S 35 AS 441/22 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
35
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 441/22 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
  1. Das notwendige Rechtsschutzbedürfnis für die Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes fehlt im Falle der nach § 77 SGG zu beachtenden Bestandskraft des angegriffenen Verwaltungsakts dann ausnahmsweise nicht, wenn die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheids nach § 44 SGB X unzweifelhaft vorliegen und der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist.
  2.  Eine Entziehung oder Versagung nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II setzt nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II zwingend die Antragstellung durch den für die Leistungsbewilligung nach dem SGB II zuständigen Leistungsträger voraus.
  3. Die Voraussetzungen für eine Versagungsentscheidung nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind im Falle einer Ablehnungsentscheidung nach § 1 Abs. 3 UhVorschG nicht erfüllt. Bei § 1 Abs. 3 UhVorschG handelt es sich um eine Sonderregelung, die in ihrem Anwendungsbereich den Rückgriff auf § 66 SGB I ausschließt.

Überschrift:

Beschluss | Grundsicherung für Arbeitsuchende, Einstweiliger Rechtsschutz, Rechtsschutzbedürfnis bei laufendem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X, Verhältnis zu § 77 SGG, Ausschluss der fiktiven Anrechnung von Unterhaltsvorschussleistungen, Anforderungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II, Verhältnis § 1 Abs. 3 UhVorschG zu § 66 SGB I

 

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern ab dem 02.06.2022 bis zum 30.09.2022 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe – ohne Anrechnung eines fiktiven Unterhaltsvorschusses in Höhe von insgesamt 590,00 Euro – zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

 

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu 4/6 zu tragen.

 

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ohne die Anrechnung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UhVorschG).

Die Antragsteller stehen im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Zuletzt wurden ihnen und der mit Ihnen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Mutter Frau E M S mit Bescheid vom 14.03.2022 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 30.03.2022 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.04.2022 bis 30.09.2022 in Höhe von 865,54 Euro für den Monat April 2022, jeweils 865,04 Euro für die Monate 2022 bis Juli 2022, 969,04 Euro für August 2022 und 865,04 Euro für September 2022 bewilligt. Die Bewilligung erfolgte unter Anrechnung von Leistungen nach dem UhVorschG in Höhe von 236,00 Euro beim Antragsteller zu 1.) und jeweils 177,00 Euro bei den Antragstellern zu 2.) und 3.).

Die Antragsteller stellten am 19.05.2022 Überprüfungsantrag gegen den Bewilligungsbescheid vom 04.03.2022 und die daraufhin ergangenen Bewilligungs- und Änderungsbescheide. Zur Begründung trugen sie vor, dass zu Unrecht Unterhaltsvorschussleistungen in Höhe von 590,00 Euro angerechnet worden seien. Sie erhielten keine Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Die Bewilligung von Unterhaltsvorschussleistungen sei bestandskräftig abgelehnt worden. Eine fiktive Anrechnung habe nicht stattzufinden.

Der Antragsgegner lehnte den Überprüfungsantrag mit ablehnendem Überprüfungsbescheid vom 24.05.2022 als unbegründet ab. Zur Begründung trug er vor, dass keine neuen Tatsachen vorgetragen oder neue Beweismittel vorgelegt worden seien. Die Entscheidung sei nicht zu beanstanden.

Die Antragsteller legten daraufhin am 30.05.2022 Widerspruch gegen den ablehnenden Überprüfungsbescheid ein. Zur Begründung verwiesen sie vollumfänglich auf ihre Ausführungen im Überprüfungsantrag vom 19.05.2022.

Die Antragsteller haben am 02.06.2022 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.

Sie tragen vor, dass der Antragsgegner neben den unstreitig ausgezahlten Kindergeldleistungen auch Unterhaltsvorschusszahlungen berücksichtige. Tatsächlich finde eine Auszahlung der Unterhaltsvorschusszahlungen jedoch nicht statt. Die Kindesmutter habe für die Antragsteller Unterhaltsvorschussleistungen beantragt. Dieser Antrag sei bestandskräftig abgelehnt worden, weil sie keine ausreichenden Angaben zu den Kindesvätern machen könne. Eine Anrechnung von fiktiven Unterhaltszahlungen sei im Anwendungsbereich des SGB II nicht vorgesehen. Da ein materieller Ablehnungsbescheid vorliege, könne § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II keine Anwendung finden.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe eines weiteren monatlichen Betrags von 590,00 Euro – ohne Anrechnung von fiktiven Unterhaltszahlungen – zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung trägt er vor, dass ein Anordnungsanspruch nicht vorliege. Leistungsberechtigte seien nach § 12a S. 1 SGB II in Umsetzung des Nachranggrundsatzes verpflichtet, bei anderen Trägern Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen. Um Leistungsberechtigte zur Mitwirkung bei anderen Leistungsträgern zu bewegen, habe der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des § 5 Abs. 3 SGB II erweitert und dem Antragsgegner die Möglichkeit erschlossen, fehlende Mitwirkungshandlungen beim anderen Leistungsträger durch die teilweise oder vollständige Leistungsentziehung bzw. Versagung zu erzwingen. Dies gelte ausweislich der Gesetzesbegründung auch für das Unterhaltsvorschussgesetz. Die fiktive Anrechnung von Unterhaltsvorschussleistungen folge daraus, dass die Antragsteller – gegen die Entscheidung des vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträgers – entsprechende Rechtsmittel nicht eingelegt hätten. Ein Anordnungsgrund liege nicht vor, da den Antragstellern trotz Kürzungen weiterhin ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stünden.

Die Antragsteller haben, durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin, am 11.01.2022 einen Antrag auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz gestellt. Diesen Antrag hat die Unterhaltsvorschusskasse mit Ablehnungsbescheid vom 11.02.2022 abgelehnt. Zur Begründung hat diese angeführt, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen gemäß § 1 Abs. 3 UhVorschG nicht bestehe, wenn der betreuende Elternteil sich weigere, bei der Feststellung der Vaterschaft oder des Aufenthalts des anderen Elternteils mitzuwirken und zur weiteren Begründung auf ihren Ablehnungsbescheid vom 05.02.2020 verwiesen. Die getätigten Angaben zu den leiblichen Vätern der Kinder seien unglaubhaft und stellten sich als widersprüchlich und unzureichend dar. Den dagegen am 01.03.2022 eingelegten Widerspruch hat die Unterhaltsvorschusskasse mit Widerspruchsbescheid vom 21.04.2022 unter erneuten Hinweis auf die Vorschrift des § 1 Abs. 3 UhVorschG als unbegründet zurückgewiesen. Rechtsmittel dagegen sind nicht eingelegt worden.

Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstands und bezüglich des Vortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II hat teilweise Erfolg. Der zulässige Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist der Antrag abzulehnen.

Der Antrag ist zulässig. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist als solcher auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Die Anordnung kann erlassen werden, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn Eilbedürftigkeit im Sinne einer dringenden und gegenwärtigen Notlage, in der ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung schlechthin mit unzumutbaren Folgen für den betreffenden Antragsteller verbunden wäre, gegeben (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 14. Oktober 2020 – L 12 AS 721/20 B ER) und eine einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten ist (LSG NRW, Beschluss vom 18. Juli 2014 – L 7 AS 1165/14 B ER). Dem Antrag fehlt es nicht an dem notwendigen Rechtsschutzbedürfnis, weil ein rechtzeitiger Widerspruch nicht eingelegt worden ist und lediglich ein Überprüfungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuchs (SGB X) angestrengt worden ist. Zwar ist grundsätzlich die in § 77 SGG konstatierte Bestandskraft des angegriffenen Bescheids zu beachten, ein Anordnungsanspruch kann sich aber dennoch dann ergeben, wenn die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheids nach § 44 SGB X unzweifelhaft vorliegen und der Bescheid offensichtlich rechtswidrig ist (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG Rn. 396).

Der Antrag hat nach den oben genannten Maßstäben im tenorierten Umfang in der Sache Erfolg. Den Antragstellern sind ab dem 02.06.2022 bis zum 30.09.2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ohne die Berücksichtigung fiktiver Unterhaltszahlungen nach den gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren.

Die Antragsteller haben das Bestehen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs glaubhaft i.S.d. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) gemacht.

Die Antragsteller haben das Bestehen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht. Sie sind nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung auf existenzsichernde Leistungen angewiesen und leistungsberechtigt i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, 4 SGB II. Die Anrechnung von fiktiven Unterhaltsvorschussleistungen nach § 5 Abs. 3. S. 3 SGB II ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durchzuführenden Prüfung offensichtlich rechtswidrig und unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X zurückzunehmen, weil bei Erlass der streitgegenständlichen Bewilligungsbescheide das Recht unrichtig angewandt worden ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind nicht erfüllt. Es fehlt an einem eigenen Leistungsantrag des Antragsgegners bei der Unterhaltsvorschusskasse. Auch liegt eine Versagung nach § 66 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht vor. Nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte Person ihrer Verpflichtung nach den §§ 60 bis 64 des Ersten Buches gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist, wobei die Leistungsträger nach dem SGB II, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht gestellt haben, gemäß § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen können. Eine Entziehung oder Versagung nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II ist dabei nach § 5 Abs. 3 S. 4 SGB II ferner nur dann möglich, wenn die leistungsberechtigte Person vom zuständigen Leistungsträger nach diesem Buch zuvor schriftlich auf diese Folgen hingewiesen wurde. Zunächst fehlt es am notwendigen Leistungsantrag des Leistungsträgers. § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II setzt dem Wortlaut nach voraus, dass der andere Träger die vorrangige Leistung aufgrund eines Antrags des Leistungsträgers nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II entzogen oder versagt hat (Luthe in: Hauck/Noftz SGB II, § 5 Verhältnis zu anderen Leistungen Rn. 168; Engel-Boland, ZfSH – Zeitschrift für die sozialgerichtliche Praxis 2022, S. 135, 141). Der Antrag vom 11.01.2022 ist zwar mit Ablehnungsbescheid vom 11.02.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2022 mittlerweile bestandskräftig abgelehnt worden. Die Antragstellung erfolgte jedoch nicht durch den Antragsgegner und damit nicht durch den in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II genannten Leistungsträger. Auch liegt eine Versagung oder Entziehung nach § 66 Abs. 1 SGB I nicht vor. Zwar kann der Leistungsträger nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Die Versagung erfolgte hier jedoch ausweislich des Ablehnungsbescheids vom 11.02.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2022 nach § 1 Abs. 3 UhVorschG und nicht nach § 66 Abs. 1 SGB I. Gemäß § 1 Abs. 3 UhVorschG ist der Anspruch auf Unterhaltsleistungen ausgeschlossen, wenn der in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UhVorschG bezeichnete Elternteil sich weigert, bei der Feststellung der Vaterschaft oder des Aufenthalts des anderen Elternteils mitzuwirken oder die zur Durchführung des Gesetzes notwendigen Auskünfte zu erteilen. Bei § 1 Abs. 3 UhVorschG handelt es sich dabei um eine Sonderregel, die in ihrem Anwendungsbereich den Rückgriff auf § 66 SGB I ausschließt (Verwaltungsgericht Ansbach, Beschluss vom 16. Januar 2004 – AN 14 K 03.00850 – Rn. 3, juris; Engel-Boland, ZfSH/SGB – Zeitschrift für die sozialgerichtliche Praxis 2022, S. 135, 142). Ein für die Anwendung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II erforderlicher Versagungs- oder Entziehungsbescheid nach § 66 Abs. 1 SGB I ist im Falle einer Versagung nach § 1 Abs. 3 UhVorschG nicht gegeben (Sozialgericht Duisburg, Beschluss vom 12. Februar 2019 – S 49 AS 5042/18 ER – Rn. 52, juris). Eine analoge Anwendung kommt nach summarischer Prüfung nicht in Betracht. Für eine analoge Anwendung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II auf die Fälle des § 1 Abs. 3 SGB II fehlt es an der notwendigen planwidrigen Regelungslücke und dem Vorliegen einer vergleichbaren Interessenlage. Die Analogiebildung scheitert daran, dass die Rechtsfolgen des § 66 SGB I andere sind als die des § 1 Abs. 3 UhVorschG. Die Mitwirkung nach § 1 Abs. 3 UhVorschG ist als echte Anspruchsvoraussetzung konzipiert. Wirkt der Elternteil nicht ausreichend mit, entfällt der Anspruch auf die UhVorschG-Leistungen endgültig. Bei § 66 SGB I werden die Leistungen nur vorläufig abgelehnt, und die Behörde ist im Falle der Nachholung der Mitwirkungshandlung gem. § 67 SGB I verpflichtet, zu prüfen, ob sie die Leistungen nunmehr nachträglich ganz oder teilweise erbringt. § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II knüpft mit seinem Konzept an diese Regelungssystematik des § 66 SGB I an. Die Nachholung der Mitwirkung durch den Leistungsberechtigten ist kein Selbstzweck, sondern soll dazu führen, dass der für die vorrangige Leistung zuständige Träger diese Leistung doch noch nach § 67 SGB I bewilligt. Dieser Effekt kann bei einer bestandskräftigen Ablehnung, die auf § 1 Abs. 3 UhVorschG fußt, bei einer Nachholung der Mitwirkung jedoch von vornherein nicht mehr erreicht werden (Engel-Boland, ZfSH/SGB – Zeitschrift für die sozialgerichtliche Praxis 2022, S. 135, 142).

Offenbleiben kann, inwieweit die am 13.08.2018 erfolgte Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Leistungen den Anforderungen des § 5 Abs. 3 S. 4 SGB II für den aktuellen Bewilligungszeitraum ab dem 01.04.2022 bis 30.09.2022 entspricht oder der Antragsgegner die Antragsteller vor der fiktiven Anrechnung im streitgegenständlichen Zeitraum erneut nach § 5 Abs. 3 S. 4 SGB II hätte belehren müssen. Zwar ist die Mutter der Antragsteller am 13.03.2018 darauf hingewiesen worden, dass diese gemäß § 12a SGB II verpflichtet ist, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. In diesem Zusammenhang ist sie auch darauf hingewiesen worden, dass zu den vorrangigen Leistungen auch Leistungen nach dem UhVorschG gehören. Ferner ist sie darauf hingewiesen worden, dass der Antragsgegner nach § 5 Abs. 3 SGB II berechtigt ist, einen Antrag ersatzweise zu stellen und die Leistungen ganz oder teilweise zu entziehen oder zu versagen, wenn die Leistung vom zuständigen Leistungsträger nach § 66 SGB I wegen fehlender Mitwirkung bestandskräftig versagt oder abgelehnt wird. Eine weitere Erläuterung erfolgte auch im Bescheid vom 25.03.2020 über die Bewilligung für die Zeit vom 01.04.2020 bis 31.03.2021. Hier wies der Antragsgegner darauf hin, dass er Leistungen nach dem UhVorschG in entsprechender Anwendung der §§ 5 SGB II, 60, 66ff. SGB I anrechne. Zwischen der Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Leistungen am 13.08.2018 bzw. der im Bescheid vom 25.03.2020 erfolgten Anrechnung und dem aktuellen Zeitraum liegt jedoch eine wesentliche zeitliche Zäsur. Innerhalb dieses Zeitraums hat die Mutter der Antragsteller am 28.05.2018 und am 25.11.2019 und zuletzt am 07.01.2022 eigenständig Anträge auf Unterhaltsvorschussleistungen gestellt, die jeweils nach § 1 Abs. 3 UhVorschG abgelehnt worden sind, sodass Zweifel an der Fortwirkung der ursprünglich erfolgten Belehrung bestehen.

Ein Anordnungsgrund hinsichtlich des Regelbedarfs liegt für den Zeitraum ab dem 02.06.2022 vor. Eine Eilbedürftigkeit im Sinne einer dringenden und gegenwärtigen Notlage, in der ein Abwarten in der Hauptsacheentscheidung mit schlechthin unzumutbaren Folgen verbunden wäre, ergibt sich aus dem Wesen des SGB II als existenzsichernde Leistungen. Ohne diese drohen den Antragstellern nach summarischer Prüfung existenzielle Nachteile, da das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum betroffen ist, Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 27.02.2013 – L 7 AS 156/13 B ER, L 7 AS 157/13 B) ist. Die Antragsteller verfügen nicht ansatzweise über ausreichend Mittel, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Beginn der Leistungsgewährung kann nur der 02.06.2022 sein (Eingang des Antrags bei Gericht). Es ist nicht Aufgabe des einstweiligen Rechtsschutzes, in der Vergangenheit liegende Notlagen zu beseitigen (vgl. LSG NRW 14.09.2006 L 12 b 105/06 AS ER). Die Dauer der Leistungen wurde bis zum Ablauf des laufenden Bewilligungsabschnitts am 30.09.2022 befristet. Dies gibt dem Antragsgegner die Möglichkeit einer weiteren eigenständigen Prüfung der Leistungsvoraussetzungen. Insoweit war der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG. Der Antrag hat teilweise Erfolg. Es ist in der Regel billig, dass derjenige Beteiligte die Kosten trägt, der unterliegt. Bei teilweisem Erfolg ist eine Quotelung angemessen (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Aufl. 2020, § 193 Rn. 12a).

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