingelegt. § 112 Abs. 1 S. 1 SGB V enthalte keine Ermächtigungsgrundlage für die Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes. Die Krankenkassen seien als Sozialversicherungsträger gemäß § 76 Abs. 1 SGB IV verpflichtet, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Dieser Verpflichtung würden sie aber nicht gerecht, wenn sie sich durch Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes der Möglichkeit begäben, Forderungen schnell und kostengünstig zu realisieren. Auch dem in § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V niedergelegten Grundsatz der Beitragsstabilität werde die Regelung in § 15 Abs. 4 SVTr nicht gerecht. Der Gesetzgeber habe zudem mit der Einführung des § 109 Abs. 6 SGB V zum 01.01.2020 erstmalig ein Aufrechnungsverbot statuiert und damit einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. Auch der Rechtsprechung des BSG sei eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung nicht zu entnehmen, in dem Urteil zu dem Aktenzeichen B 1 KR 27/11 R sei nur von „Verrechnungsmodalitäten“ die Rede.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 17.11.2020 abzuändern und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Bestätigung des Aufrechnungsverbotes entspreche der langjährigen ständigen Rechtsprechung der zuständigen Senate des LSG NRW. Auch das BSG habe schon mehrfach festgestellt, dass „Verrechnungsmodalitäten“ von den Vertragspartnern des Landesvertrages vereinbart werden dürften. Die Annahme eines Aufrechnungsverbotes führe auch nicht dazu, dass die Krankenkassen Forderungen gegenüber Krankenhäusern ausschließlich im Klagewege geltend machen müssten. Denn zum einen regele der Landesvertrag ausdrücklich Fälle, in denen die Aufrechnung möglich sei. Zum anderen seien Krankenkassen nicht verpflichtet, Abrechnungen vollständig zu begleichen, wenn Einwendungen gegen diese geltend gemacht würden (BSG, Urteil vom 22.07.2004 – B 3 KR 20/03 R; LSG NRW, Urteil vom 09.07.2020 – L 16 KR 395/16). Das Wirtschaftlichkeitsgebot werde durch ein Aufrechnungsverbot ebenfalls nicht verletzt, weil Krankenkassen nicht gezwungen seien, unberechtigte Forderungen zu begleichen. Der neu eingeführte § 109 Abs. 6 SGB V belege, dass das landesvertragliche Aufrechnungsverbot gerade nicht gegen Bundesrecht verstoße.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Patientenakten des Versicherten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

 

A. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist nur insoweit begründet, als die Beklagte zur Verzinsung der Hauptforderung bereits ab dem 20.11.2017 verurteilt worden ist. Im Übrigen ist sie unbegründet.

 

B. Die im Gleichordnungsverhältnis erhobene echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG ist zulässig. Insbesondere ist der Streitgegenstand hinreichend bestimmt. Es reicht insofern aus, dass die Klägerin die Restzahlung der Behandlungskosten „aus dem Behandlungsfall, gegen den die Beklagte aufgerechnet hat“ mit ihrer Klage geltend macht. In Zusammenschau mit der in den Verwaltungsakten befindlichen Zahlungsmitteilung vom 17.11.2017, aus der Rechnungsdatum, -betrag und -nummer sowie Aufnahmenummer der Forderung beider Forderungen hervorgehen, die miteinander verrechnet werden sollten, wird der Gegenstand der vorgenommenen Aufrechnung hinreichend konkretisiert.

 

C. Die Klage ist auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte zur Zahlung des aufgerechneten Betrages verurteilt.

 

I. Die Forderung, gegen die die Beklagte mit ihrem (behaupteten) öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch aus dem Behandlungsfall des Versicherten aufgerechnet hat, ist zwischen den Beteiligten unstreitig, so dass es einer weiteren Prüfung nicht bedarf.

 

II. Die streitbefangene Forderung besteht jedoch unverändert fort. Sie ist insbesondere nicht durch Aufrechnung mit dem geltend gemachten Erstattungsanspruch gemäß § 389 BGB erloschen. Eine Aufrechnung ist nur dann wirksam (vgl. dazu im Einzelnen etwa BSG, Urteil vom 30.07.2019 - B 1 KR 31/18 R Rn. 11 ff.), wenn bei bestehender Aufrechnungslage (§ 387 BGB) die Aufrechnung erklärt wird (§ 388 BGB) und keine Aufrechnungsverbote entgegenstehen. Vorliegend scheitert die vorgenommene Aufrechnung am Bestehen eines Aufrechnungsverbotes.

 

1.) Nach § 15 Abs. 4 des gekündigten, aber weiterhin anwendbaren Vertrages nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V vom 06.12.1996 können Beanstandungen rechnerischer oder sachlicher Art auch nach Bezahlung der Rechnung geltend gemacht werden (Satz 1). Bei Beanstandungen rechnerischer Art sowie nach Rücknahme der Kostenzusage und falls eine Abrechnung auf vom Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden Angaben beruht, können überzahlte Beträge verrechnet werden (§ 15 Abs. 4 S. 2 SVTr). Wie der Senat und die weiteren, mit dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung betrauten Senate des LSG Nordrhein-Westfalen (NRW) bereits mehrfach entschieden haben (vgl. LSG NRW, Urteil vom 27.03.2003 - L 5 KR 141/01; LSG NRW, Urteil vom 03.06.2003 – L 5 KR 205/02

Rn. 18; LSG NRW, Urteil vom 01.09.2011 - L 16 KR 212/08; LSG NRW, Urteil vom 24.05.2012 - L 16 KR 8/09, Rn. 23; LSG NRW, Urteil vom 06.12.2016 - L 1 KR 358/15, Rn.  46; LSG NRW, Beschluss vom 08.04.2019 - L 10 KR 723/17; LSG NRW, Urteil vom 24.02.2022 – L 16 KR 550/19 Rn. 27 zitiert jeweils nach juris), ergibt sich aus dieser Norm im Umkehrschluss ein Aufrechnungsverbot für Fälle, in denen Beanstandungen sachlicher Art geltend gemacht werden.

 

2.) Vorliegend greift keine der Ausnahmekonstellationen, in denen eine Aufrechnung gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr ausdrücklich zulässig wäre, ein.

 

a) Eine Beanstandung rechnerischer Art liegt nicht vor. Eine solche betrifft nur Fehler in der Addition, Subtraktion etc., die aber vorliegend nicht geltend gemacht werden.

 

b) Anhaltspunkte für eine Rücknahme der Kostenzusage liegen ebenfalls nicht vor.

 

c) Die streitige Abrechnung beruht auch nicht auf von dem Krankenhaus zu vertretenden unzutreffenden Angaben. Soweit die Beklagte geltend macht, dass der Klägerin bekannt gewesen sei, dass die Mindestmerkmale des OPS 8-980.50 nicht erfüllt würden, so ist bereits nicht nachgewiesen, dass dies tatsächlich in dem Behandlungsfall des Versicherten nicht der Fall war. Dies unterstellt ergeben sich aber auch keinerlei Anhaltspunkte, dass dem Krankenhaus das Fehlen der erforderlichen Strukturmerkmale positiv bekannt war und es bewusst wahrheitswidrig abrechnete. Diese bloße Unterstellung hat die Beklagte nicht durch Tatsachen untermauert. Allein der Vortrag, es entspreche nicht der Lebensrealität, dass das Krankenhaus erst nach der Behandlung des Versicherten später personelle, sachliche und organisatorische Maßnahmen vorgenommen habe, die die Voraussetzungen des streitigen OPS hätten entfallen lassen, vermag den Verdacht der schuldhaften falschen Angaben nicht zu erhärten. Vielmehr ging die Klägerin offensichtlich von dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Abrechnung einer intensivmedizinischen Komplexbehandlung aus. Wenn die Beklagte das Vorliegen der Voraussetzungen des streitigen OPS bestreitet, beanstandet sie damit ausschließlich die sachliche Richtigkeit der Abrechnung, welche aber unter das genannte Aufrechnungsverbot fällt.

 

3.) Dem in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr statuierten Aufrechnungsverbot steht auch kein höherrangiges Recht entgegen.

 

a) Das Aufrechnungsverbot kollidiert im vorliegenden Fall nicht mit der Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Abs. 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV) gemäß § 17c Abs. 2 KHG. Nach der Rechtsprechung des BSG wäre zwar ein etwaiges in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr enthaltenes Aufrechnungsverbot im Anwendungsbereich der PrüfvV wegen deren § 9 nichtig (BSG, Urteil vom 30.07.2019 – B 1 KR 31/18 R Rn. 26 f. sowie Urteil vom 10.11.2021 – B 1 KR 36/20 R Rn. 22). Vorliegend war deren Anwendungsbereich jedoch schon nicht eröffnet. Die Beteiligten streiten vorliegend um einen Behandlungsfall aus dem Jahr 2014. Die PrüfvV wurde auf Grund der zum 01.08.2013 in Kraft getreten Ermächtigungsnorm des § 17c Abs. 2 KHG geschaffen und trat zum 01.09.2014 in Kraft. Sie gilt nach ihrem § 12 Abs. 1 S. 2 aber nur für die Überprüfung bei Patienten, die ab dem 01.01.2015 in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Die vorliegend streitige Behandlung des Versicherten vom 03.04.2014 bis zum 04.05.2014 fällt damit nicht in den zeitlichen Anwendungsbereich der PrüfvV.

 

b) § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr ist auch ausreichend von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Gemäß § 112 Abs. 1 SGB V schließen die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land Verträge, um sicherzustellen, dass Art und Umfang der Krankenhausbehandlung den Anforderungen dieses Gesetzbuchs entsprechen. Nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V regeln die Verträge insbesondere die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung einschließlich der Kostenübernahme, Abrechnung der Entgelte, Berichte und Bescheinigungen. Das BSG hat diesbezüglich ausgeführt, dass diese Regelung die Vertragspartner dazu berechtigt, Modalitäten zur Abrechnung von Vertragsleistungen zu regeln. Ausdrücklich hat es hierunter auch „Verrechnungsmodalitäten“ gefasst (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.2017 – B 1 KR 29/16 R Rn. 25, Urteil vom 21.04.2015 – B 1 KR 11/15 R Rn. 20 sowie Urteil vom 13.11.2012 – B 1 KR 27/11 R Rn. 35). Aus der neueren Rechtsprechung des BSG ergibt sich nichts Anderes. Soweit der 1. Senat des BSG jüngst eine Nichtigkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes angenommen hat (s.o.), hat er dies allein mit einem Verstoß gegen § 9 PrüfvV, nicht aber mit einer fehlenden Ermächtigungsgrundlage begründet.

 

c) Schließlich dringt die Beklagte auch mit ihren weiteren Einwendungen nicht durch (vgl. dazu insgesamt schon LSG NRW, Urteil vom 22.12.2021 – L 11 KR 637/20). Weder liegt ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 SGB IV (dazu unter aa) noch gegen § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V (dazu unter bb) vor. Auch der Neuregelung des § 109 Abs. 6 SGB V lässt sich eine Unwirksamkeit des landesvertraglichen Aufrechnungsverbotes nicht entnehmen (dazu unter cc).

 

aa) § 76 Abs. 1 SGB IV bestimmt, dass Einnahmen durch die Sozialversicherungsträger vollständig und rechtzeitig zu erheben sind. Unter die Norm fallen nicht nur Beiträge, sondern alle geldwerten Forderungen, die ihnen aus ihren öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Beziehungen zustehen (vgl. von Boetticher, in:jurisPK-SGB IV, 4. Auflage 2021, § 76 Rn. 12, Stand: 01.08.2021). Grundsätzlich fallen damit auch öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche der Krankenkassen gegenüber Krankenhausträgern unter die Norm. Die Norm steht jedoch einer vertraglichen Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes nicht entgegen. Denn die Vereinbarung eines Aufrechnungsverbotes im SVTr ist nicht gleichzusetzen mit einem gänzlichen Verzicht auf den Anspruch. Die Krankenkassen begeben sich damit lediglich jenseits der in § 15 Abs. 4 S. 2 SVTr geregelten Fälle der Möglichkeit, eine streitige Forderung geltend zu machen, ohne selbst den Klageweg beschreiten zu müssen. Der ihnen aus § 76 Abs. 1 SGB IV auferlegten Verpflichtung zur Geltendmachung von Erstattungsforderungen können und müssen sie aber auch weiterhin durch außergerichtliche Einigungsversuche oder Klageerhebung nachkommen.

 

bb) Auch der in § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V niedergelegte Grundsatz der Beitragssatzstabilität steht dem landesvertraglichen Aufrechnungsverbot nicht entgegen, weil dessen Anwendungsbereich vorliegend schon nicht eröffnet ist. Die Norm bestimmt, dass die Vertragspartner auf Seiten der Krankenkassen und der Leistungserbringer die Vereinbarungen über die Vergütungen nach diesem Buch so zu gestalten haben, dass Beitragserhöhungen ausgeschlossen werden, es sei denn, die notwendige medizinische Versorgung ist auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven nicht zu gewährleisten. Absatz 1 Satz 1 erfasst daher nach seinem Regelungsgehalt alle Vergütungsvereinbarungen nach dem SGB V, die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossen werden. Bei dem Vertrag nach § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB V handelt es sich aber gerade nicht um eine Vergütungsvereinbarung. Das Bestehen von Vergütungsvereinbarungen ist vielmehr zwingende Voraussetzung für die vorliegend streitige Norm des § 15 SVTr. Erst das Bestehen eines konkreten Vergütungsanspruchs macht es nämlich möglich, eine Vereinbarung über die Zahlungs- und Verrechnungsmodalitäten zu treffen (so auch LSG NRW, Urteil vom 22.12.2021 – L 11 KR 637/20 Rn. 49 <juris>). Selbst wenn man aber annähme, dass durch § 15 SVTr grundsätzlich eine Vereinbarung über die Vergütung getroffen würde, so bleibt festzuhalten, dass zumindest Abs. 4 der Norm sich nicht auf die von der Krankenkasse zu zahlenden Vergütungen bezieht, sondern auf die öffentlich-rechtlichen Erstattungsansprüche und deren vereinfachte Geltendmachung durch Aufrechnung durch die Krankenkassen. Die Erstattungsansprüche fallen aber nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V nicht unter die darin enthaltene Regelung.

 

cc) Schließlich lassen sich auch aus der zum 01.01.2020 neu geschaffenen Regelung des § 109 Abs. 6 SGB V keine Erkenntnisse über die Zulässigkeit eines bereits bestehenden Aufrechnungsverbotes gewinnen. Die Norm bestimmt, dass gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 01.01.2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen können. Die Aufrechnung ist nach Satz 2 allerdings möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. In der PrüvV können zudem abweichende Regelungen vorgesehen werden. Nach der Gesetzesbegründung war diese Neuregelung notwendig geworden, weil Krankenkassen in der Vergangenheit Rückforderungsansprüche gegen Krankenhäuser wegen überzahlter Vergütungen durch Aufrechnung realisiert hätten, was zu Liquiditätsengpässen auf Seiten der Krankenhäuser geführt habe (BT-Drs. 19/13397, S. 54). Der Gesetzgeber hatte also erkannt, dass zu weitreichende Aufrechnungsmöglichkeiten der Krankenkassen die Krankenhäuser in finanzielle Schieflage bringen konnten. Dies zum einen, weil durch Aufrechnungen die Krankenkassen ihre behaupteten Erstattungsansprüche schnell und ohne den Klageweg zu beschreiten geltend machen konnten. Zum anderen verlagerte sich so das Prozess- und insbesondere das Prozesskostenrisiko eines Klageverfahrens, in dem die klagenden Krankenhäuser zunächst den Kostenvorschuss einzahlen müssen, auf diese. Wenn der Bundesgesetzgeber aus diesen Gründen nun bundesgesetzlich ein weitgehendes Aufrechnungsverbot statuiert hat, so mag dies eine Neuerung darstellen. Dies sagt jedoch nichts über die Zulässigkeit bereits zuvor bestehender Aufrechnungsverbote aus. Vielmehr liegt es nahe, dass die Neuregelung gerade das Ziel verfolgte, die landesvertraglich sehr unterschiedlich geregelten Verrechnungsmodalitäten zu vereinheitlichen, weil bislang nicht in allen Bundesländern derartige Aufrechnungsverbote bestanden hatten. Wenn der Gesetzgeber einem bisherigen Missstand durch die Einführung eines bundeseinheitlichen Aufrechnungsverbotes begegnen wollte, so ist es fernliegend anzunehmen, dass er bereits bestehenden landesrechtlichen Aufrechnungsverboten ihre Zulässigkeit absprechen wollte. Eine Entscheidung, ob diese ermächtigungskonform waren, wird damit gerade nicht getroffen.

 

D. Der geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 15 Abs. 1 S. 4 SVTr i.V.m. § 288 Abs. 1 BGB. Allerdings begann die Verzinsung erst am 25.11.2017 und nicht bereits, wie von der Klägerin beantragt und vom SG ausgeurteilt, schon am 20.11.2017. Gemäß § 15 Abs. 1 SVTr sind Rechnungen innerhalb von 15 Kalendertagen nach Eingang zu begleichen. Ist der Fälligkeitstag ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, verschiebt er sich auf den nächstfolgenden Arbeitstag. Die vorliegend streitige Rechnung vom 09.11.2017 ist am Ausstellungstag bei der Beklagten eingegangen und wurde damit am 24.11.2017 (Freitag) fällig. Aus dem Umstand, dass die Beklagte ausweislich der vorgelegten Zahlungsmitteilung bereits am 17.11.2017 die Aufrechnung vornahm, ergibt sich nichts anderes. Ein Zinsanspruch entsteht nicht schon durch die konkludente Erfüllungsverweigerung in Form einer Aufrechnungserklärung. Eine antizipierte Erfüllungsverweigerung vor Eintritt der Fälligkeit löst noch keine Fälligkeit und damit auch keinen Verzug aus (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2013 – B 1 KR 59/12 R Rn. 26 m.w.N.). Der Zinsanspruch ergibt sich daher erst ab dem 25.11.2017.

 

E. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO. Eine Kostenquote allein auf Grund eines (Teil-)Obsiegens hinsichtlich der geltend gemachten Zinsen kommt wegen Geringfügigkeit nicht in Betracht.

 

F. Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Frage, ob das landesvertragliche Aufrechnungsverbot mit höherrangigem Recht vereinbar ist, von grundsätzlicher Bedeutung und bislang höchstrichterlich nicht geklärt ist. Ein entsprechendes Revisionsverfahren ist unter dem Aktenzeichen B 1 KR 14/22 R anhängig.

 

G. Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3, 47 Abs. 1 und 2 GKG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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