S 18 AY 23/21 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 AY 23/21 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AY 26/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig, 

-    bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren, dem durch den Schriftsatz vom 06.02.2021 eingeleiteten Widerspruchs- und Überprüfungsverfahren gegen die Leistungsgewährung seit der Zuweisung der Antragstellerin in den Wetteraukreis am 24.11.2020,
-    bei Zurückweisung des Widerspruchs und anschließender fristgerechter Klageerhebung gegen den insoweit zu erteilenden Widerspruchsbescheid, bzw. Einlegung eines Widerspruchs gegen den insoweit zu erteilenden Ablehnungsbescheids darüber hinaus,
-     längstens jedoch solange die Antragstellerin vom Antragsgegner Leistungen nach dem AsylbLG erhält,
Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG zu gewähren.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Gründe

Der zulässige Antrag ist begründet. 

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund, d. h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, d. h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG, § 920 Abs. 2 ZPO.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05), ist eine abschließende, nicht nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorzunehmen, oder, sofern diese nicht möglich ist, eine Güter- und Folgenabwägung vorzunehmen, wenn bei den Betroffenen ohne die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz eine schwere Verletzung ihrer Rechte auch nur möglich ist. Dies folgt aus dem Schutzauftrag für die Menschenwürde (Artikel 1 Abs. 1 GG) und der Notwendigkeit wirksamen Rechtsschutzes (Artikel 19 Abs. 4 GG). Kriterien der Interessensabwägung sind die drohende Verletzung von Grundrechten, ausnahmsweise entgegenstehende überwiegende besonders gewichtige Gründe und die hypothetischen Folgen bei einer Versagung oder Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz.
Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts ist anzuwenden, weil es um die vollständigen existenzsichernden Leistungen geht, der Lebensunterhalt nicht durch Schonvermögen gesichert ist und der Umfang der Hilfe Dritter unklar ist.

Eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache ist nicht möglich, weil das Gericht nicht abschließend einschätzen kann, ob die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 und 2 AsylbLG vorliegen. Beide Beteiligten – somit auch den Antragsgegner – trifft im sozialgerichtlichen Verfahren eine Mitwirkungslast (§ 103 SGG). Vor diesem Hintergrund hatte das erkennende Gericht zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner dieser Mitwirkungsverpflichtung nicht nachgekommen ist. Nach Antragseingang am 27.05.2021 erfolgte keinerlei Reaktion. Das erkennende Gericht hat in diesem Zusammenhang bereits mehrfach entschieden (vgl. nur Gerichtsbescheid vom 28.09.2011, S 22 AS 491/11), dass es als Tatsacheninstanz gehalten ist, dem Vorbringen der Antragsteller nachzugehen. Demgegenüber geht § 119 SGG von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Artikel 19 Abs. 4 GG Rechnung getragen. Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Artikel 19 Abs. 4 GG gewährleistet und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Abs. 1 darstellt. Die genannten verfassungsmäßigen Rechte der Antragstellerin verbieten es, vorliegend eine dem Antragsgegner günstige Entscheidung zu treffen und belastende Verwaltungsakte zu bestätigen, obwohl weder die Verwaltungsakte vorgelegt wurde noch eine Äußerung zur Sache erfolgt ist. Das Gericht übersieht zwar nicht, das § 138 Abs. 3 ZPO im vorliegenden Verfahren nicht über § 202 SGG anzuwenden ist (BSG vom 08.04.2020, B 13 R 260/18). Gleichwohl vertritt das Gericht die Auffassung, dass der Rechtsgedanke der Vorschrift des § 138 Abs. 3 ZPO im vorliegenden Fall sinngemäß zur Anwendung kommen muss. Nach dieser Vorschrift wird Nichtbestreiten vorbehaltlich der Schlüssigkeit des nicht bestrittenen Vorbringens als Zugeständnis fingiert, d. h. es entfällt die Beweisbedürftigkeit, soweit es sich nicht um von Amts wegen zu prüfende Voraussetzungen handelt. Hier hat der Antragsgegner den Vortrag der Antragstellerin aus dem Schriftsatz vom 27.05.2021 nicht infrage gestellt, so dass dem Antrag stattzugeben war.

Der Anordnungsgrund folgt aus dem Umstand, dass es sich im vorliegenden Fall um existenzsichernde Leistungen handelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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