L 9 R 2846/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 37/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 2846/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. August 2021 aufgehoben, soweit die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 4. Juni 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Dezember 2020 verpflichtet wurde, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2020 bis zum 31. März 2022 zu gewähren.

Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren trägt die Beklagte die Hälfte; im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung streitig.

Die 1958 geborene Klägerin hat eine Ausbildung zur Näherin und Zuschneiderin abgeschlossen und war vom 11.04.1991 bis 30.09.2021 als Polsterin und Näherin bei der Fa. H beschäftigt, zuletzt an drei Tagen pro Woche zu je acht Stunden. Seitdem ist sie arbeitslos gemeldet.

In der Zeit vom 02.01.2019 bis 23.01.2019 nahm die Klägerin an einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme in der Reha-Klinik S in D teil, wo sie bereits in der Zeit vom 14.03.2013 bis 04.04.2013 eine medizinische Reha-Maßnahme durchlaufen hatte. Im damaligen Entlassungsbericht vom 12.04.2013 war das Leistungsvermögen der Klägerin mit sechs Stunden und mehr als Näherin und Polsterin und ebenso für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, soweit diese rückengerecht in wechselnder Körperhaltung ausgeübt werden, eingeschätzt worden.
Im Entlassungsbericht vom 23.01.2019 wurden die Diagnosen rezidivierendes Cervikolumbalsyndrom bei myofascialer Symptomatik der Schultergürtel- und lumboglutealen Muskulatur, chronischer Schmerz, Polyarthrose, Impingement-Syndrom der rechten Schulter, Adipositas und benigne essentielle Hypertonie gestellt. Die ausgeübte Tätigkeit als Polsterin könne drei bis unter sechs Stunden verrichtet werden, für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein Leistungsvermögen von (weiterhin) sechs Stunden und mehr. Ein regelmäßiger Haltungswechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen werde empfohlen. Arbeiten in permanenter Zwangshaltung, insbesondere für die Schulter-Nacken-Region rechtsseitig sowie für die Hände bei Rhizarthrose sowie wiederholte oder längere Überkopfarbeiten sollten nicht mehr zugemutet werden, ebenso permanente Arbeiten in Vorhalte (Schultern). In der Anamnese ist dokumentiert, dass die Klägerin gerne an ihren Arbeitsplatz zurückwolle. Sie arbeite 42 Stunden pro Woche in Normalschicht. Größere Zeiten der Krankschreibung könne sie sich nicht leisten, da Entlassung drohe. Aus wirtschaftlichen Gründen strebe sie eine abschlagsfreie Rente an. In einer prüfärztlichen Stellungnahme vom 30.01.2019 führte D1 aus, dass die letzte Tätigkeit nur noch unter dreistündig verrichtbar sei.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 22.05.2019 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 07.03.2019 bis längstens zum Beginn der Regelaltersrente am 30.06.2024. Die Klägerin sei in ihrem Beruf als Polsterin berufsunfähig, da sie in diesem Beruf und vergleichbaren Tätigkeiten nicht mehr mindestens sechs Stunden arbeiten könne. Ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe nicht, da die Klägerin nach den medizinischen Ermittlungen der Beklagten für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch für mindestens sechs Stunden leistungsfähig sei. Nach den medizinischen Ermittlungen der Beklagten sei die Klägerin als Polsterin und Näherin nur noch unter sechs Stunden täglich einsatzfähig. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe aber ein Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 31.01.2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Beklagte holte daraufhin ein Gutachten bei ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle V ein. D1 stellte aufgrund einer Untersuchung der Klägerin im Gutachten vom 26.02.2020 die Diagnosen Einengung des Rückenmarkkanals im Lendenwirbelsäulenbereich mit Wurzelreizsymptomatik und deutlich eingeschränkter Beweglichkeit, degeneratives Schmerzsyndrom der Halswirbelsäule mit teilweiser Beweglichkeitseinschränkung und chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Die Klägerin sei im 1-Schicht-System mit aktuell 24 Wochenstunden in wechselnder Arbeitshaltung unter regelmäßiger Einnahme von Zwangshaltungen und in regelmäßigem Armvorhalt mit häufigem Heben und Tragen schwerer Gegenstände bis zu 15 kg unter Zeitdruck mit der Anfertigung von Polstermöbeln beschäftigt. Im Zuge der seit 20 Jahren bestehenden Schmerzsymptomatik im Bereich des Stützapparates habe sich bei der Klägerin auch unter der Belastungssituation am Arbeitsplatz mit Zeitdruck und einer zusätzlich bestehenden Mobbingkomponente eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren herausgebildet, die bereits im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme im Frühjahr 2013 diagnostiziert wurde. Das Leistungsvermögen habe sich seit der letzten sozialmedizinischen Einschätzung am 30.01.2019 verschlechtert und dementsprechend bestehe auch eine zusätzliche quantitative Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Das Leistungsvermögen für leichte Arbeiten in wechselnder Arbeitshaltung in Tagschicht betrage unter Beachtung weiterer qualitativer Einschränkung seit der Rentenantragstellung vom 31.01.2020 drei bis unter sechs Stunden. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Polsterin könne weiterhin unter dreistündig ausgeübt werden.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 04.06.2020 anstelle der bisherigen Rente eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 01.02.2020 bis längstens zum 30.06.2024. Zur Begründung wurde ausgeführt, nach den medizinischen Ermittlungen der Beklagten sei die Klägerin seit dem 31.01.2020 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter sechs Stunden täglich einsatzfähig. Ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe nicht, da die Klägerin noch mindestens drei Stunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tätig sein könne und ihr ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehe.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme von D1 ein, der unter dem 21.08.2020 ausführte, bereits im Gutachten vom 26.02.2020 sei ausgeführt worden, dass die Klägerin ihre bis dato ausgeübte Tätigkeit als Polsterin zu Lasten ihrer Restgesundheit ausübe; eine weitere Eskalation der Schmerzsymptomatik sei damit unaufhaltsam. Da die letzte Tätigkeit dauerhaft nur unter drei Stunden verrichtet werden könne, könne sich die Klägerin nach einer gesundheitsbedingten Kündigung der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen. Angesichts des Alters und der zahlreichen Gesundheitsstörungen des Bewegungs- und Stützapparates sei allerdings ein weiteres Engagement bei einem anderen Arbeitsgeber nur äußerst schwer zu realisieren, so dass die Klägerin die sog. Arbeitsmarktrente bei verschlossenem Arbeitsmarkt beziehen könnte. Die Prüfung von LTA erscheine in Anbetracht dessen nicht zielführend.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.2020 zurück mit der Begründung, die Klägerin sei als Polsterin nur noch unter drei Stunden täglich einsatzfähig. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe aber unter Beachtung qualitativer Einschränkungen noch ein Restleistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten. Da die Klägerin einen Arbeitsplatz habe, der ihrem Leistungsvermögen entspreche, habe sie aber nur einen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Dieser Einschätzung würden folgende Gesundheitsstörungen der Klägerin zugrunde gelegt: Einengung des Rückenmarkkanals im Lendenwirbelsäulenbereich mit Wurzelreizsymptomatik und deutlich eingeschränkter Beweglichkeit, degeneratives Schmerzsyndrom der Halswirbelsäule mit Beweglichkeitseinschränkung und chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren - Schulterteilsteife beidseits nach operativer Therapie rechts sowie Polyarthrose.

Am 05.01.2021 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Sie sei nicht in der Lage, unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes leichte Arbeiten wenigstens drei Stunden täglich zu leisten. Die Beklagte lasse sich davon leiten, dass die Klägerin derzeit im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses mehr als drei Stunden täglich arbeite. Tatsächlich könne sie diese Tätigkeit allerdings nur durch Einnahme starker Schmerzmittel verrichten.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten unter Hinweis darauf, die Tätigkeit als Polsterin sei nicht für die Beurteilung einer vollen Erwerbsminderung maßgeblich. Es bestehe kein Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente, da die Klägerin eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich ausübe. Es komme dabei nicht darauf an, ob die Tätigkeit leidensgerecht sei. Mit Schreiben vom 20.04.2021 hat die Beklagte unter Bezugnahme auf die prüfärztliche Stellungnahme vom 30.01.2019 mitgeteilt, dass die Klägerin derzeit auf Kosten ihrer Restgesundheit arbeite.

Durch Gerichtsbescheid vom 10.08.2021 hat das SG 10.08.2021 die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 04.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2020 verpflichtet, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung seit dem 01.08.2020 bis zum 31.07.2023 zu gewähren. In der Zeit vom 01.08.2020 bis zum 31.07.2023 komme nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung zur Auszahlung. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden. Die Klägerin habe Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit. Die Klägerin sei nach den medizinischen Ermittlungen der Beklagten als Polsterin und Näherin nur noch unter drei Stunden täglich und seit dem 31.01.2020 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter sechs Stunden täglich leistungsfähig. Das Gericht schließe sich nach Prüfung der medizinischen Unterlagen in der Verwaltungsakte der Beklagten dieser Einschätzung an. Der medizinische Sachverhalt sei durch die Beklagte hinreichend aufgeklärt. Eigene Ermittlungen des medizinischen Sachverhaltes durch das Gericht seien nicht veranlasst.
Auch wenn die Klägerin lediglich teilweise erwerbsgemindert sei, habe sie einen Anspruch auf eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Eine volle Erwerbsminderungsrente sei zu gewähren, wenn der Rentenberechtigte zwar noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes drei bis sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne, er jedoch keinen entsprechenden Arbeitsplatz innehabe und der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei (sog. Arbeitsmarktrente, vgl. Gürtner, Kasseler Kommentar, Stand 108. Ergänzungslieferung 2020, § 43, Rn. 31). Die Klägerin habe im streitgegenständlichen Zeitraum keinen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz inne. Die Beklagte selbst gehe davon aus, dass die Tätigkeit als Näherin und Polsterin nur noch unter drei Stunden täglich ohne Gefährdung der Restgesundheit ausgeübt werden könne. Die Beklagte nehme rechtsfehlerhaft an, dass es nicht darauf ankomme, ob die ausgeübte Tätigkeit noch leidensgerecht sei. Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen für eine sogenannte „Arbeitsmarktrente“ vorliegen, komme es darauf an, ob die Rentenberechtigte über einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz verfüge (Landessozialgericht <LSG> Bayern, Urteil vom 12.02.2014 - L 13 R 158/11 -). Zwar könne die tatsächliche Arbeitsleistung der Klägerin ein Beweismittel sein, das die von medizinischen Sachverständigen angenommene Erwerbsminderung widerlege. In diesem Sinne komme der tatsächlichen Berufsausübung ein höherer Beweiswert zu als den medizinischen Befunden (BSG, Urteil vom 26.09.1975 - 12 RJ 208/74 - SozR 2200 § 1247 Nr. 12). Dies gelte aber gerade dann nicht, wenn die tatsächliche Tätigkeit auf Kosten der Gesundheit oder unter unzumutbaren Willensanspannungen ausgeübt werde, oder wenn dem Versicherten bei Fortsetzung der Tätigkeit absehbar eine weitere Verschlimmerung drohe (BSG, Urteile vom 24.02.1966 - 12 RJ 92/62 - SozR Nr. 58 zu § 1246 RVO, vom 27.01.1981 - 5b/5 RJ 58/79 - SozR 2200 § 1247 Nr. 31 und vom 08.09.1982 - 5b RJ 16/81 - SozR 2200 § 1246 Nr. 101; Ulrich Freudenberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 43 SGB VI, Stand: 01.04.2021, Rn. 97). Vorliegend gehe das Gericht in Übereinstimmung mit der Beklagten davon aus, dass die von der Klägerin noch in Teilzeit ausgeübte Tätigkeit als Polsterin und Näherin zu Lasten ihrer Restgesundheit gehe. Die Klägerin verfüge damit gerade nicht über einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz, weshalb sie wegen der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung habe. Allerdings bestehe nur ein Anspruch auf eine zeitlich befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Ein Anspruch auf eine unbefristete Rente bestehe gemäß § 102 Abs. 2 Satz 4 SGB VI nur dann, wenn die Rente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage zu gewähren und unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden könne. Nachdem der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung darauf beruhe, dass der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen und damit von der Arbeitsmarktlage abhängig sei, sei die Rente nach § 102 Abs. 2 SGB VI nur auf Zeit zu leisten. Die befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung beginne am 01.08.2020. Gemäß § 101 Abs. 1 SGB VI würden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet, weshalb die Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab dem 01.08.2020 gewährt werden könne, da die teilweise Erwerbsminderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit dem 31.01.2020 nachgewiesen sei. Eine Befristung gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI könne für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn erfolgen. Gründe für eine Verkürzung der Befristung seien nicht ersichtlich. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ende daher mit Ablauf des 31.07.2023. Nach § 89 Abs. 1 Satz 1 SGB VI komme für die Zeit vom 01.08.2020 bis 31.07.2023 nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung zur Auszahlung. Nachdem die Klägerin eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung beantragt hatte, sei die Klage im Übrigen abzuweisen.

Gegen den ihr am 13.08.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 02.09.2021 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt und ausgeführt, entgegen der Auffassung des SG stehe der Klägerin die zugesprochene Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.08.2020 bis zum 31.07.2023 nicht zu. Aufgrund des medizinischen Sachverhalts sei davon auszugehen, dass bei ihr seit der Rentenantragstellung am 31.01.2020 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden für leichte Arbeiten mit bestimmten Funktionseinschränkungen vorliege. Aus den Akten gehe hervor, dass die Klägerin bei 24 Wochenstunden an drei Tagen in der Woche je 8,25 Stunden als Polsterin arbeite. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit werde seit dem 01.03.2019 gewährt. Das SG habe ausgeführt, dass eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren sei, wenn der Rentenberechtigte zwar noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes drei bis unter sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne, er jedoch keinen entsprechenden Arbeitsplatz innehabe und der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei (sog. „Arbeitsmarktrente", vgl. Gürtner, Kassler Kommentar, Stand 108. Ergänzungslieferung 2020, § 43, Rn. 31). Darüber hinaus sei auf die Ausführungen des Urteils des Bayerischen LSG vom 12.02.2014 verwiesen worden, wonach es bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen für eine sogenannte „Arbeitsmarktrente" vorliegen, darauf ankomme, dass über einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz verfügt werde. Bei der Urteilsbegründung des SG werde verkannt, dass die Klägerin aber tatsächlich einen Teilzeitarbeitsplatz innehabe, welchen sie auch ausübe. Im angeführten Urteil des Bayerischen LSG habe es sich um eine Entscheidung gehandelt, bei welcher eine Klägerin aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit das formell fortbestehende Arbeitsverhältnis nicht aktiv ausfüllte, also kein Entgelt auf der Grundlage tatsächlicher Beschäftigung mehr erzielte. Für den Sachverhalt einer aktiven Ausübung einer Beschäftigung - wie vorliegend gegeben - habe das oben zitierte Urteil des Bayerischen LSG ausgeführt: „Andere Maßstäbe mögen gelten, wenn ein Versicherter einen Arbeitsplatz tatsächlich innehat und daraus ausreichendes Erwerbseinkommen erzielt (vgl. BSGE 47, 57; BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 89). Insoweit habe die höchstrichterliche Rechtsprechung aus Sinn und Zweck der Rente als Ersatz von ausfallendem Erwerbseinkommen abgeleitet, dass bei einem tatsächlich innegehabten Arbeitsplatz der Teilzeitarbeitsmarkt selbst dann nicht als verschlossen gilt, wenn der Versicherte durch die Schwere oder Dauer der Arbeit gesundheitlich überfordert werde (BSG, a.a.O.). In solchen Fällen ergeben sich die Konsequenzen aber daraus, dass sich der Versicherte selbst etwas zumute, ohne vom Versicherungsträger dazu aufgefordert zu werden (vgl. Meinhard, SGb 1982, 127)." Nachdem bei der Klägerin kein nur formal fortbestehendes Arbeitsverhältnis vorliege, sondern ein Arbeitsplatz tatsächlich ausgefüllt werde, könne die Entscheidung einer zugesprochenen Rentengewährung nicht auf das Urteil des Bayerischen LSG gestützt werden. Im Gegenteil stütze dieses Urteil die Rechtsauffassung der Beklagten.
Ergänzend werde noch darauf hingewiesen, dass aus dem Entlassungsbericht der Rehaklinik S vom 12.04.2013 (BI. 2-3) hervorgehe, dass die Tätigkeit der Klägerin überwiegend sitzend erfolge, sie jedoch darauf achte, dass sie die Arbeit so variieren könne, dass sie zwischenzeitlich aufstehen und kleinere Wege erledigen könne. Aus dem Entlassungsbericht der Reha-Klinik S vom 23.01.2019 sei zu entnehmen, dass die Klägerin keine Arbeiten in permanenter Zwangshaltung verrichten könne. Ein regelmäßiger Haltungswechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen werde empfohlen. Weiter gehe aus dem Bericht hervor (Sozialberatung am 09.01.2019), dass sich die Klägerin bereits im Vorfeld der medizinischen Rehabilitation über ihre Rentenansprüche informiert und die Auskunft erhalten habe, dass 45 Versicherungsjahre erfüllt seien. Aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus strebe sie eine abschlagsfreie Rente an. Im Hinblick auf die Angaben in den Reha-Entlassungsberichten und die verrichtete Arbeit weise die Beklagte darauf hin, dass der begehrten Rente der Klägerin eine Lohnersatzfunktion zukomme, welche bei einem tatsächlich innegehabten Arbeitsplatz nicht greife.

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten nur Versicherte, die noch mindestens drei, aber nicht mehr sechs Stunden täglich arbeiten können, das verbliebene Restleistungsvermögen wegen Arbeitslosigkeit aber nicht in Erwerbseinkommen umsetzen könnten, eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten. Die Klägerin falle nicht unter diesen Personenkreis. Der Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente sollte nicht allein vom Gesundheitszustand des Versicherten abhängig gemacht werden (sog. abstrakte Betrachtungsweise), sondern auch davon, ob er noch in der Lage ist, bei der konkreten Situation des (Teilzeit-)Arbeitsmarktes die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit zur Erzielung eines Erwerbseinkommens einzusetzen. Die Klägerin habe durch ihre Arbeitsleistung bewiesen, dass sie in der Lage sei, die ihr verbliebene Arbeitsleistung noch gewinnbringend zur Erzielung eines Erwerbseinkommens einzusetzen. Sie besitze daher nach dem Willen der Gesetzgebung weder einen Anspruch wegen Arbeitslosigkeit noch wegen voller Erwerbsminderung, welche bei den sog. Arbeitsmarktrenten das Arbeitsmarktrisiko in bestimmten Ausprägungen mittragen solle. Inwieweit ein, der gesundheitlichen Situation der Klägerin durch einen eventuell im maßgeblichen Umfang angepasster (Teilzeit-)Arbeitsplatz tatsächlich unter gesundheitlicher Überforderung ausgeübt werde, sei hierbei bisher zum einen nicht ausreichend festgestellt, da lediglich auf den „regulären" Arbeitsplatz in der Polsterei abgehoben worden sei. Zum anderen komme es wie ausgeführt darauf nicht an.

Durch Aufhebungsvereinbarung zwischen der Klägerin und ihrer Arbeitgeberin vom 22.09.2021 ist das Arbeitsverhältnis einvernehmlich, nach dem Wortlaut der Vereinbarung insbesondere aus gesundheitlichen Gründen zum 30.09.2021 beendet worden. Die verbliebenen 85,5 Überstunden wurden mit der Lohnabrechnung September 2021 ausgezahlt, ebenso der offene Resturlaub von 11,5 Tagen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer Auskunft bei der (früheren) Arbeitgeberin der Klägerin. Diese hat unter dem 05.01.2021 (gemeint 2022) mitgeteilt, dass die Klägerin bei ihr von 11.04.1991 bis 30.09.2021 als Näherin beschäftigt war. Die Arbeit sei ab 01/2020 in Teilzeit zu 99,0 Stunden/Monat ausgeübt worden. Die zuletzt ausgeübte Teilzeittätigkeit sei nach Einschätzung der Arbeitgeberin der gesundheitlichen Situation der Klägerin angemessen gewesen. In den letzten Jahren vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis sei die Klägerin an folgenden Tagen arbeitsunfähig gewesen: In 2017 an 6 Tagen, in 2018 an 16 Tagen, in 2019 an 24 Tagen, in 2020 an 8 Tagen und in 2021 an 8 Tagen. Ergänzend ist ein sog. Arbeitszeugnis unter Benennung der von der Klägerin ausgeführten Aufgaben vorgelegt worden.

Die Beteiligten haben zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen.

Die Beklagte hat ausgeführt, die Klägerin habe durch ihre Arbeitsleistung bewiesen, dass sie bis zum Abschluss der Aufhebungsvereinbarung in der Lage gewesen sei, diesen Arbeitsplatz auszufüllen und die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen. Auch die Tatsache, dass die Klägerin gesundheitlich in der Lage war, im nennenswerten Umfang Überstunden aufzubauen (wobei hierbei nicht ersichtlich sei, in welchem Umfang Überstunden bereits abgebaut wurden), beweise, dass ihr quantitatives und qualitatives Leistungsvermögen ausreichend für die Ausübung ihrer Teilzeitarbeit war und eine gesundheitliche Überforderung nicht in dem Umfang vorgelegen haben könne, wie geltend gemacht werde. Die Klägerin habe im Zeitraum von 2017 bis 2021 nicht nur keine nennenswerten Krankheitszeiten gehabt, sondern sei vor ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb auch in der Lage gewesen, mindestens 85,5 Überstunden anzusammeln, was eindeutig gegen eine gesundheitliche Überforderung spreche. Nachdem die Klägerin zuletzt an drei Tagen in der Woche zu je 8,25 Stunden beschäftigt war, bedeute dies auf eine Fünf-Tagewoche umgerechnet, dass sie arbeitstäglich 4,95 Stunden gearbeitet hätte. Unter Berücksichtigung der dabei aufgelaufenen Überstunden stelle sich für die Beklagte nunmehr die Frage, ob die Klägerin tatsächlich lediglich eine Teilzeitarbeitsleistung verrichtet habe.

Mit Schreiben vom 03.02.2022 hat die Beklagte ein Anerkenntnis des Inhalts abgegeben, dass die Klägerin seit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum 30.09.2021 voll erwerbsgemindert ist. Hierzu werde auf die Bestimmungen des § 101 Abs. 1 SGB VI i. V. mit § 102 Abs. 2 SGB VI verwiesen, wonach Renten im Fall der Befristung frühestens mit dem Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Erwerbsminderung beginnen würden. Renten wegen Erwerbsminderung seien gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI grundsätzlich zu befristen. Eine Ausnahme hiervon sei nur bei Renten möglich, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht. Da die Klägerin noch mindestens drei Stunden arbeiten könne, liege die volle Erwerbsminderung lediglich aufgrund der Arbeitsmarktlage vor. Die Rente müsse daher befristet werden. Eine Befristung erfolge auch, wenn bei der Entscheidung über die Befristung zu erkennen sei, dass bereits vor dem Ende der jeweiligen Befristungsdauer ein Anspruch auf Regelaltersrente bestehe. Daher bestehe, sofern sich keine Änderung in den Verhältnissen ergebe, vom 01.04.2022 bis zum Beginn der Regelaltersrente neben dem bisherigen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auch ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung (s. Ausführungsbescheid vom 16.03.2022). Gemäß § 89 SGB VI werde für den Zeitraum des Zusammentreffens nur die höhere Rente geleistet. Im Übrigen werde noch darauf hingewiesen, dass der Arbeitgeber der Klägerin bestätigt habe, dass die ausgeübte Tätigkeit der Klägerin der gesundheitlichen Situation angemessen war.
Durch Ausführungsbescheid der Beklagten vom 16.03.2022 ist das Anerkenntnis ausgeführt und der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.04.2022 bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze bewilligt worden.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. August 2021 aufzuheben, soweit die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 04.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2020 verpflichtet wurde, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. August 2020 bis zum 31. März 2022 zu gewähren.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

die (verbliebene) Berufung zurückzuweisen und den Ausführungsbescheid der Beklagten vom 16. März 2022 aufzuheben, soweit er sich auf die Zeit vom. 1. August 2020 bis zum 31. März 2022 bezieht.

Sie hält die ergangene Entscheidung des SG für zutreffend. Die Klägerin habe aufgrund der Entscheidung des SG ihren Arbeitsplatz aufgegeben. Sie verfüge daher nicht mehr über einen leidensgerechten Arbeitsplatz - wenn dieser denn je leidensgerecht gewesen sei, was in Übereinstimmung mit dem SG für falsch gehalten werde. Die Klägerin habe hierzu ergänzend eine Aufhebungsvereinbarung zwischen ihr und der früheren Arbeitgeberin vorgelegt, wonach das Arbeitsverhältnis einvernehmlich, insbesondere aus gesundheitlichen Gründen zum 30.09.2021 beendet wurde. Es sei gutachterlich nachgewiesen, dass die Klägerin eine Tätigkeit ausgeübt habe, mit der sie "Raubbau“ an ihrer Gesundheit getrieben habe und dass diese Tätigkeit gerade nicht ihrer gesundheitlichen Situation angemessen gewesen sei. Die Einschätzung des Arbeitgebers ändere an dieser gutachterlichen Feststellung gar nichts, zumal sich ein Arbeitgeber mit Sicherheit nicht dem Vorwurf aussetzen wolle, er habe seinen Arbeitnehmer bzw. seine Arbeitgeberin über Gebühr gesundheitlich belastet. Bei konkreten Fragen an den Arbeitgeber zur Arbeitsunfähigkeit der Klägerin hätte das Gericht übrigens hierauf keine bzw. keine richtige Auskunft erhalten. Die Arbeitgeberin der Klägerin habe nämlich zu keinem Zeitpunkt eine Krankmeldung der Klägerin akzeptiert. Sie habe vielmehr in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin, welche regelmäßig vorgekommen seien, Überstunden verrechnet, die in Zeiten der Vollerwerbstätigkeit der Klägerin aufgelaufen waren. Nach wie werde das im Verwaltungsverfahren eingeholte ärztliche Gutachten für relevant und ausschlaggebend gehalten, in dem bestätigt werde, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit mit ihrer Gesundheit Raubbau betrieben habe.

Der Vorsitzende des Senats hat mit den Beteiligten am 09.11.2021 einen Termin zur Erörterung des Sach- und Streitstandes durchgeführt.

Durch Beschluss vom 09.11.2021 der Senat den Rechtsstreit nach § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Vorsitzenden Richter übertragen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen und der Verwaltungsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die nach § 151 Abs. 1 und 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 10.08.2021, durch welchen die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 04.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2020 verpflichtet wurde, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.08.2020 bis zum 31.07.2023 zu gewähren neben der bereits bewilligten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Durch das Teilanerkenntnis der Beklagten und den Ausführungsbescheid vom 16.03.2020 hat sich der streitige Zeitraum des Berufungsverfahrens reduziert auf die Zeit vom 01.08.2020 bis 31.03.2022. Der Zeitraum 01.04.2022 bis 31.07.2023 und der hierauf bezogene Berufungsantrag ist damit zwischen den Beteiligten außer Streit und bedarf keiner gerichtlichen Entscheidung (mehr); die Kläger-Seite ist dem nicht entgegengetreten, wenngleich sie das Teilanerkenntnis nicht zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits angenommen hat.

Die verbliebene Berufung ist nicht begründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung (auch) für den Zeitraum 01.08.2020 bis 31.03.2022 hat. Der Bescheid der Beklagten vom 04.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2020 und des Ausführungsbescheids vom 16.03.2020, über den der Senat auf Klage entscheidet, sind bezogen auf diesen Zeitraum rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert, dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand: 116. EL, September 2021, § 43 SGB VI, Rdnr. 58 und 30 ff.).

Nach diesen Grundsätzen besteht ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung in Form einer sog. Arbeitsmarktrente erst ab dem 01.04.2022. Ausweislich des urkundsbeweislich verwertbaren Gutachtens des Facharztes D1 vom 26.02.2020 ist die Klägerin ab der Rentenantragstellung vom 31.01.2020 für leichte Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt in wechselnder Arbeitshaltung in Tagschicht nur noch im Umfang von drei bis unter sechs Stunden leistungsfähig. Das Leistungsvermögen habe sich seit der letzten sozialmedizinischen Einschätzung am 30.01.2019 verschlechtert und dementsprechend bestehe auch eine zusätzliche quantitative Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Polsterin könne weiterhin unter dreistündig ausgeübt werden.

Diese ärztliche Einschätzung in Bezug auf die ausgeübte Teilzeittätigkeit der Klägerin als Polsterin wird allerdings widerlegt durch die Auskunft der früheren Arbeitgeberin vom 05.01.2022. Danach hat die Klägerin im Zeitraum von 2017 bis 2021 nur geringe Krankheitszeiten gehabt (in 2021 8 Tage, in 2020 8 Tage, in 2019 24 Tage, in 2018 16 Tage und in 2017 6 Tage). Aus diesen Fehlzeiten wird auch nicht erkennbar, dass die Arbeitsunfähigkeitszeiten bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses zugenommen hätten, was für eine zunehmende gesundheitliche Überforderung der Klägerin durch ihre Arbeit – trotz Reduzierung der Arbeitszeit - hätte sprechen können. Dass die Arbeitgeberin der Klägerin nicht bereit gewesen wäre, Krankschreibungen zu akzeptieren, ist nicht belegt; insbesondere wurden von dieser ja Arbeitsunfähigkeitszeiten dokumentiert. Von daher bestand für das Gericht kein dahingehender weiterer Aufklärungsbedarf. Gegen eine relevante gesundheitliche Überforderung spricht auch die hohe Zahl an aufgebauten Überstunden, die bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis mit der Lohnabrechnung September 2021 ausgezahlt wurden. Dass die Klägerin bei einer Beschäftigung an drei Tagen/Woche zu je 8,25 Stunden, was auf eine Fünf-Tagewoche gerechnet einer arbeitstäglichen Zeit von 4,95 Stunden entspricht, bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb in der Lage war, 85,5 Überstunden anzusammeln, legt nicht nahe, dass die Teilzeittätigkeit zu Lasten der Restgesundheit ging. Auch im Übrigen ist der Arbeitsgeberauskunft mit Blick auf das beigefügte Arbeitszeugnis und das Tätigkeitsprofil nicht zu entnehmen, dass die ausgeübte Tätigkeit nicht mit den qualitativen Einschränkungen vereinbar gewesen wäre, wie sich zuletzt aus dem Gutachten des Allgemeinmediziners D1 ergeben.

Damit ist nicht nachgewiesen, dass die bis 30.09.2021 ausgeübte Tätigkeit der Klägerin ihrer gesundheitlichen Situation nicht angemessen war bzw. auf Kosten der Restgesundheit ausgeübt wurde. Das Gericht hat die Beteiligten bereits darauf hingewiesen, dass an die Objektivierung des Merkmals „auf Kosten der Gesundheit“ erhebliche Anforderungen zu stellen sind. Insbesondere kommt der ausgeübten Tätigkeit in Verbindung mit der Arbeitgeberauskunft ein höherer Beweiswert zu als den vorangegangenen ärztlichen Bescheinigungen (ebenso Juris-PK-Freudenberg, § 43 Rn. 97 m.w.N.). Auch muss sich die gesundheitliche Überforderung in aller Regel in Arbeitsunfähigkeitszeiten manifestiert haben, woran es hier in relevantem Umfang fehlt.

Aus den genannten Gründen ist von der Ausübung einer leidensgerechten Teilzeittätigkeit der Klägerin bis zum 30.09.2021 auszugehen, weshalb schon aus diesem Grund für diese Zeit eine Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes und die Gewährung einer arbeitsmarktbedingten Rente wegen voller Erwerbsminderung zu verneinen ist. Auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der Teilzeitarbeitsmarkt selbst dann nicht als verschlossen gilt, wenn ein Versicherter einen Arbeitsplatz tatsächlich innehat, aus dem er Erwerbseinkommen erzielt, aber durch die Schwere oder Dauer der Arbeit gesundheitlich überfordert wird (vgl. BSGE 47, 57; BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 89; LSG Bayern, Urteil vom 12.02.2014, a.a.O. Rn. 48), kommt es daher hier nicht an.

Die Gewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung (erst) ab dem siebten Monat nach Eintritt der Arbeitslosigkeit ist ebenfalls nicht zu beanstanden und steht im Einklang mit den Bestimmungen des § 101 Abs. 1 SGB VI i. V. mit § 102 Abs. 2 SGB VI, wonach Renten im Fall der Befristung frühestens mit dem Beginn des siebten Kalendermonats nach Eintritt der Erwerbsminderung beginnen würden. Renten wegen Erwerbsminderung sind gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI grundsätzlich zu befristen. Eine Ausnahme besteht nur bei Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht. Da die Klägerin aber noch mindestens drei Stunden leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten kann, besteht die volle Erwerbsminderung lediglich aufgrund der Arbeitsmarktlage, hier der Arbeitslosigkeit ab 01.01.2021.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten unter Würdigung des Umstandes, dass der Versicherungsfall erst während des Berufungsverfahrens eingetreten ist.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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