L 12 SO 204/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
12
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 28 SO 450/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 204/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.04.2019 aufgehoben, soweit der Klägerin ein höherer Betrag als 55.697,52 Euro zugesprochen wurde. 

Im Übrigen werden die Berufung zurückgewiesen und die weitergehende Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt 85 %, die Klägerin 15 % der Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 64.952,86 festgesetzt.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattung für stationäre Leistungen in der Zeit vom 12.06.2014 bis 31.05.2015.

 

Die Eltern des am 00.00.1998 geborenen N (im Folgenden: Hilfeempfänger) litten unter einer Alkoholsuchtproblematik, zunehmenden Paarkonflikten und Verwahrlosungsstrukturen und ließen sich im Jahr 2004 scheiden. Der Hilfeempfänger erhielt vor diesem Hintergrund zunächst von August 2004 bis Januar 2006 ambulante Jugendhilfe und lebte ab dem 02.02.2006 – ebenso wie sein älterer Bruder – in der Heimeinrichtung B in L. Der Hilfeempfänger besuchte regelmäßig seine jeweils in W getrennt lebenden Eltern, die laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) erhielten; die Mutter des Hilfeempfängers verstarb am 00.06.2013. Seit dem 12.06.2014 wurde der Hilfeempfänger wegen einer im April 2014 durchgeführten Intelligenztestung, die einen Gesamt-IQ von 54 ergab, vollstationär in einer Wohngruppe der Stiftung S Wohnen GmbH (im Folgenden: S) in O betreut. Die Kosten für diese und der vorherigen stationären Unterbringung (ab dem 02.02.2006) wurden bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Hilfeempfängers (09.08.2016) von der Klägerin als Hilfe zur Erziehung – Heimpflege – gemäß § 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) getragen. Das Kindergeld sowie die dem Hilfeempfänger zustehende Halbwaisenrente wurden auf Veranlassung der Klägerin an diese ausgezahlt. Seit dem 29.07.2016 ist ein gesetzlicher Betreuer für den Hilfeempfänger bestellt; dessen Aufgabenkreise umfassen die Gesundheitsfürsorge, die Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten, die Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern sowie Wohnungsangelegenheiten.

 

Ausweislich des Bescheides des Versorgungsamtes O vom 29.11.2013 wurde beim Hilfeempfänger ab dem 02.10.2013 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 aufgrund „hyperkinetischer Störungen mit Auswirkungen“ sowie „allergischer Veranlagung mit Auswirkungen“ festgestellt, wobei ein Einzel-GdB von 50 allein für die erstgenannte Störung zugrunde gelegt wurde. Im Rahmen eines Nachprüfverfahrens im Jahr 2017 stellte die Stadt O fest, dass der GdB unverändert bei 50 liege und teilte dies dem Hilfeempfänger in einem Schreiben vom 19.10.2017 mit.

 

Während der stationären Unterbringung im B und im Haus S wurden regelmäßig Fortschreibungen des Hilfeplans erstellt. Auf die Fortschreibungen vom 04.09.2013, 29.04.2014, 23.10.2014 („Vorinformation“) und 02.12.2014 wird insoweit Bezug genommen.

 

Der Hilfeempfänger besuchte im Schuljahr 2012/2013 die 8. Jahrgangsstufe der J-Schule in L. Es handelt sich hierbei um eine städtische Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ in der Primar- und Sekundarstufe I. Auf das aktenkundige 2. Schulhalbjahreszeugnis vom 19.07.2013 wird verwiesen.

 

Im Schuljahr 2013/2014 besuchte der Hilfeempfänger die P-Schule-Teilstandort L, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen“.

 

Im Schuljahr 2014/2015 besuchte er die K-Schule, eine private Förderschule mit Förderschwerpunkten in emotionaler, sozialer und geistiger Entwicklung.

 

Beim Hilfeempfänger wurden mehrfach Intelligenztestungen mit folgenden Ergebnissen durchgeführt:

 

Der gemäß dem kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchungsbericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie LVR-Klinikverbund W vom 28.01.2010 am 16.11.2009 und 07.01.2010 durchgeführte „Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder“ (HAWIK-IV) ergab einen Gesamt-IQ von 73 (Sprachverständnis Index: 75; wahrnehmungsgebundenes logisches Denken: Index 77; Arbeitsgedächtnis Index: 80; Verarbeitungsgeschwindigkeit Index: 83). Bei diesem Test werden kognitive Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen auf der Basis der o.g. Leistungsindizes bewertet. In dem Untersuchungsbericht vom 28.01.2010 wurde als Diagnose eine „hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ genannt. Der Hilfeempfänger zeige sich als umgänglicher Junge mit einer Begabung im unterdurchschnittlichen Bereich. Eine Beschulung auf der derzeitigen Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen erscheine demnach angemessen. Im Übrigen wird auf den Inhalt des Untersuchungsberichts Bezug genommen.

 

Der gemäß des Berichts des Kinder- und Jugendarztes bzw. Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. A vom 19.01.2013 durchgeführte sprachfreie CFT-20-R-Test ergab einen Gesamt-IQ von 70 (IQ Teil 1: 74; IQ Teil 2: 64). Laut Angabe des Arztes handelt es sich hierbei um einen sprachfreien Intelligenztest, der eine Aussage über die grundlegende „geistige Leistungsfähigkeit“ ermögliche. Der Schwerpunkt liege dabei auf dem Erkennen von Regeln und Gesetzmäßigkeiten sowie der Problemerfassung neuartiger Situationen. In seinem Bericht nannte Dr. A als Diagnosen einen „Verdacht auf Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)“, eine „Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen“, eine „Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“, einen „IQ 70 entspr. Grenzbereich Lernbehinderung/geistige Behinderung“, eine „Neurodermitis atopica“ und eine „konstitutionell verzögerte Pubertät“. Bei dem Hilfeempfänger handele es sich um einen Jungen mit einer konstitutionellen Verzögerung des Wachstums und der Pubertät. Er weise eine erhebliche Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten auf. Sein Leistungsniveau liege im Grenzbereich zwischen unterer Lernbehinderung und geistiger Behinderung. Bei dem Hilfeempfänger sei bereits früher eine Behandlung mit Methylphenidat begonnen worden. Im Rahmen des jetzt durchgeführten Auslassversuches hätten sich keine zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten im Sinne eines ADHS ergeben. Eine weitere Behandlung mit Methylphenidat sei nicht erforderlich.

 

Der am 03.04.2014 durchgeführte HAWIK-IV-Test durch Dr. A ergab einen Gesamt-IQ von 54 (Sprachverständnis Index: 55; wahrnehmungsgebundenes logisches Denken: Index 67; Arbeitsgedächtnis Index: 56; Verarbeitungsgeschwindigkeit Index: 71). In seiner Bescheinigung vom 08.05.2014 nannte Dr. A im Wesentlichen dieselben Diagnosen wie in seinem Bericht vom 19.01.2013 mit Ausnahme des „Verdachts auf eine ADHS“; ferner nannte er hier eine „leichte intellektuelle Behinderung IQ <70“ statt „IQ 70 entspr. Grenzbereich Lernbehinderung/geistige Behinderung“.

 

Aufgrund dieses letzten Tests beantragte die Klägerin beim Beklagten mit Schreiben vom 08.05.2014 die Fallübernahme und Kostenerstattung ab Bekanntwerden des Vorliegens der geistigen Behinderung (24.04.2014). Der Beklagte sei als überörtlicher Sozialhilfeträger für die Leistungserbringung zuständig.

 

In einer vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme vom 22.01.2015 führte Herr Z vom Medizinisch-Psychosozialen Fachdienst (MPD) aus, dass der letzte stark abweichende IQ-Wert (von 54) mehr als kritisch gesehen werden müsse. Zum einen fehle eine Verhaltensbeobachtung, zum anderen sei das Testprotokoll nicht klar zu lesen. Vergleiche man die Testung aus 2010 und 2014, falle auf, dass ein bestimmter Abfall von Werten nicht mit dem Intelligenzniveau zu erklären sei, sondern lediglich durch eine vermutete ADHS und/oder aufgrund fehlender Motivation oder anderer situativer Momente zu erklären sei. Ein Beleg dafür finde sich z.B. in der Vorinformation für ein Hilfeplangespräch vom 23.10.2014. Dort sei die Rede davon, dass der Hilfeempfänger oft unkonzentriert sei. Das Intelligenzniveau des Hilfeempfängers befinde sich fortgesetzt auf dem Niveau einer Lernbehinderung. So benutze er selbstständig ein eigenes Konto, sei gepflegt, könne Einkäufe selbstständig erledigen und besuche allein seinen Vater. Von einer wesentlichen Einschränkung der Teilhabefähigkeit könne also nicht die Rede sein. Eine wesentliche geistige Behinderung stehe nicht im Vordergrund. Der Anlass für die Wohnheimunterbringung seien psychosoziale Gründe gewesen.

 

Der Beklagte lehnte gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 02.02.2015 den Antrag auf Kostenübernahme ab und führte zur Begründung aus, eine geistige Behinderung des Hilfeempfängers stehe nicht im Vordergrund. Anlass für die Wohnheimunterbringung seien psychosoziale Gründe. Im Übrigen läge keine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung vor. Das Intelligenzniveau liege im Bereich der unteren Lernbehinderung. Der IQ-Wert (aus April 2014) passe nicht zu den vorangegangenen Testwerten.

 

Am 24.08.2015 hat die Klägerin Zahlungsklage beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) erhoben.

 

Am 13.04.2016 wurde auf Veranlassung der Klägerin bei der Chefärztin Frau Dr. C im Fachbereich Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik W ein sog. „Kaufman-Test zur Intelligenzmessung für Jugendliche und Erwachsene“ (K-TIM) durchgeführt. Nach dem psychodiagnostischen Testbefund vom 20.04.2016 ergab die Skala fluider Intelligenz ein Konfidenzintervall von 64 bis 73, die Skala kristalliner Intelligenz ein Konfidenzintervall von 57 bis 70 und die Skala Gesamtintelligenz ein Konfidenzintervall von 60 bis 71. Zusammenfassend kamen Frau Dr. C und die Psychologische Psychotherapeutin T zu dem Ergebnis, dass die gemessene intellektuelle Gesamtbefähigung im Bereich der leichten geistigen Behinderung liege. Der Hilfeempfänger sei somit dem Personenkreis wesentlich behinderter Menschen zuzuordnen. Im Übrigen wird auf den Testbefund vom 20.04.2016 Bezug genommen.

 

Die Klägerin hat im Klageverfahren die Ansicht vertreten, dass der Hilfeempfänger ausweislich der Feststellungen in den letzten beiden Gutachten (2014 und 2016) mit einem festgestellten IQ unter 70 geistig behindert sei. Der Beklagte sei daher zur Erstattung der seit erstmaliger Feststellung der geistigen Behinderung erbrachten Leistungen nach der Zuständigkeitsnorm des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII verpflichtet. Dabei komme es nicht darauf an, auf welcher Komponente das Verhalten des Hilfeempfängers und die daraus notwendige Heimunterbringung beruhen.

 

Die Klägerin hat eine Kostenübersicht für den von ihr geltend gemachten Erstattungszeitraum vom 03.04.2014 bis 31.05.2015 eingereicht, aus der sich – abzüglich des von ihr einbehaltenen Kindergeldes und der Halbwaisenrente des Hilfeempfängers – ein Gesamtbetrag von 64.952,86 Euro ergab. Enthalten waren hier neben den Kosten für die stationäre Unterbringung im B (03.04.2014 bis 11.06.2014) und im Haus S (12.06.2014 bis 31.05.2015) eine monatliche Taschengeld- und Bekleidungskostenpauschale sowie eine einmalige Beihilfe für eine Klassenfahrt.

 

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

 

den Beklagten zu verurteilen, die der Klägerin im Jugendhilfefall des Hilfeempfängers entstandenen Kosten ab Feststellung der geistigen Behinderung am 03.04.2014 (Testung) bis zum 31.05.2015 in Höhe von 64.952,86 Euro zu erstatten und den Beklagten zu verpflichten, diese Kosten für die Unterbringung des Hilfeempfängers auch für die Zukunft zu übernehmen.

 

Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte hat vorgetragen, dass auch der im Klageverfahren erhobene IQ-Wert nicht eindeutig im Bereich einer leichten Intelligenzminderung liege (kleiner gleich 69 gemäß ICD-10). Das Intelligenzniveau des Hilfeempfängers befinde sich auf dem Niveau einer Lernbehinderung. Gegen das Vorliegen einer geistigen Behinderung spreche auch, dass der GdB von 50 durch das zuständige Versorgungsamt nicht mit einer solchen Behinderung begründet worden sei. Auch liege eine wesentliche Teilhabeeinschränkung aufgrund der festgestellten Intelligenzminderung nach der Gesamtschau der Unterlagen nicht vor. Nicht zuletzt sei eine Hilfegewährung in einer vollstationären Einrichtung nicht aufgrund der Behinderung/ Beeinträchtigung erforderlich, sondern ausschließlich aufgrund fehlender Erziehungskompetenz der Eltern. Der Wechsel in das Haus S belege nicht den Eingliederungshilfebedarf. Gemäß dem Wohn- und Betreuungsverzeichnis für junge Menschen gehöre zur Zielgruppe der Wohngruppe „Dü2“, in der der Hilfeempfänger betreut wird, folgender Personenkreis: Menschen mit leichter bis mittelgradiger geistiger Behinderung, Lernbehinderung, leichter Körperbehinderung und/oder seelischer Behinderung; von Missbrauch Betroffene; verhaltensauffällige und psychisch kranke Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung; Schüler, Arbeiter, Berufsanfänger. Aus dieser Breite des potentiellen Personenkreises seien Rückschlüsse auf das Vorliegen einer geistigen Behinderung nicht angezeigt.

 

Einen Antrag des Hilfeempfängers vom 03.06.2016, mit dem er von der Klägerin Leistungen für die Zeit ab Vollendung des 18. Lebensjahres begehrte, leitete die Klägerin an den Beklagten mit Schreiben vom 18.07.2016 weiter. In einer weiteren Stellungnahme vom 04.07.2016 führte Herr Z vom MPD aus, dass der im Jahr 2016 erhobene IQ-Wert keine geistige Behinderung begründe und zudem eine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung nicht vorliege. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28.09.2016 den Antrag ab. Als Ergebnis eines vom Hilfeempfänger angestrengten Eilrechtsverfahrens (S 17 SO 90/18 ER; L 20 SO 406/18 B ER) erklärte sich der Beklagte bereit, ab dem 15.06.2018 (Eingang der Beschwerde beim LSG) ohne Anerkennung einer Rechtspflicht die laufenden Kosten für die stationäre Unterbringung bis längstens zur rechtskräftigen Entscheidung im hiesigen Verfahren zu zahlen.

 

Das SG hat – mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung – den Beklagten durch Urteil vom 11.04.2019 verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 12.06.2014 bis zum 31.05.2015 Kosten in Höhe von 56.569,36 Euro zu erstatten und fünf Sechstel der Kosten des Verfahrens zu tragen. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Klägerin ein Erstattungsanspruch gemäß § 104 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) im tenorierten Umfang zustehe. Für den streitigen Zeitraum habe sowohl eine Leistungspflicht der Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe nach §§ 27, 34 SGB VIII als auch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) gegen den Beklagten als Träger der Sozialhilfe bestanden. Dabei gehe die Leistungsverpflichtung des Beklagten der Verpflichtung zur Leistung von Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII vor. Der Beklagte sei als überörtlicher Sozialhilfeträger für die Eingliederungshilfe zuständig. Im vorliegenden Fall gehöre der Hilfeempfänger zum Kreis der grundsätzlich leistungsberechtigten Personen, weil er aufgrund seiner leichten geistigen Behinderung wesentlich in seiner Fähigkeit, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben, beeinträchtigt und im Vergleich zu anderen Kindern seiner Altersgruppe im weitaus stärkeren Maße auf fremde Hilfe angewiesen sei. Auch bestehe die Aussicht, dass die in § 53 Abs. 3 SGB XII umschriebene Aufgabe der Eingliederungshilfe erreicht werden könne. Sowohl nach der IQ-Testung durch Dr. A im April 2014 als auch nach der Testung durch Frau Dr. C sei von einer leichten geistigen Behinderung des Hilfeempfängers auszugehen. Hier liege nach dem Test aus April 2014 deutlich eine geistige Behinderung vor (IQ von 54). Das Gericht habe keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Auswertungen. Zwar sei kurz vor der Messung im April 2014 die Mutter des Hilfeempfängers verstorben, was Einfluss auf dessen Konzentrationsfähigkeit gehabt haben könnte. Dr. A sei jedoch der langjährig behandelnde Arzt des Hilfeempfängers und dürfte diesen Aspekt bei der Beurteilung der allgemeinen intellektuellen Funktionsfähigkeit entsprechend gewürdigt haben. Das Gros der Skala der von Frau Dr. C gemessenen Werte liege auch im Bereich der geistigen Behinderung (IQ unter 70), so dass die Feststellung der Ärztin, dass die Gesamtbefähigung im Bereich der leichten geistigen Behinderung liege, durchaus schlüssig sei. Der Hilfeempfänger sei auch in seiner Teilhabefähigkeit wesentlich eingeschränkt. Dagegen spreche nicht, dass der Hilfeempfänger Einkäufe erledigen und selbstständig sein eigenes Konto benutzen könne. Ausweislich des Fallvorstellungsbogens vom 08.05.2014 lasse sich der Hilfeempfänger auf Beziehungen zu seinen Betreuern ein und lasse sich dann lenken, Probleme entstünden im unstrukturierten Freizeitbereich und in Schule/ Praktikum. Der Hilfeempfänger benötige langfristig enge Begleitung und Betreuung. In der fachärztlichen Bescheinigung von Dr. A vom 08.05.2014 sei die Diagnose „klinisch-psychiatrisches Syndrom; Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen“ aufgeführt. Der Hilfeempfänger sei nicht in der Lage, selbstständig am gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen. Eine Alternative zu der Tag- und Nachtbetreuung habe auch nach Einlassung des Beklagten nicht bestanden, so dass ein ggf. bestehendes Ermessen hinsichtlich der Art und des Umfangs der Leistungserbringung auf Null reduziert gewesen wäre. Die Leistungen seien zudem gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich i.S.d. § 104 SGB X. Dabei sei für das Erfordernis der Deckungsgleichheit unerheblich, ob der junge Mensch Anspruchsinhaber beider Leistungen sei oder die Eltern Anspruchsinhaber der Hilfe zur Erziehung seien. Entscheidend sei nur, dass die Bedarfe derselben Person gedeckt würden. Es genüge für den Vorrang der Eingliederungshilfeleistungen nach dem SGB XII bereits diese Überschneidung der Leistungsbereiche; nicht erforderlich sei, dass der Schwerpunkt des Hilfebedarfs bzw. -zwecks im Bereich einer der den Eingliederungsbedarf auslösenden Behinderungen liege, oder dass eine der Behinderungen für die konkrete Maßnahme ursächlich sei. Die Klage sei dagegen unbegründet, soweit es um die Kostenerstattung für die Zeit vor dem 12.06.2014 gehe, weil es sich beim B mangels Betriebserlaubnis nicht um eine Einrichtung der Eingliederungshilfe handele.

 

Gegen das ihr am 29.04.2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27.05.2019 Berufung eingelegt, soweit nicht der komplette Erstattungsbetrag und damit die Kosten für den Zeitraum vom 03.04.2014 bis 11.06.2014 als erstattungsfähig erachtet wurden. Nachdem der Senat darauf hingewiesen hatte, dass die selbstständige Berufung der Klägerin mangels Erreichens des Berufungsstreitwerts nicht zulässig war, hat die Klägerin ihre selbstständige Berufung mit Schriftsatz vom 08.07.2019 zurückgenommen und gleichzeitig eine Anschlussberufung eingelegt. Diese hat sie – mangels Betriebserlaubnis für die Durchführung von Eingliederungshilfeleistungen im B – mit Schriftsatz vom 22.03.2022 wieder zurückgenommen.

 

Gegen das ihm am 30.04.2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte seinerseits am 28.05.2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt der Beklagte aus, dass das SG zu Unrecht auf die niedrigen IQ-Testungen abgestellt habe. Es entspreche der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung, dass erst bei einem IQ kleiner als 70 nach dem ICD-10 von einer geistigen Behinderung auszugehen sei (unter Hinweis auf u.a. OVG NRW Beschluss vom 29.09.2014, 12 E 774/14; OVG NRW Urteil vom 20.02.2002, 12 A 5322/00; LSG NRW Urteil vom 15.02.2016, L 20 SO 476/12). Bei den oberhalb dieser Stufe, mit einem IQ zwischen 70 und 84, anzusiedelnden Personen könne von einer geistigen Behinderung nicht mehr gesprochen werden. Das LSG NRW habe in einem Urteil vom 15.03.2018 (L 9 SO 389/16) bei einem ähnlich gelagerten Fall eine geistige Behinderung bei einem IQ von 65 nicht angenommen. Ferner habe das SG die gesamte Lebenssituation des Hilfeempfängers nicht ausreichend gewürdigt, insbesondere den Umstand, dass der im April 2014 durchgeführte Test nur zehn Monate nach dem Tod der Mutter, zu der der Hilfeempfänger eine innige Bindung gehabt habe, erfolgt sei und die Testung dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit negativ beeinflusst worden sei. Jedenfalls hätte das SG nicht einfach darauf abstellen dürfen, dass Dr. A diesen Aspekt beachtet habe, sondern hätte entsprechend nachfragen müssen. Ferner gehe aus dem ärztlichen Bericht vom 19.01.2013 hervor, dass der Hilfeempfänger nur bis etwa September 2012 aufgrund einer ADHS mit Methylphenidat behandelt worden sei. Auffällig sei, dass die Ergebnisse unter ADHS-Behandlung besser ausgefallen seien als ohne ADHS-Behandlung. Deswegen habe sein medizinischer Dienst zurecht darauf hingewiesen, dass es als sehr auffällig erscheinen müsse, dass die angebliche geistige Behinderung bei dem Hilfeempfänger erstmalig im Alter von 16 Jahren diagnostiziert worden sei. Der für die Einordnung als geistig Behinderter besonders prägende IQ-Test mit einem Gesamt-IQ von nur 54 erscheine auch deshalb zufällig und zweifelhaft, da alle Untertests höhere Werte als 54 aufgewiesen hätten. Zudem fehle es ausgerechnet in diesem Test, bei dem eine Beeinflussung durch den vorangegangenen Tod der Kindsmutter naheliege, an jeglichen Feststellungen zur Verhaltensbeobachtung. Es spreche aus Sicht des Beklagten alles dafür, dass der Hilfeempfänger am Tag der Testung vor allem abgelenkt und unmotiviert gewesen sei. Für einen Ausreißer bei der Testung im April 2014 spreche auch, dass in den Vorinformationen zum Hilfeplangespräch vom 23.10.2014 eingehend geschildert werde, dass das Leistungsvermögen des Leistungsberechtigten extrem tagesformabhängig sei und ständigen Schwankungen unterliege. Gleichzeitig zeige sich der Hilfeempfänger auch in vielen Lebensbereichen sehr selbstständig. Der Hilfeempfänger habe allein aufgrund der schwierigen häuslichen Problematik und des Ausfalls der Eltern als Erziehungspersonen der Heimbetreuung bedurft. Aus den verschiedenen Berichten im Jahr 2014 gehe hervor, dass der Hilfeempfänger zwar mit vielen Rechtschreibfehlern schreibe, aber mäßig lesen und sich sprachlich gut verständlich machen könne. Er bediene Handy und Telefon ohne Hilfe und könne mit dem PC umgehen. Der Hilfeempfänger achte auf sein Äußeres, nutze öffentliche Verkehrsmittel ohne Hilfe, verwalte sein Geld selbstständig, könne Einkäufe selbstständig erledigen, besuche alleine seinen in Viersen lebenden Vater und sei in die Wohngruppe gut integriert. Am 30.11.2018 sei er aus der Wohnheimbetreuung entlassen worden und lebe seitdem ohne weitere Hilfe in einer eigenen Wohnung in Viersen. Auch dies sei ein Indiz dafür, dass der Hilfeempfänger nicht aufgrund einer geistigen Behinderung der stationären Unterbringung bedurft habe.

 

Der Beklagte hat mitgeteilt, dass der Zeitraum vom 01.06.2015 bis 08.06.2016 zwischen den Beteiligten ebenfalls streitig sei. Er habe ferner für den Zeitraum vom 15.06.2018 bis 30.11.2018 vorläufig Kosten der stationären Unterbringung übernommen und daneben einen Barbetrag an den Hilfeempfänger ausgekehrt.

 

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

 

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.04.2019 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

 

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

 

Die Klägerin meint, dass nur die fachlichen Feststellungen der Gutachter maßgeblich seien. Alle erfolgten Testungen hätten zur Diagnose einer geistigen Behinderung geführt. Vor diesem Hintergrund sei der Sozialhilfeträger bei einer Feststellung eines IQ unter 70 auf jeden Fall leistungspflichtig. Unstreitig bestehe auch weiterhin ein Eingliederungshilfebedarf, was die gesetzliche Betreuung des Hilfeempfängers zeige.

 

Auf Nachfrage des Senats hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 07.11.2022 erklärt, dass sich die auf den Streitzeitraum vom 12.06.2014 bis 31.05.2015 entfallenden Kosten auf 55.697,52 Euro belaufen, wobei das einbehaltene Kindergeld und die Waisenrente anteilig abgezogen wurden. 

 

Der Senat hat eine Stellungnahme des gesetzlichen Betreuers des Hilfeempfängers Herrn R vom 17.03.2022 angefordert sowie vom Amtsgericht Mönchengladbach im Betreuungsverfahren erstellte Gutachten des Herrn Dr. Y vom 22.06.2016 sowie des Herrn Dr. D vom 24.08.2021 beigezogen. Auf den Inhalt der Stellungahme und der Gutachten wird jeweils Bezug genommen.

 

Die Beteiligten haben sich in Schriftsätzen vom 07.11.2022 und 08.11.2022 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich des weiteren Inhalts des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten der Beteiligten, die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten der Schwerbehindertenbehörde der Stadt Mönchengladbach Bezug genommen. Diese Akten sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Mit dem Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

 

A. Gegenstand des Verfahrens ist allein die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 11.04.2019 und damit eine Erstattungssumme in Höhe von 56.569,36 Euro über einen Leistungszeitraum vom 12.06.2014 bis 31.05.2015. Über die selbstständige Berufung der Klägerin und ihre Anschlussberufung über einen Betrag von 8.383,50 Euro ist nicht zu entscheiden, weil die Klägerin diese Berufungen in Schriftsätzen vom 08.07.2019 und 22.03.2022 jeweils wieder zurückgenommen hat.

 

Soweit die Klägerin im Klagebegründungsschriftsatz vom 24.08.2015 noch den zusätzlichen Antrag gestellt hatte, dass der Beklagte verpflichtet werden solle, die zukünftigen Kosten für die Unterbringung des Hilfeempfängers zu übernehmen, hat das SG darüber keine Entscheidung getroffen, die vom Senat zu überprüfen wäre. Insoweit hat die Klägerin im Rahmen ihrer zeitweise anhängigen Berufungen auch keine Einwände geltend gemacht. Ferner hat die Klägerin weder die Kosten für die stationäre Unterbringung vom 01.06.2015 bis zum 09.08.2016 (Volljährigkeit des Hilfeempfängers) beziffert, noch hat sie die Klage im Rahmen einer Anschlussberufung auf die Kosten für die Zeiträume ab dem 01.06.2015 erweitert. Vor diesem Hintergrund kommt es auf die Zulässigkeit einer solchen Anschlussberufung nicht an (insoweit ablehnend: BSG Urteil vom 26.10.2017, B 8 SO 12/16 R, Rn. 15 f., juris).

 

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und teilweise begründet.

 

B. Die Berufung des Beklagten ist zulässig.

 

I. Die Berufung des Beklagten ist bereits wegen der Höhe der Erstattungsforderung von 56.569,36 Euro kraft Gesetzes ohne Zulassung statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG).

 

II. Weiterhin hat der Beklagte seine Berufung auch fristgerecht eingelegt. Gegen das ihm am 30.04.2019 zugestellte Urteil hat er am 28.05.2019 beim Landessozialgericht und damit innerhalb der Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG Berufung eingelegt.

 

III. Verfahrenshindernisse bestehen nicht. Eine notwendige Beiladung des Hilfeempfängers nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG ist nicht gegeben, weil er die Leistung bereits erhalten hat, diese nicht nochmals beanspruchen kann und die Entscheidung über die Erstattungsforderung keine Auswirkungen auf seine Rechtsposition hat (vgl. BSG Urteile vom 25.04.2013, B 8 SO 12/12 R, Rn. 9, juris; vom 12.11.2013, B 1 KR 27/12 R, Rn. 8, juris; und vom 26.10.2017, B 8 SO 12/16 R, Rn. 12 m.w.N., juris). Auch eine Beiladung der Stiftung S Wohnen GmbH als Trägerin der Unterkunft des Hilfeempfängers kommt nicht in Betracht, weil diese im Erstattungsstreit (nach bereits erfolgter Bezahlung) nicht betroffen ist (BSG Urteil vom 26.10.2017, a.a.O.; LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 06.09.2018, L 8 SO 2/16, Rn. 42, juris).

 

C. Die Berufung des Beklagten ist teilweise begründet. Das SG hat den Beklagten zu Recht zur Kostenerstattung bis zu einem Betrag von 55.697,52 Euro verurteilt. Soweit das SG im angefochtenen Urteil darüber hinausgegangen ist, ist das Urteil dagegen rechtswidrig und insoweit aufzuheben.

 

I. Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig. Mangels Vorliegens eines Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen den Beteiligten war weder ein Vorverfahren nach § 78 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 SGG durchzuführen noch eine Klagefrist (§ 87 SGG) zu wahren.

 

II. Die Klage ist in Höhe eines Erstattungsbetrages von 55.697,52 Euro begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenerstattung in dieser Höhe für Leistungen, die sie zu Gunsten des Hilfeempfängers im Zeitraum vom 12.06.2014 bis 31.05.2015 erbracht hat. Soweit die Klageforderung darüber hinausgeht, ist die Klage dagegen unbegründet und insoweit abzuweisen.

 

1. Der Erstattungsanspruch richtet sich nicht nach § 102 SGB X, weil es an der insoweit  erforderlichen Vorläufigkeit der Leistungsgewährung im rechtlichen Sinne mangelt. In dem bloßen Vorrang-Nachrang-Verhältnis des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.) zwischen dem Träger der Sozialhilfe und dem Jugendhilfeträger fehlt es an einem Kompetenzkonflikt. Der Vorrang der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. bewirkt auf der Ebene der Verpflichtungen zum Hilfebegehrenden nämlich nicht die Freistellung des nur nachrangig verpflichteten Trägers der Jugendhilfe und eine alleinige Zuständigkeit des vorrangig zuständigen Leistungsträgers. Der Jugendhilfeträger bleibt vielmehr zur Erbringung der Leistung solange (auch) zuständig und verpflichtet, bis die Leistungen als vorhergehende Maßnahmen der Eingliederungshilfe von dem Sozialhilfeträger verantwortet werden (OVG NRW Urteil vom 01.04.2011, 12 A 153/10, Rn. 38 f. m.w.N., juris; LSG NRW Urteil vom 28.01.2013, L 20 SO 170/11, Rn. 40, juris).

 

2. Der Erstattungsanspruch folgt auch nicht aus § 105 SGB X, weil die Klägerin insoweit nicht als „unzuständiger Leistungsträger“ im Sinne der Norm gehandelt hat. Denn sie hat als örtlich und sachlich zuständiger Leistungsträger Hilfe zur Erziehung gemäß § 34 SGB VIII erbracht. Ihre örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 86 Abs. 1 S. 1 und 3 SGB VIII, da der nach dem Tod der Mutter allein sorgeberechtigte Vater des Hilfeempfängers seinen gewöhnlichen Aufenthalt in W hatte. Die sachliche Zuständigkeit der Klägerin für die Leistungserbringung folgt aus § 85 Abs. 1 SGB VIII, § 69 Abs. 1 SGB VIII i.V.m. § 1a Abs. 1  Erstes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (AG KJHG NRW) vom 12.12.1990 (GV. NW. S. 664).

 

3. Der Erstattungsanspruch folgt aber aus § 104 SGB X. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen (dazu a.), ist nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte (dazu b.), soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (dazu c.). Der Anspruch darf nicht nach § 111 SGB X ausgeschlossen sein (dazu d.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

 

a. Ein Fall des § 103 SGB X liegt nicht vor. Hat ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und ist der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen, ist nach § 103 Abs. 1 SGB X der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. § 104 SGB X ist in erster Linie für die Fälle bestimmt, in denen für den gleichen Zeitraum ein Anspruch auf mehrere Sozialleistungen besteht, für die aber das Gesetz von vornherein eine materiell-rechtliche Regelung der Rangfolge getroffen hat, während § 103 SGB X Tatbestände erfassen soll, in denen nachträgliche Ereignisse eine andere Beurteilung der Rechtslage verlangen (BSG Urteil vom 13.09.1984, 4 RJ 37/83, Rn. 15, juris). Ist der Rechtsgrund für die Leistung nachträglich entfallen, so findet § 103 SGB X Anwendung, bleibt der Rechtsgrund bestehen, ohne dass jedoch eine vorläufige Leistung i.S.v. § 102 SGB X vorliegt, so regelt sich der Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X. Ein nachträgliches Ereignis i.S. des § 103 SGB X liegt hier nicht vor; vielmehr bestehen für den gleichen Zeitraum Ansprüche auf mehrere Sozialleistungen (Jugendhilfe in Form der Heimerziehungshilfe einerseits und Eingliederungshilfe andererseits), wobei das Gesetz in § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. eine materiell-rechtliche Regelung der Rangfolge der Ansprüche getroffen hat.

 

b. Der Erstattungsanspruch des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X setzt weiter voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss. Dies ist hier der Fall.

 

In dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 12.06.2014 bis 31.05.2015 bestand im Hinblick auf die Unterbringung und Betreuung des Hilfeempfängers in der Einrichtung S sowohl ein Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach §§ 27 ff., 34 SGB VIII auf Heimerziehung (dazu aa.) als auch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB X (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.), § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII (in der vom 03.12.2013 bis 31.12.2017 geltenden Fassung, a.F.) i.V.m. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX, in der jeweils bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung, a.F.) in einem Heim (dazu bb.). Die Klägerin ist im Sinne des § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X die im Verhältnis zum Beklagten nachrangig zur Leistung verpflichtete Leistungsträgerin (dazu cc.).

 

aa. Nachdem die Eltern des Hilfeempfängers unter zunehmender Alkoholsuchtproblematik, Paarkonflikten und Verwahrlosungsstrukturen litten und sich im Jahr 2004 scheiden ließen, sind zu Recht für den Hilfeempfänger ab dem 12.06.2014 vollstationäre Leistungen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff., 34 SGB VIII in einer Wohngruppe der Stiftung S in O erbracht worden.

 

Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf des Kindes; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden, § 27 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VIII. Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern (LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 06.09.2018, L 8 SO 2/16, Rn. 53, juris). Dass die Erziehung des damals 15-Jährigen schwerbehinderten Hilfeempfängers angesichts des Todes seiner Mutter im Juni 2013 und des Ausfalls der väterlichen Erziehungsleistung nicht mehr in einer seinem Wohl entsprechenden Weise gewährleistet war, steht ebenso außer Frage wie der Umstand, dass für den Hilfeempfänger schon aufgrund seiner Entwicklungsverzögerung und seines Reifegrades nur die Unterbringung und Betreuung in einem Heim nach § 34 SGB VIII als geeignet und notwendig in Betracht kam. Dies ergibt sich hinlänglich aus den zahlreichen Fortschreibungen des Hilfeplans der Jahre 2013 und 2014 und wird auch von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen.

 

bb. Der Hilfeempfänger konnte die vollstationäre Unterbringung und Betreuung in einem Heim auch als Leistung der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 Abs. 1 S. 1, 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. i.V.m. §§ 2 Abs. 1 S. 1, 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 SGB IX a.F. verlangen.

 

Der Beklagte war als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich und örtlich für Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zuständig. Dies ergibt sich für die sachliche Zuständigkeit aus § 97 Abs. 2 S. 1 SGB XII i.V.m. § 2 Buchst. a) Landesausführungsgesetz zum SGB XII für das Land NRW (AG-SGB XII NRW, in der bis zum 30.06.2016 geltenden Fassung, a.F.) und § 2 Abs. 1 Nr. 1a Ausführungsverordnung zum SGB XII für das Land NRW (AV-SGB XII NRW, in der bis zum 30.06.2015 geltenden Fassung, a.F.). Der Beklagte ist gemäß § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII auch örtlich zuständig. Danach ist für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten. Hier hatte der Hilfeempfänger vor der Aufnahme in der Wohngruppe 2 der Einrichtung S in O zum 12.06.2014 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im B in L und davor am Wohnort seiner Eltern in W und damit zu jedem Zeitpunkt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten.

 

Nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Nach § 53 Abs. 3 SGB XII a.F. ist es die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (S. 1). Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von der Pflege zu machen (S. 2). Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind – nicht abschließend – in § 54 SGB XII a.F. aufgeführt, wobei § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. einen Verweis auf die §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX a.F. enthält. Nach § 55 SGB IX a.F. werden als – hier allein in Betracht kommende – Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen. Dies sind nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX a.F. unter anderem Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten.

 

Dem Hilfeempfänger steht Eingliederungshilfe in einem Heim zu. Er gehört zu dem eingliederungsberechtigten Personenkreis im Sinne des § 2 Abs. 1 SGB IX. Die vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen attestieren dem Hilfeempfänger aufgrund der seit seiner frühesten Kindheit aufgetretenen Entwicklungsrückstände und der festgestellten Intelligenzverminderung eine leichte geistige Behinderung. Die vom Beklagten dagegen formulierten Einwände sind nicht stichhaltig. Unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten und des Akteninhalts geht der Senat nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§§ 153 Abs. 1, 128 Abs. 1 S. 1 SGG) davon aus, dass eine geistige Behinderung beim Hilfeempfänger vorliegt (dazu <1>), die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabe an der Gesellschaft bedingt (dazu <2>). Ferner war die Heimunterbringung im Falle des Hilfeempfängers auch notwendig (dazu <3>).

 

(1) Beim Hilfeempfänger bestand im Streitzeitraum eine (wesentliche) geistige Behinderung i.S.v. § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. Der Begriff der wesentlichen geistigen Behinderung wird in § 2 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHVO, in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.) näher definiert. Danach sind geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. Hierbei ist unerheblich, auf welcher Ursache die Einschränkung geistiger Kräfte beruht. Entscheidend ist auch nicht, wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (BSG Urteil vom 22.03.2012, B 8 SO 30/10 R, Rn. 19, juris; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 10.12.2014, L 2 SO 4518/12, Rn. 29, juris; OVG NRW Beschluss vom 10.08.2017, 12 B 754/17, Rn. 18, juris). Die Regelung des § 2 EinglHVO a.F. geht hinsichtlich des Grades ihrer Konkretisierung nicht über § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. hinaus. An Stelle einer wesentlichen Fähigkeitsbeeinträchtigung wird von einer erheblichen gesprochen. Neben der Feststellung der Fähigkeitsbeeinträchtigung muss auch hier eine Feststellung oder Prognose des tatsächlichen Grades der Teilhabebeeinträchtigung hinzukommen (Bieritz-Harder in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Auflage 2020, Kap.: Eingliederungshilfe, Rn. 12 m.w.N.).

 

Bei der Abgrenzung der geistigen Behinderung von einer lediglich unterdurchschnittlichen Intelligenz kann allein von unterdurchschnittlicher Intelligenz bzw. einer reinen Lernbehinderung in der Regel nicht mehr gesprochen werden, wenn der IQ unterhalb von 70 liegt (vgl. dazu OVG NRW Urteil vom 20.02.2002, 12 A 5322/00, Rn. 47 ff., juris; OVG NRW Beschluss vom 29.09.2014, 12 E 774/14, Rn. 35, juris). Vielmehr wird innerhalb eines IQ-Bereichs von 55 bis 69 eine zwar leichte, aber dennoch wesentliche geistige Behinderung angenommen (LSG NRW Urteil vom 28.01.2013, L 20 SO 170/11, Rn. 53, juris; OVG NRW Beschluss vom 15.03.2012, 12 A 1792/11, Rn. 4 ff., juris). Bei den oberhalb dieser Stufe, mit einem IQ zwischen 70 und 84 anzusiedelnden Personen kann dagegen von geistiger Behinderung nicht mehr gesprochen werden (OVG NRW Urteil vom 20.02.2002, 12 A 5322/00, Rn. 51).

 

Diese Einschätzung stimmt überein mit der ICD-10-Klassifizierung, Version 2014, die nach dem Diagnose-Schlüssel F70 eine leichte Intelligenzminderung bei einem IQ-Wert von 50 bis 69 annimmt, wobei eine Debilität und leichte geistige Behinderung inkludiert sind. Die Lernbehinderung (ICD-10: F81.9) wird demgegenüber als bloße Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten definiert, ohne dass eine leichte geistige Behinderung vorliegen müsste.

 

Dennoch ist zu betonen, dass das alleinige Abstellen auf einen Gesamt-IQ bereits der vom BSG (vgl. Urteil vom 22.03.2012, B 8 SO 30/10 R, Rn. 19, juris) geforderten wertenden Betrachtung der Auswirkungen der Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeiten nicht gerecht wird. Als Kriterien zur Feststellung der Wesentlichkeit der geistigen Behinderung müssen vielmehr verschiedene Faktoren herangezogen werden, die insbesondere auf den Grad der Selbstständigkeit bei der Alltagsbewältigung, bei Kindern insbesondere im Bereich der Beschulung, sowie der damit zusammenhängenden Notwendigkeit einer (ständigen) personellen und ggf. sächlichen (z.B. durch Hilfsmittel) Begleitung der betroffenen Person abstellen (LSG Baden-Württemberg Urteil vom 10.12.2014, L 2 SO 4518/12, Rn. 30, juris; LSG NRW Urteil vom 15.03.2018, L 9 SO 389/16, n.v.).

 

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) weist im Rahmen ihrer „Orientierungshilfe für die Feststellungen der Träger der Sozialhilfe zur Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB XII i.V.m. der EinglHV“ vom 24.11.2009 (abrufbar unter: https://www.bagues.de/spur-download/bag/orientierungshilfe_behinderungsbegriffendf_24112009.pdf, S. 13 f., abgerufen am 08.11.2022) nachvollziehbar darauf hin, dass eine alleinige Berücksichtigung von IQ-Werten nicht ausreichend sei. Die Orientierungshilfe empfiehlt vielmehr, zur Ausfüllung der gesetzlichen Vorschriften auf die Erläuterungen der ICD-10 sowie des „Diagnostischen Statistischen Manuals Psychischer Störungen“ zurückzugreifen. Beim DSM handelt es sich um ein weltweit angewandtes Klassifikationssystem der psychischen Störungen. Nach dem seit Mai 2013 gültigen und hier maßgeblichen „DSM 5“ ist eine intellektuelle Beeinträchtigung (intellektuelle Entwicklungsstörung) eine Störung, die während der frühen Entwicklungsphase beginnt und die sowohl intellektuelle als auch adaptive Funktionsdefizite in konzeptuellen, sozialen und alltagspraktischen Bereichen umfasst. Es müssen dabei folgende drei Kriterien erfüllt sein: Defizite in intellektuellen Funktionen, wie Schlussfolgern, Problemlösen, Planen, abstraktem Denken, Urteilen, schulischem Lernen und Lernen aus Erfahrung, die durch eine klinische Beurteilung und durch individualisierte, standardisierte Intelligenzdiagnostik bestätigt werden kann (Kriterium A); Defizite in der Anpassungsfähigkeit, wodurch entwicklungsbezogene und soziokulturelle Standards von Selbstständigkeit und sozialer Kompetenz nicht erreicht werden. Ohne eine kontinuierliche Unterstützung schränken diese adaptiven Beeinträchtigungen das Funktionsniveau in einer oder mehreren Aktivitäten des täglichen Lebens ein, beispielsweise in der Kommunikation, der sozialen Teilhabe und in einem unabhängigen Leben. Diese Einschränkungen erstrecken sich über mehrere Lebensbereiche, wie die Familie, Schule, Arbeit und das soziale Umfeld (Kriterium B); Beginn der intellektuellen und adaptiven Funktionsdefizite in der frühen Entwicklungsphase (Kriterium C). Der Schweregrad wird in „leicht“, „mittel“, „schwer“ und „extrem“ unterteilt. Zu einer leichten intellektuellen Beeinträchtigung im kognitiven Bereich wird ausgeführt, dass bei Schulkindern und Erwachsenen Schwierigkeiten beim Erlernen schulischer Fertigkeiten, wie Lesen, Schreiben, Rechnen, beim Umgang mit Zeit oder Geld auftreten, wobei Unterstützung in einem oder mehreren Bereichen zur Erreichung altersbezogener Erwartungen notwendig ist. Im Vergleich zu Gleichaltrigen lässt sich eine im Konkreten verhaftete Herangehensweise an Probleme und Lösungen erkennen. Zu einer leichten intellektuellen Beeinträchtigung im sozialen Bereich heißt es, dass die Person verglichen mit altersgemäß entwickelten Gleichaltrigen sich unreif verhält. Zum Beispiel hat sie Schwierigkeiten in der genauen Wahrnehmung von sozialen Hinweisreizen von Gleichaltrigen. Kommunikation, Konversation und Sprache sind konkreter und unreifer, als für das Alter zu erwarten. Es können Schwierigkeiten bei der altersadäquaten Regulation von Emotionen und Verhalten auftreten. Das soziale Urteil ist unreif für das Alter und die Person kann leicht von anderen beeinflusst werden (Leichtgläubigkeit). Zu einer leichten intellektuellen Beeinträchtigung im alltagspraktischen Bereich heißt es, die Person kann altersgerecht für sich selbst sorgen. Betroffene benötigen aber einige Unterstützung bei komplexen Alltagsaufgaben im Vergleich zu Gleichaltrigen. Die Freizeitaktivitäten ähneln denen von Gleichaltrigen, obwohl die Beurteilung der Auswirkung der Aktivitäten auf das eigene Wohlbefinden und die Organisation solcher Aktivitäten der Unterstützung bedarf (vgl. Falkai/Wittchen (Hg.): Diagnostische Kriterien DSM-5, Göttingen 2015, S. 23 ff.).

 

Unter Berücksichtigung der voranstehenden Kriterien und bei wertender Gesamtbetrachtung aller Tatsachen, insbesondere unter Berücksichtigung der persönlichen und geistigen Entwicklung des Hilfeempfängers seit dem Jahr 2010 handelt es sich vorliegend um eine leichte geistige Behinderung.

 

(a) Dafür lassen sich zunächst die beim Hilfeempfänger durchgeführten Intelligenztests anführen. Diese sind nach der ICD-10-Klassifikation zur Ermittlung des Schweregrades einer Intelligenzstörung aussagekräftig. IQ-Tests werden auch im DSM 5 und von der BAGüS in ihren o.g. Empfehlungen vom 24.11.2009 als zulässiges Instrument zur Bestimmung einer geistigen Behinderung anerkannt.

 

Der erste durchgeführte IQ-Test nach HAWIK-IV in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik in Viersen vom 28.01.2010 ergab bei dem damals 11-Jährigen Hilfeempfänger noch einen Gesamt-IQ von 73, wobei der Hilfeempfänger in allen getesteten Bereichen Werte oberhalb eines Werts von 70 erreichte. Legte man das zu Grunde und die sowohl hier als auch im GdB-Feststellungsbescheid vom 29.11.2013 genannte Diagnose einer „hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ (ICD-10: F90.1), könnte von einer geistigen Behinderung nicht ausgegangen werden. Hyperkinetische Störungen sind durch ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet, das in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftritt. Sie werden – ebenso wie die Diagnose einer ADHS (ICD-10: F90.0) – außerhalb der Intelligenzstörungen klassifiziert.

 

Die nachfolgenden IQ-Tests und die weitere Entwicklung des Hilfeempfängers sind aber ein deutlicher Beleg für das Vorliegen einer geistigen Behinderung. So ermittelte der langjährige Behandler des Hilfeempfängers, der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. A in seinem Bericht vom 19.01.2013 bei dem damals 14-Jährigen Hilfeempfänger einen Gesamt-IQ von 70. Er stellte bereits hier eine erhebliche Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten des Hilfeempfängers fest. Dessen Leistungsniveau liege im Grenzbereich zwischen unterer Lernbehinderung und geistiger Behinderung. Dr. A stellte hier auch ausdrücklich fest, dass sich keine zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten im Sinne einer ADHS ergeben hätten und eine weitere Behandlung mit Methylphenidat deshalb nicht erforderlich sei. Damit ist der Behauptung des Beklagten, dass unter der ADHS-Medikation bessere Testergebnisse erzielt worden wären als ohne diese Medikation, der Boden entzogen.

 

Die leichte geistige Behinderung, die sich bereits in dem ärztlichen Befundbericht vom 19.01.2013 angedeutet hatte, wurde sodann durch den während des Klageverfahrens beim damals 17-Jährigen Hilfeempfänger durchgeführten IQ-Test vom 13.04.2016 bestätigt. Die Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik W Frau Dr. C und die Psychologische Psychotherapeutin T stellten eine Gesamtintelligenz von 60 bis 71 fest. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die gemessene intellektuelle Gesamtbefähigung im Bereich der leichten geistigen Behinderung zu verorten ist und der Hilfeempfänger im Vergleich zum Erwartungswert seiner Altersgruppe im unterdurchschnittlichen Bereich liegt. Der Test ist zwar nach Ablauf des Streitzeitraums erfolgt; die zeitliche Nähe zu diesem rechtfertigt aber die Verwertung des Testergebnisses. Der Testbefund vom 20.04.2016 enthält zudem eine Verhaltensbeobachtung des Hilfeempfängers während des Tests, so dass von der ausreichenden Berücksichtigung des Verhaltens und der Persönlichkeit des Hilfeempfängers bei der Auswertung auszugehen ist.

 

(b) Für die Annahme einer leichten geistigen Behinderung sprechen auch die beiden Gutachten, die während des Betreuungsverfahrens vom Amtsgericht Mönchengladbach in Auftrag gegeben wurden. Sie hatten zwar eine andere Fragestellung zum Gegenstand und sind zeitlich außerhalb des Streitzeitraums angefertigt worden. Allerdings bestätigen sie eine Entwicklung, die bereits in der Kindheit des Hilfeempfängers angelegt war und durch die bis dahin durchgeführten IQ-Tests untermauert wurde. Vor diesem Hintergrund sind die Gutachten für die Frage, ob eine geistige Behinderung vorliegt, ergiebig.

 

In seinem Gutachten vom 22.06.2016 diagnostizierte Herr Dr. Y ausdrücklich eine leichte geistige Behinderung mit Persönlichkeitsreifestörungen. Die Diagnose ist angesichts der erheblichen Schwierigkeiten des Hilfeempfängers beim Rechnen und Lesen und der Beantwortung simpler Fragen nachvollziehbar. So konnte der Hilfeempfänger einfache Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 20 nur mit Mühe und langsam lösen. Er wusste nicht, wie viele Tage ein Jahr hat. Er wusste, dass ein Jahr zwölf Monate hat, konnte diese jedoch nicht in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Er konnte nur drei Jahreszeiten benennen. Einen ihm vom Gutachter dargebotenen leichten Text konnte er nur stockend und fehlerhaft lesen und war nicht in der Lage, das Gelesene mit eigenen Worten wiederzugeben. Der Gutachter stellte fest, dass die geistige Behinderung und das daraus resultierende Unvermögen zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten voraussichtlich auf unbestimmte Zeit fortbestehen werden. Dass der Hilfeempfänger sich seiner eigenen Einschränkungen bewusst war, ergibt sich daraus, dass er nicht nur um die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung, sondern auch um die Einrichtung eines Einwilligungsvorbehalts für seine finanziellen Angelegenheiten gebeten hat.

 

In einem weiteren vom Betreuungsgericht in Auftrag gegebenen Gutachten vom 24.08.2021 führte der Facharzt für Psychiatrie-Psychotherapie Dr. D über den damals 23-Jährigen Hilfeempfänger aus, dass eine mäßige Minderung der höheren Intelligenzfunktionen vorliegt, nämlich ein auffällig reduziertes Vermögen zum abstrahierenden theoretischen Denken und ein Haften an Konkretem und Gewohntem. Das getestete Allgemeinwissen des Hilfeempfängers war nennenswert eingeschränkt; er konnte die Fragen des Sachverständigen, wenn überhaupt, nur einfach beantworten. Lesen und Schreiben konnte er nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht. Die rechnerischen Aufgaben wie relativ einfaches Addieren, Subtrahieren und Multiplizieren waren zwar möglich, aber erschwert. Als Diagnosen nannte der Arzt eine „Intelligenzminderung leichten Grades mit geringfügiger Verhaltensstörung“, eine „mangelhafte Entwicklung schulischer Fertigkeiten“ und eine „Lese- und Rechtschreibstörung“. Diese führte der Sachverständige auf angeborene oder frühkindlich erworbene organische Defizite mit daraus folgenden Störungen und über Jahre bestehenden Entwicklungsverzögerungen zurück. Auch heute bestünden mäßige Zeichen einer Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung, sodass er mit der Erledigung seiner persönlichen Angelegenheiten stark überfordert und auf eine fremde Hilfe in diversen Angelegenheiten angewiesen sei. Deswegen empfahl der Sachverständige die Fortsetzung der Betreuung. Störungen der Intelligenz sind nach den Angaben des Sachverständigen der Hauptgrund, dass der Hilfeempfänger seine eigenen persönlichen Angelegenheiten selbst nicht ausreichend regeln kann. Gerade die zuletzt genannte Aussage des Gutachters verdeutlicht, dass nicht eine vom Beklagten behauptete, von den Behandlern des Hilfeempfängers im Streitzeitraum nicht verifizierte ADHS, sondern eine geistige Behinderung Ursache der Entwicklungsverzögerung ist.

 

Die von den Gutachtern beschriebenen Einschränkungen stimmen im Übrigen mit der vom Senat eingeholten Stellungnahme des gesetzlichen Betreuers des Hilfeempfängers, Herrn R, vom 17.03.2022 überein. Darin gab dieser an, dass die Naivität und die sicherlich vorhandene Intelligenzminderung dem Hilfeempfänger oft im Weg stünden. Der Hilfeempfänger versuche nach Kräften, sein Leben bzw. seinen Alltag zu organisieren, stoße jedoch zeitweise an seine Grenzen. Grundsätzlich komme er zurecht, benötige allerdings seine Unterstützung bei Behördenangelegenheiten und teilweise Finanzen. Das Lesen, Rechnen und Schreiben falle ihm sehr schwer. Allein die Tatsache, dass der Hilfeempfänger seit seiner Volljährigkeit allein in einer Wohnung leben kann, kann über das Vorliegen erheblicher Beeinträchtigungen bei der Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten nicht hinwegtäuschen.

 

(c) Auch wenn in den diversen Fortschreibungen des Hilfeplans keine ärztlichen Diagnosen oder Befunde zu finden sind, korrelieren sie doch mit der von den Ärzten und Therapeuten ab dem Jahr 2013 festgestellten leichten geistigen Behinderung des Hilfeempfängers.

 

Während in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 04.09.2013 noch davon die Rede war, dass der Hilfeempfänger sich schulisch von seinem Leistungsniveau im unteren Drittel befinde, sein Praktikum äußerst positiv verlaufen sei und er gute Entwicklungsfortschritte zeige, wurde in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 29.04.2014 zwar auch noch davon gesprochen, dass sich sein Verhalten gut verbessert habe. Gleichwohl wurde hier ausgeführt, dass der Hilfeempfänger nicht immer angemessenes Sozialverhalten zeige, bei Grenzsetzungen zunehmend aufbrausend und beleidigend reagiere, oft nicht mehr erreichbar und nicht einsichtig sei. Die schulischen Aufgaben erledige er dann, wenn er entsprechend Lust habe und seine drei Praktika habe er mangels Reife nicht durchhalten können. Dies war auch der Grund, warum der Hilfeempfänger in einer Projektklasse für Kinder mit einem besonderen Förderbedarf untergebracht wurde.

 

In einer „Vorinformation zum Hilfeplangespräch“ vom 23.10.2014 wurde zur kognitiven/psychischen Entwicklung ausgeführt, dass der Hilfeempfänger oft unkonzentriert sei. Mal könne er kaum die Namen seiner Mitschüler und der Klassenlehrerin nennen, ein anderes Mal sei er besser sortiert und könne Auskunft erteilen. Ernste Gespräche könne er nur mit viel Mühe führen, er versuche sich permanent rauszureden oder Späße zu machen. Er komme auch abends nur schlecht zur Ruhe und halte andere abends länger wach. Er sei oft im Unterricht müde und schlapp und schlafe auch schon mal ein. Der Beklagte weist zwar zu Recht darauf hin, dass die schulischen Leistungen des Hilfeempfängers extrem tagesformabhängig waren und ständigen Schwankungen unterlagen. Dennoch ergibt sich aus dem Verlauf der stationären Unterbringung, des Schulbesuchs und der Entwicklung nach der Volljährigkeit, dass der Hilfeempfänger unter einer organisch bedingten Intelligenzminderung leidet, die auch durch Hinweise auf die Tagesform nicht zu ignorieren ist.

 

(d) Auch das aktenkundige Jahresabschlusszeugnis der 8. Jahrgangsstufe der J-Schule vom 19.07.2013 spricht – wenn auch mittelbar – für eine durch eine leichte geistige Behinderung ausgelöste Intelligenzminderung. Darin wurde ausgeführt, dass der Hilfeempfänger sich unregelmäßig am Unterricht beteilige und manchmal eigene Gedanken einbringe. Er könne sich schwer auf eine Aufgabe konzentrieren und diese bearbeiten. Er zeige wenig Anstrengungsbereitschaft. Er erledige die Aufgaben selten sorgfältig. Er könne eigene Fehler nur schwer erkennen und Verbesserungsvorschläge manchmal annehmen. Zum Unterrichtsfach „Deutsch“ hieß es, dass der Hilfeempfänger kurze, unbekannte Texte nach wie vor nur mühsam lesen könne. Im schriftlichen Bereich könne er sich nur begrenzt äußern. Zum Fach „Mathematik“ hieß es unter anderem, dass der Hilfeempfänger relativ selten mit Ernst bei der Sache sei; er könne nur für kurze Zeit zuhören; das Verfahren zum schriftlichen Plus- und Malrechnen habe er gut verstanden; beim Minusrechnen mache er noch zu viele Flüchtigkeitsfehler; er übe das Einmaleins nicht, was besonders problematisch sei; er habe auch Probleme beim Dividieren. Dass diese erheblichen strukturellen Defizite in den Hauptfächern Deutsch und Mathematik nicht bloß altersangemessen waren, zeigen die oben genannten Fortschreibungen des Hilfeplans und Gutachten in den Betreuungsverfahren. Diese Defizite machen eine intellektuelle Minderbegabung deutlich, die den Hilfeempfänger bis ins Erwachsenenalter prägt und Ausdruck einer leichten geistigen Behinderung ist.

 

(e) Zieht man den DSM 5 heran, sind die dortigen Kriterien ebenfalls erfüllt. Anhand des Schulzeugnisses vom 19.07.2013, des psychologischen Befundes in den IQ-Testungen aus den Jahren 2013 und 2016, der Befunderhebung durch die Gutachter im Betreuungsverfahren sowie der Anmerkungen in den Fortschreibungen des Hilfeplans der Jahre 2013 und 2014 ist von einer leichten intellektuellen Beeinträchtigung des Hilfeempfängers auszugehen. Im kognitiven Bereich sind die erheblichen Schwierigkeiten beim Erlernen schulischer Fertigkeiten, wie das Lesen, Schreiben und Rechnen zu nennen. Diese waren dafür verantwortlich, dass der Hilfeempfänger im Streitzeitraum eine Projektklasse besuchte, in der Schüler mit einem besonderen Förderbedarf betreut wurden. Auch der Umgang mit seiner Zeit, insbesondere die Probleme in der Tagesstrukturierung, sind hier zu nennen. Die Unzulänglichkeiten im sozialen Bereich sprechen ebenfalls für eine leichte intellektuelle Beeinträchtigung im Sinne des DSM 5. Dass der Hilfeempfänger gegenüber anderen Gleichaltrigen unreif war, wird in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 29.04.2014 und im Gutachten des Dr. Y vom 22.06.2016 beschrieben. Schwierigkeiten hatte der Hilfeempfänger überdies bei der altersadäquaten Regulation von Emotionen und Verhalten. So wurde wiederholt von aufbrausendem Verhalten berichtet. Die Leichtgläubigkeit besteht ausweislich der Stellungnahme des gesetzlichen Betreuers des Hilfeempfängers vom 17.03.2022 bis heute noch. Auch die Einschränkungen im alltagspraktischen Bereich bestätigen das Vorliegen einer leichten intellektuellen Beeinträchtigung. Der Hilfeempfänger war zwar im Streitzeitraum weitgehend in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Dies bezog sich aber nur auf bekannte und wiederkehrende alltägliche Verrichtungen, wie das Einkaufen, Geldabheben und Bus und Bahn fahren. Bei komplexen Alltagsaufgaben bedurfte er stets der Unterstützung und Strukturierung durch seine Betreuer.

 

(f) Da der Senat bereits nach den voranstehenden Erwägungen vom Vorliegen einer leichten geistigen Behinderung beim Hilfeempfänger überzeugt ist, kommt es auf den am 03.04.2014 beim damals 15-Jährigen Hilfeempfänger durchgeführten HAWIK IV-Test durch Dr. A, der einen Gesamt-IQ von 54 ergeben hat, nicht an. Insbesondere kann dahinstehen, ob es sich wegen des erheblich von den anderen Tests abweichenden Gesamtergebnisses um einen „Ausreißer“ handelt. Auch die Frage, wie sich die fehlende Verhaltensbeobachtung auf die Verwertbarkeit des Testergebnisses auswirkt, bedarf keiner weiteren Erörterung. Ermittlungen von Amts wegen, etwa durch eine ergänzende Befragung von Dr. A zu diesem Test, sind vor diesem Hintergrund ebenfalls entbehrlich.

 

In diesem Zusammenhang merkt der Senat gleichwohl an, dass es lediglich eine Mutmaßung darstellt, wenn der Beklagte eine Verbindung zwischen dem niedrigen IQ-Wert und dem Tod der Mutter des Hilfeempfängers herzustellen versucht. Zum einen lagen zwischen dem Tod der Mutter und dem IQ-Test im April 2014 mehr als neun Monate. Eine deutliche emotionale Berührung mag zwar bei einem kürzlich zurückliegenden Tod eines nahen Angehörigen verständlich erscheinen, nicht aber bei einer derart langen Zeitspanne. Ferner ergibt sich aus den Fortschreibungen des Hilfeplans, dass der Hilfeempfänger eine emotional starke Bindung eher gegenüber seinem Vater verspürte, den er auch häufiger besuchte als seine Mutter.

 

In diesem Zusammenhang ist es – anders als der Beklagte meint – auch nicht verwunderlich, dass die geistige Behinderung bei dem Hilfeempfänger erstmalig im Alter von 15 Jahren durch Dr. A diagnostiziert worden ist. Gerade in der Kindheit ist die Abgrenzung zwischen einer Lernbehinderung und einer leichten geistigen Störung schwierig, weil Symptome der organisch bedingten Intelligenzminderung nicht ohne weiteres von einer Entwicklungsverzögerung (ohne geistige Schwäche) klar abgegrenzt werden können. Weder die Kriterien nach dem ICD-10 noch nach dem DSM 5 enthalten überdies Aussagen darüber, dass der erstmalige Nachweis einer geistigen Störung bis zu einem bestimmten Alter erfolgt sein müsse.

 

(2) Die Fähigkeit zur Teilhabe des Hilfeempfängers war im Streitzeitraum wesentlich beeinträchtigt. Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen haben nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. nicht alle Menschen mit Behinderungen, sondern nur diejenigen Personen, deren Fähigkeit zur Teilhabe wesentlich beeinträchtigt ist. Eine wesentliche Behinderung wird somit – nach dem Wortlaut der Regelung – mit einer wesentlichen Fähigkeitsbeeinträchtigung gleichgesetzt. Wegen des ausdrücklichen Verweises auf den Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX müssen aber neben der Fähigkeitsbeeinträchtigung in jedem Einzelfall auch die Wechselwirkungen mit vorhandenen Barrieren sowie der Grad der Teilhabebeeinträchtigung betrachtet werden. Nur wenn eine wesentliche Fähigkeitsbeeinträchtigung dazu führt, dass ein Mensch in Wechselwirkung mit umweltbedingten bzw. einstellungsbezogenen Barrieren auch in seiner Teilhabe wesentlich beeinträchtigt ist, kann dies einen Leistungsanspruch auslösen (Bieritz-Harder in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Auflage 2020, Kap.: Eingliederungshilfe, Rn. 8 m.w.N.).

 

Insoweit kann zunächst auf die funktionalen Beeinträchtigungen der Teilhabe, wie sie oben beschrieben wurden, verwiesen werden (vgl. Punkt C. II. 3. b. bb. (1) (e)). Ferner dokumentiert gerade die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung unmittelbar im Anschluss an den Beginn der Volljährigkeit des Hilfeempfängers eine wesentliche Einschränkung seiner Teilhabe. Aus dem Gutachten des Herrn Y vom 22.06.2016 ergibt sich zudem, dass der Hilfeempfänger nicht konfliktfähig ist. Bei der Erörterung eines von ihm begangenen Einbruchs vor zwei Monaten, dessen Aburteilung bevorstand, geriet der Hilfeempfänger gegenüber dem Sachverständigen in Rage, stand auf und verließ das Zimmer, wobei er die Tür lautstark zuschlug. Auch aus dem Folgegutachten des Dr. D ergibt sich, dass der Hilfeempfänger wegen seiner leichten geistigen Behinderung in seinen Teilhabemöglichkeiten wesentlich beschränkt ist. Dies korrespondiert mit den verschiedenen Fortschreibungen des Hilfeplans der Jahre 2013 und 2014, die belegen, dass eine Integration des Hilfeempfängers in die Klasse und betreute Gruppe immer schwieriger wurde. In der Fortschreibung vom 29.04.2014 war davon die Rede, dass das Ausmaß an Grenzüberschreitung inzwischen massiv geworden sei, z.B. durch Einbruch in das Betreuerzimmer. Man sehe inzwischen Grenzen der pädagogischen Möglichkeiten erreicht. In der Vorinformation zum Hilfeplangespräch vom 23.10.2014 wurde zwar einerseits angeführt, dass der Hilfeempfänger einige Verrichtungen im Alltag selbstständig bewerkstellige. Andererseits hieß es aber auch, dass der Hilfeempfänger die Tagesstrukturplanung benötige, damit er nicht permanent hin und her tingele. Er könne sich nicht allein und lange beschäftigen. In Konfliktsituationen sei er aufbrausend, beschimpfe sein Gegenüber, knalle auch schon mal die Türen zu. Mit Kritik könne er nicht so gut umgehen. Das spricht für eine deutliche Einschränkung der Teilhabemöglichkeit. Dass der Hilfeempfänger Routineabläufe wie das Geld abheben oder Einkaufen, sicher beherrschte, steht – wie oben angeführt – der Annahme einer leichten geistigen Behinderung mit wesentlicher Einschränkung in alltäglichen (und unbekannten) Situationen nicht entgegen.

 

Ferner bestand beim Hilfeempfänger die Aussicht, dass die in § 53 Abs. 3 SGB XII a.F. umschriebene Aufgabe der Eingliederungshilfe erreicht werden konnte. Insbesondere konnte die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft erleichtert werden. Dementsprechend bestand grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a.F. und nicht nur ein Ermessensanspruch nach § 53 Abs. 1 S. 2 SGB XII a.F. Hier bedurfte der Hilfeempfänger einer umfassenden Betreuung und Anleitung in allen Lebensbereichen, d.h. in Bezug auf seine Selbstversorgung und den Kontakt zu anderen Menschen.

 

(3) Die stationäre Unterbringung im Streitzeitraum war ferner notwendig im Sinne des § 4 Abs. 1 SGB IX. Erforderlich in diesem Sinne ist eine Leistung dann, wenn keine verfügbaren Möglichkeiten der Selbsthilfe bestehen und keine kostengünstigeren Lösungen hätten gewählt werden können (vgl. BSG Urteil vom 20.09.2012, B 8 SO 15/11 R, Rn. 14, juris). Das ist hier der Fall. Angesichts des Todes der Mutter und des Ausfalls der väterlichen Erziehungsverantwortung einerseits und der Entwicklungsverzögerung und Intelligenzminderung sowie der fehlenden Reife des Hilfeempfängers andererseits war eine stationäre Unterbringung notwendig. Dem Hilfeempfänger war im Streitzeitraum eine angemessene Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auch unter Berücksichtigung der weiteren allgemeinen Zielsetzung der ganzheitlichen Förderung seiner persönlichen Entwicklung und der Erleichterung einer seinem Alter angemessenen selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung aufgrund der besonderen Umstände seines Einzelfalls nur bei einer seinen Lebensvollzug umfassend begleitenden Betreuung möglich. Die geistige Behinderung des Hilfeempfängers schränkt(e) ihn nämlich nicht nur in einem einzelnen, klar abgrenzbaren Lebensbereich, wie etwa dem schulischen Bereich, ein. Sie wird vielmehr in allen seinen sozialen Bezügen und Interaktionen erkennbar und wirksam mit der Folge, dass er auch in allen seinen sozialen Bezügen der Hilfe und Unterstützung bedarf.

 

cc. Die Leistungen der Sozialhilfe in der Form der Eingliederungshilfe sind gegenüber den Jugendhilfeleistungen auch vorrangig. Das Verhältnis konkurrierender Leistungsansprüche aus den Gebieten der Jugendhilfe und der Sozialhilfe hat der Gesetzgeber ausdrücklich in § 10 Abs. 4 SGB VIII a.F. geregelt. Nach § 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII a.F. gehen die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII grundsätzlich vor. Dieses Rangverhältnis gilt jedoch nicht im Verhältnis zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53, 54 SGB XII a.F. speziell für junge Menschen, die körperlich oder – wie der Hilfeempfänger – geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Diese gehen den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII vielmehr ausnahmsweise vor, vgl. § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. Der Vorrang der Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. greift nur, wenn und soweit auf eine Hilfeleistung sowohl ein Anspruch nach dem SGB VIII als auch ein konkurrierender Anspruch auf Sozial- bzw. Eingliederungshilfe nach dem SGB XII besteht. Die Leistungen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe müssen daher gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sein (BVerwG Urteil vom 19.10.2011, 5 C 6/11, Rn. 16 m.w.N., juris). Diese Kongruenz der Leistungspflichten ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die hier umstrittene vollstationäre Heimunterbringung ist sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe als auch Inhalt der Jugendhilfeleistung nach § 34 SGB VIII. Beide Leistungspflichten sind hier nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Die jugendhilferechtliche Heimunterbringung umfasst nach § 39 SGB VIII nicht nur die pädagogische Betreuung, sondern auch den laufenden Unterhalt, worunter auch die gewährte Bekleidungskosten- und Taschengeldpauschale (§ 39 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VIII, vgl. Winkler in BeckOK-SozR, 66. Edition: 01.09.2022, § 39 SGB VIII, Rn. 10 f.) sowie die einmalige Beihilfe für die Klassenfahrt (§ 39 Abs. 3 SGB VIII, vgl. Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Auflage 2022, § 39, Rn. 30) gehören. Nichts anderes gilt für die vollstationäre Unterbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe, die ebenfalls nach § 76 Abs. 2 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.) Unterkunft und Verpflegung einschließen (vgl. BVerwG a.a.O.). Neben den Kosten für die Heimunterbringung sind auch die Kosten für Bekleidung und ein Taschengeld (§ 27b Abs. 2 S. 1 und 3 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.) sowie die Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt (§ 34 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung, a.F.) Bestandteil der Eingliederungshilfe.

 

Für das Erfordernis der vollständigen oder mindestens teilweisen Deckungsgleichheit der Leistungspflichten kommt es nicht darauf an, ob der junge Mensch für beide Leistungen anspruchsberechtigt ist. Im vorliegenden Fall ist der Hilfeempfänger zwar Inhaber des Eingliederungshilfeanspruchs. Hingegen steht der jugendhilferechtliche Anspruch auf Hilfe zur Erziehung seinem sorgeberechtigten Vater zu. Dieses Auseinanderfallen der Anspruchsberechtigung ist jedoch schon nach dem Wortlaut des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. unschädlich, weil der Wortlaut der Vorschrift nur auf eine Überschneidung der „Leistungen“ abstellt. Es genügt für die Anwendung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F., wenn die miteinander konkurrierenden inhaltsgleichen Leistungen gegenüber demselben jungen Menschen als Leistungsempfänger zu erbringen sind. Dementsprechend ist im Rahmen der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. nur eine Konkurrenz gleichartiger Leistungspflichten und keine Identität der Anspruchsberechtigten erforderlich (BVerwG a.a.O., Rn. 17, juris; vgl. auch BSG Urteil vom 25.09.2014, B 8 SO 7/13 R, Rn. 26, juris).

 

Ferner ist § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. auch nicht in dem Sinne einschränkend auszulegen, dass die Norm nur zur Anwendung käme, wenn der Schwerpunkt des Bedarfs oder des Leistungszwecks oder -ziels im Bereich der Eingliederungshilfe liegt. Vielmehr stellt § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII a.F. schon nach seinem unmissverständlichen Wortlaut nur auf das formale Kriterium der Gleichartigkeit der Leistungspflichten ab (BVerwG a.a.O., Rn. 18, juris). Es ist insoweit unerheblich, dass Anlass für die stationäre Unterbringung des Hilfeempfängers im Jahr 2006 zunächst der Ausfall der Eltern in der Erziehungsverantwortung war und die Heimerziehung möglicherweise den Schwerpunkt im erzieherischen Bereich gehabt hat. Dieser Fall zeigt anhand der einzelnen Fortschreibungen des Hilfeplans und der medizinischen Befunde, dass in der Folge und damit auch für den Streitzeitraum die Behinderung eine zunehmende Rolle gespielt hat und die geistige Entwicklung (auch) im Vordergrund der weiteren Bemühungen stand. Da die Bestimmung des vorrangig zuständigen Leistungsträgers anhand des Schwerpunkts zwangsläufig eine erhebliche Rechtsunsicherheit nach sich ziehen müsste, kommt es darauf nicht an, sondern allein auf eine Überschneidung der Leistungsbereiche (BVerwG a.a.O., Rn. 19, juris), die hier vorliegt.

 

c. Eine anspruchsschädliche Leistungserbringung durch den Beklagten vor Kenntniserlangung von seiner Leistungspflicht i.S.d. § 104 Abs. 1 S. 1 SGB X liegt unstreitig nicht vor.

 

d. Dem Erstattungsanspruch der Klägerin steht die Ausschlussfrist nach § 111 SGB X nicht entgegen. Danach ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht (S. 1). Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat (S. 2). An das Geltendmachen im Sinne des § 111 S. 1 SGB X dürfen keine überzogenen formalen oder inhaltlichen Anforderungen gestellt werden, zumal es sich bei den am Erstattungsverfahren Beteiligten um Körperschaften des öffentlichen Rechts oder Behörden handelt, deren Vertreter Kenntnis von den jeweils in Betracht kommenden Leistungen besitzen. Gleichwohl ist ein unbedingtes Einfordern der Erstattung notwendig. So genügt ein bloß vorsorgliches Anmelden nicht. Der Wille des Erstattungsberechtigten, zumindest rechtssichernd tätig zu werden, muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles der Erklärung deutlich erkennbar zugrunde liegen. Der in Anspruch genommene Leistungsträger muss bereits beim Zugang der Anmeldung des Erstattungsanspruchs ohne weitere Nachforschungen beurteilen können, ob die gegen ihn erhobene Forderung ausgeschlossen ist oder er mit einer Erstattungspflicht zu rechnen hat. Es genügt allerdings, dass die Umstände, die im Einzelfall für die Entstehung des Erstattungsanspruchs maßgeblich sind und insbesondere der Zeitraum, für den die Leistung erbracht wurde, hinreichend konkret mitgeteilt werden. Geringere inhaltliche Anforderungen gelten, wenn der Erstattungsanspruch, was grundsätzlich zulässig ist, vor seiner Entstehung geltend gemacht wird. In einem derartigen Fall ist es erforderlich, aber auch ausreichend, wenn die Angaben über Art und Umfang der künftigen Leistungen allgemein unter Verwendung der Kenntnisse gemacht werden, die im Zeitpunkt des Geltendmachens vorhanden sind (vgl. zu Vorstehendem BSG Urteil vom 22.08.2000, B 2 U 24/99 R, Rn. 17 ff., juris; BVerwG Urteil vom 19.08.2010, 5 C 14/09, Rn. 22, juris). Daraus ergibt sich auch, dass Erstattungsansprüche grundsätzlich noch während der Leistungserbringung und damit bereits vor Beginn der Frist des § 111 SGB X geltend gemacht werden können (BVerwG a.a.O.). Diesen Anforderungen genügt das Schreiben der Klägerin vom 08.05.2014. Darin hat die Klägerin gegenüber dem Beklagten Art und Umfang der geltend gemachten Leistungen hinreichend deutlich gemacht. Sie hat auch den Grund der Leistungspflicht des Beklagten dargelegt und die fachärztliche Bescheinigung über die im April 2014 durchgeführte IQ-Testung übersandt.

 

e. Der Umfang der Erstattungspflicht richtet sich gemäß § 104 Abs. 3 SGB X nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften, also den §§ 53, 54 SGB XII a.F. i.V.m. § 19 Abs. 3 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.). Danach ist allerdings nicht entscheidend, ob mit der S Verträge nach den §§ 75 ff. SGB XII (in der bis zum, 31.12.2019 geltenden Fassung, a.F.) geschlossen wurden (vgl. BSG Urteil vom 25.09.2014, B 8 SO 7/13 R, Rn. 32, juris; LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 06.09.2018, L 8 SO 2/16, Rn. 64, juris).

 

Die Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Hilfeempfängers und dessen Eltern durch die Klägerin hatte ergeben, dass der Hilfeempfänger über einzusetzendes Einkommen in Form der Halbwaisenrente und des Kindergeldes verfügte, das einbehalten wurde, die Mutter im Juni 2013 verstorben war und der Vater wegen seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen werden konnte. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Leistungserbringung nach § 19 Abs. 3 SGB XII a.F. hätten daher vorgelegen.

 

Der Erstattungsanspruch ist aber nicht in der von der Klägerin ursprünglich geltend gemachten und vom SG ausgeurteilten Höhe von 56.569,36 Euro entstanden, sondern nur in Höhe von 55.697,52 Euro, was die Klägern zuletzt anhand einer Kostenübersicht mit Schriftsatz vom 07.11.2022 selbst dargelegt hat. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Berechnung. Der Beklagte hat ausdrücklich erklärt, dass er sie für nachvollziehbar erachtet und keine Einwände erhoben. Die Berufung des Beklagten ist insoweit (in Höhe eines weitergehenden Erstattungsbetrages von 871,84 Euro) begründet und die Klage entsprechend unbegründet.

 

Die in dem Gesamtbetrag von 55.697,52 Euro enthaltenen Kosten für die Heimunterbringung sowie die Gewährung einer Bekleidungskosten- und Taschengeldpauschale sowie einer einmaligen Beihilfe für eine Klassenfahrt sind erstattungsfähig. Da das SGB XII keine nähere Regelung über die Art und Höhe der Leistung enthält, sind diese gemäß § 17 Abs. 2 S. 1 SGB XII grundsätzlich ins Ermessen des Sozialhilfeträgers gestellt. Da eine Orientierung im Rahmen dieses Ermessens an § 39 SGB VIII indes angebracht ist, sind erstattungsfähig zunächst die Kosten – ohne den Lebensunterhalt –, die den Leistungen nach § 39 SGB VIII entsprechen (BSG Urteil vom 25.09.2014, B 8 SO 7/13 R, Rn. 34, juris). Im Rahmen des Erstattungsverfahrens kann mithin der Erstattungspflichtige dem Erstattungsberechtigten nicht entgegenhalten, er hätte das Ermessen anders ausgeübt. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die vom Erstattungsberechtigten erbrachten Leistungen im Rahmen des ansonsten vom Erstattungspflichtigen auszuübenden Ermessens bewegen (BSG a.a.O.). Das ist hier der Fall. Wie oben bereits angeführt, sind neben den Kosten für die Heimunterbringung auch die laufende Bekleidungskosten- und Taschengeldpauschale erstattungsfähig, weil sie auch nach § 27b Abs. 2 S. 1 und 3 SGB XII a.F. erstattungsfähig gewesen wären. Dies gilt auch für die Kosten der einmaligen Klassenfahrt nach § 34 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XII a.F.

 

D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 Hs. 3 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Soweit die Klägerin ihre Berufung zurückgenommen hat, sind ihr die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen, § 155 Abs. 2 VwGO. Im Übrigen sind die Kosten nach dem Unterliegens- und Obsiegensanteil der Beteiligten zu verteilen, § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO.

 

E. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), bestehen nicht.

 

F. Nach § 197a Abs. 1 S. 1 Hs. 1 SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 1, Abs. 3 S. 1, 63 Abs. 2 S. 1, 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) ist der Streitwert für das Berufungsverfahren endgültig auf 64.952,86 Euro festzusetzen. Insoweit ist auch die zurückgenommene Berufung der Klägerin wertmäßig zu berücksichtigen.

 

Rechtskraft
Aus
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