L 4 AS 939/20

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 34 AS 3166/15
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 939/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Wird Kindergeld für mehrere Monate nachgezahlt, ändert dies jedenfalls nach der bis zum 31.07.2016 geltenden Rechtslage nichts an der Einstufung als laufende Einnahme i.S.d. § 11 Abs 2 SGB II. Die Kindergeldnachzahlung ist im Zuflussmonat als Einkommen zu berücksichtigen.

2. Die Versicherungspauschale von 30,00 Euro ist bei einer Nachzahlung von Kindergeld für mehrere Monates nicht mehrfach in Abzug zu bringen (Anschluss an Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 8. September 2020 – L 7 AS 354/19).

3. Der Ablauf der sechsmonatigen Frist gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ist in richtlinien- und verfassungskonformer Auslegung für die Dauer des unionsrechtlich bestimmten Mutterschaftsurlaubs gemäß Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 92/85/EWG, also während der Schutzfristen bzw. Beschäftigungsverbote sowohl vor als auch nach der Geburt gehemmt. Damit wirkt die Arbeitnehmereigenschaft auch in der Zeit des Mutterschutzes fort und die EU-Bürgerin ist nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen.

4. Eine unverheiratete EU-Bürgerin und ihr Kind besitzen jedenfalls in dessen erstem Lebensjahr ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen nach dem Aufenthaltsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland, wenn der drittenstaatenangehörige Vater des Kindes, der Asylsuchender bzw. gemäß § 60a AufenthG gedulderter Ausländer ist und in einer Asylberwerberunterkunft im Bundesgebiet lebt, das Sorgerecht für das Kind besitzt, diese Sorge tatsächlich ausübt und besondere Umstände vorliegen, die der Familie das Verlassen des Bundesgebietes unzumutbar machen, so dass die Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann. In einem solchen Fall sind die EU-Bürgerin und ihr Kind sind nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

5. Der Leistungsausschluss für das Kind folgt auch nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II, wenn es (auch) die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union besitzt. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz findet auf EU-Bürger keine Anwendung. Jedenfalls ist § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG dahingehend telelogisch zu reduzieren, dass die Vorschrift nur auf minderjährige Kinder der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 AsylbLG genannten Personen Anwendung findet, die im selben Haushalt leben.

 

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L 4 AS 939/20

S 34 AS 3166/15 Dresden

 

 

 

Sächsisches Landessozialgericht

Im Namen des Volkes

Urteil

In dem Rechtsstreit

1.        Z....

2.        C....  gesetzlich vertreten durch die Mutter Z…. und Y….

- Kläger und Berufungsbeklagte -

Prozessbevollmächtigte:        Rechtsanwältin X….
 

gegen

Jobcenter Dresden, vertreten durch den Geschäftsführer, Budapester Straße 30, 01069 Dresden

- Beklagter und Berufungskläger -

beigeladen:

Landeshauptstadt Dresden, vertreten durch den Oberbürgermeister, Rechtsamt, Grunaer Straße 2, 01069 Dresden

 

hat der 4. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2022 in Chemnitz durch die Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht Wagner, den Richter am Landessozialgericht Zimmer, den Richter am Landessozialgericht Krätzner und die ehrenamtlichen Richter Herr Malinowski und Herr Zetzsche für Recht erkannt:

      1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 6. August 2020 aufgehoben.

 

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. November 2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 4. Mai 2015, soweit er den Monat März 2015 betrifft, in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 verurteilt, an die Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu gewähren und zwar

 

für den Zeitraum vom 1. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 an die Klägerin zu 1 in Höhe von 742,76 EUR und an den Kläger zu 2 in Höhe von 440,00 EUR,

 

für den Zeitraum vom 1. Januar 2015 bis 31. Januar 2015 an die Klägerin zu 1 in Höhe von 734,78 EUR und an den Kläger zu 2 i.H.v. 433,86 EUR und

 

für den Zeitraum vom 1. Februar 2015 bis 28. Februar 2015 an die Klägerin zu 1 in Höhe von 753,64 EUR und an den Kläger zu 2 i.H.v. 445,00 EUR.

 

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

      1. Die Berufung des Beklagten wird im Übrigen zurückgewiesen.

 

      1. Der Beklagte hat den Klägern 9/10 ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

 

      1. Die Revision wird zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Kläger auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB) II im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 08.03.2015.

 

Die Klägerin zu 1 wurde 1973 in der Tschechischen Republik geboren. Sie ist geschieden, tschechische Staatsangehörige und zog am 10.09.2013 aus der Tschechischen Republik nach B..... Auf die Frage nach den Gründen ihrer Einreise teilte sie gegenüber dem Beklagten mit, sie beabsichtige die Heirat mit einem lybischen Staatsangehörigen, Herrn W..... Dieser war seit dem 04.02.2013 ausreisepflichtig, die Abschiebung war jedoch ausgesetzt und Herr W.... geduldet. Er lebte in V.... in einer Asylbewerbergemeinschaftsunterkunft und bezog Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

 

Seit dem 08.01.2014 war die Klägerin zu 1 für sechs Stunden wöchentlich als Reinigungskraft in einem Restaurant in B.... geringfügig beschäftigt. Der Stundenlohn betrug 6,00 EUR. Die pauschalen Abgaben trug der Arbeitgeber. Mit Schreiben vom 15.03.2014 kündigte dieser das Beschäftigungsverhältnis zum 31.03.2014.

 

Am 01.04.2014 nahm die Klägerin zu 1 ein bis zum 01.10.2014 befristetes Probearbeitsverhältnis als Reinigungs- und Servicekraft in einem Hotel in B.... auf. Das Beschäftigungsverhältnis mit der „U.....“ sollte nach Ablauf der Befristung enden, ohne dass es einer Kündigung bedürfe, wenn nicht bis zu diesem Zeitpunkt eine Fortsetzung vereinbart würde. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vertrages wird auf die Blätter 56 bis 59 der Beklagtenakte (Band I) verwiesen. Es wurden insbesondere bei einer Wochenarbeitszeit von 48 Stunden eine monatliche Bruttovergütung i.H.v. 465,00 EUR vereinbart, die zum 15. des Folgemonats auszuzahlen sei, ebenso wie bezahlter Urlaub von 10 Arbeitstagen und Entgeltfortzahlung bei unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit bis zur Dauer von sechs Wochen nach den gesetzlichen Bestimmungen. Der Arbeitgeber führte Beiträge zur Sozialversicherung ab.

 

Auf den Erstantrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 17.12.2013 lehnte der Beklagte die Leistungsgewährung mit Bescheid vom 11.02.2014 zunächst ab. Dagegen erhob die Klägerin zu 1 am 17.02.2014 Widerspruch, wobei sie nochmals betonte, die Nähe zu ihrem Partner und Verlobten gesucht zu haben. Die beabsichtigte Heirat könne nur deshalb nicht erfolgen, da Unterlagen des Partners fehlten. Mit Bescheid vom 17.04.2014, der zuletzt am 30.05.2014 der Höhe nach abgeändert wurde, bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.04.2014 bis 31.05.2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Im Übrigen wies er den Widerspruch mit Bescheid vom 24.04.2014 als unbegründet zurück. Rechtsmittel wurden dagegen nicht erhoben.

 

Am 12.05.2014 zeigte die Klägerin zu 1 gegenüber dem Beklagten ihre Schwangerschaft an. Der berechnete Entbindungstermin war laut vorgelegtem Mutterpass der …..2014. Die Schwangerschaft sei am …..2014 in der 8. Schwangerschaftswoche festgestellt worden. Ab dem 12.10.2014 bestehe Mutterschutz.

 

Am 06.05.2014 beantragte die Klägerin zu 1 die Zustimmung zum Umzug, da mit dem erwarteten Kind ein Zusammenleben in der bisherigen Wohnung, die sie mit anderen Frauen geteilt habe, nicht möglich sei. Mit Bescheinigung vom 26.05.2014 bestätigte der Beklagte, dass die Bruttokaltmiete für die zuletzt ausgewählte Unterkunft mit einer Größe von 60,34 m² in der T.... in B.... i.H.v. 360,00 EUR (272,00 EUR Kaltmiete + 88,00 EUR Betriebskostenvorauszahlungen) angemessen sei. Am 16.06.2014 zog die Klägerin zu 1 in diese Wohnung um, wobei eine monatliche Bruttowarmmiete i.H.v. 422,00 EUR einschließlich Heiz- und Warmwasserkostenvorauszahlung i.H.v. 62,00 EUR zu zahlen war.

 

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin zu 1 wurde vom Arbeitgeber aus betrieblichen Gründen am 18.05.2014 zum 31.05.2014 gekündigt. Gegen die Kündigung ging die Klägerin zu 1 trotz ihrer bereits bekannten Schwangerschaft nicht vor. Am 19.05.2014 sprach die behandelnde Frauenärztin wegen der Schwangerschaft der Klägerin zu 1 ein Beschäftigungsverbot für die Zeit vom 19.05.2014 bis 06.06.2014 aus. Die Klägerin zu 1 meldete sich bei der Agentur für Arbeit in B.... arbeitssuchend. Mit Bescheid vom 28.05.2014 lehnte diese die Gewährung von Arbeitslosengeld ab, weil die Klägerin zu 1 in den letzten zwei Jahren vor dem 01.06.2014 weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig gewesen sei und deshalb die Anwartschaftszeit nicht erfülle. Sie erteilte den Hinweis, die Klägerin zu 1 solle Arbeitslosengeld II beantragen, wenn ihr Lebensunterhalt nicht gesichert sei.

 

Auf ihren Folgeantrag bewilligte der Beklagte der Klägerin zu 1 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.06.2014 bis 30.11.2014. Die Klägerin zu 1 wurde im Bescheid darüber informiert, dass Anspruch auf Arbeitslosengeld II längstens bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes bestehe, sofern sie bis dahin keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehme. Ein am 10.07.2014 in Anwendung von § 45 Abs. 1 SGB X erlassener Rücknahmebescheid für die Zeit ab 01.08.2014 wurde nach richterlichem Hinweis im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht Dresden (S 46 AS 4634/14 ER) im Widerspruchsverfahren vom Beklagten wieder aufgehoben.

 

Mit Bescheid vom 18.11.2014 lehnte dieser den Fortgewährungsantrag für die Zeit ab dem 01.12.2014 entsprechend seiner Ankündigung ab. Die Klägerin zu 1 habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil sie ein Aufenthaltsrecht der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitssuche habe.

 

Am 23.11.2014 hat die Klägerin zu 1 in B.... den Kläger zu 2 geboren. Dessen Vater ist Herr Y.... Er ist lediger tunesischer Staatsbürger und hat die Vaterschaft durch eine von der Stadt B…. beurkundete Sorgeerklärung nach § 1626a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anerkannt. Herr Y.... wurde am 23.01.2008 dem Landkreis S.... zugewiesen, lebte bis zum 18.08.2015 in einer Asylbewerbergemeinschaftsunterkunft in V.... und bezog bis zu diesem Tag Leistungen nach § 3 AsylbLG analog zum Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Am 04.02.2015 wurde ihm gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Duldung erteilt, nachdem er sich bis dahin im Asylverfahren befunden hatte. Am 18.08.2015 wurde ihm eine Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) als Familienangehöriger des Klägers zu 2 ausgestellt. Die Leistungsbewilligung nach dem AsylbLG wurde mit Bescheid vom 26.08.2015 zum 31.08.2015 aufgehoben. Am 19.08.2015 ist er in die Wohnung der Kläger mit eingezogen.

 

Der Kläger zu 2 ist tschechischer Staatsbürger. Ob er darüber hinaus auch die tunesische Staatsbürgerschaft besitzt, ist nicht bekannt.

 

Mit Bescheid vom 06.01.2015 lehnte die mit Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 05.01.2017 in diesem Verfahren Beigeladene die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII ab. Dagegen erhoben die Kläger am 19.01.2015 Widerspruch, wobei die Klägerin zu 1 geltend machte, sie habe zumindest Anspruch auf Leistungen nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylbLG. Neben der Freizügigkeit stehe der Klägerin zu 1 ein Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 4 AufenthG zu. Über den Widerspruch ist – soweit ersichtlich – nicht entschieden worden.

 

Gegen den Bescheid des Beklagten vom 18.11.2014 erhoben die Kläger am 25.11.2014 durch die Prozessbevollmächtigte Widerspruch. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes wurde der Beklagte auf Antrag der Kläger vom Sächsischen Landessozialgericht (SächsLSG) durch Beschluss vom 22.04.2015 (Az.: L 7 AS 30/15 B ER) vorläufig verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 05.12.2014 bis zum 31.12.2014 Leistungen nach dem SGB II i.H.v. 937,80 EUR, für die Zeit vom 01.01.2015 bis 28.02.2015 i.H.v. 1.055,00 EUR monatlich und für die Zeit vom 01.03.2015 bis 08.03.2015 i.H.v. 281,33 EUR zu zahlen. Dem entsprach der Beklagte mit vorläufigem Bewilligungsbescheid (Ausführungsbescheid) vom 30.04.2015 (Blatt 265 der Beklagtenakte). Im Erörterungstermin vom 22.04.2015 wurden unter anderem die Betreuungsleistungen des Y.... vor der Arbeitsaufnahme der Klägerin zu 1 erörtert und von dieser beispielhaft dargelegt, dass der Vater mit dem Kind spazieren gegangen sei, während sie das Essen angerichtet habe. Anschließend sei der Vater wieder mit dem Kind rausgegangen.

 

Am 09.03.2015 nahm die Klägerin zu 1 eine sachgrundlos bis zum 08.03.2016 befristete Beschäftigung bei der R.... Facility Services Stiftung & Co. KG als Raumpflegerin im Umfang von 13,75 Stunden wöchentlich auf. Die Vergütung erfolgte nach Monatsende bis spätestens am 15. des Folgemonats.

 

Der Beklagte bewilligte den Klägern nach erklärtem Teilanerkenntnis im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit Bescheid vom 04.05.2015 für den Zeitraum vom 09.03.2015 bis 31.08.2015 wieder vorläufig Leistungen zur Sicherung des Unterhaltes nach dem SGB II. Für den Zeitraum vom 09.03.2015 bis 31.03.2015 wurden der Klägerin zu 1 Leistungen i.H.v. 321,62 EUR bewilligt. Der Beklagte rechnete beim Kläger zu 2 eine am 23.03.2015 auf dem Konto der Klägerin zu 1 zugeflossene Kindergeldnachzahlung i.H.v. 920,00 EUR (Bescheid der Familienkasse Sachsen vom 18.03.2015) für die Zeit von November 2014 bis März 2015 bis zur anteilig errechneten Bedarfsgrenze an. Übersteigendes Kindergeld wurde bei der Klägerin zu 1 berücksichtigt und um die Versicherungspauschale bereinigt. Zuletzt mit Bescheid vom 28.07.2016 verfügte der Beklagte die Erstattung von Leistungen bei endgültiger Festsetzung des Leistungsanspruchs, nahm dabei aber nur Abweichungen in der Leistungsbewilligung für die Zeit ab Mai 2015 vor. Die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 09.03.2015 bis 31.03.2015 wurde endgültig aufrechterhalten.

 

Den Widerspruch betreffend die Ablehnung der Leistungen im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 08.03.2015 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2015 als unbegründet zurück.

 

Der Klägerin zu 1 wurde mit Bescheid der Landeshauptstadt B.... vom 16.03.2015 Elterngeld i.H.v. 300,00 EUR monatlich nach dem Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG) bewilligt. Für den Zeitraum vom 23.11.2014 bis 23.06.2015 wurde ein Auszahlbetrag i.H.v. monatlich 59,44 EUR bestimmt, der nach Auffassung der Behörde dem nach § 2 Abs. 1 BEEG zu berücksichtigenden Einkommen aus Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1 vor der Geburt des Klägers zu 2 entspreche. Eine Nachzahlung für die Zeit vom 23.11.2014 bis 22.03.2015, mithin 237,76 EUR, erfolgte am 18.03.2015. Eine weitere Zahlung i.H.v. 59,44 EUR erfolgte am 23.03.2014. Am 08.01.2015 zahlte die Klägerin zu 1 ferner insgesamt 60,00 EUR und am 05.03.2015 insgesamt 62,00 EUR auf ihrem Konto ein. Die Herkunft dieses Geldes haben die Kläger trotz gerichtlicher Aufforderung nicht dargelegt.

 

Sie haben am 19.06.2015 beim Sozialgericht Dresden Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Beklagten erhoben und ausgeführt, die Klägerin zu 1 habe auch über den Ablauf des Beschäftigungsverbotes am 06.06.2014 hinaus Beschwerden wegen der Schwangerschaft gehabt, welche auf eine Diabeteserkrankung und hohen Blutdruck zurückzuführen seien. Trotzdem habe sie weiterhin versucht, eine Arbeit zu finden. So habe sie ein Probearbeitsverhältnis beim Q.... in B.... als Reinigungskraft begründen können, welches jedoch bereits nach drei Tagen wegen der Schwangerschaft wieder aufgehoben worden sei. Noch vor der Geburt des Klägers zu 2 am 23.11.2014 habe sich die Klägerin zu 1 aber entschieden, alsbald wieder eine Beschäftigung aufzunehmen, was dann bereits am 09.03.2015 erfolgt sei. Die Klägerin zu 1 habe vom 01.06.2014 bis zum 08.03.2015 ihre Arbeitnehmereigenschaft nicht verloren, weshalb den Klägern auch im verbliebenen Ablehnungszeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu gewähren seien. Dies folge aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 19.06.2014 – C 507/12 (Saint Prix), in der er auf den weiten Arbeitnehmerbegriff verweise. Demnach führten die Belastungen während einer Schwangerschaft und nach der Geburt, welche eine Frau dazu zwingen würden, ihre Arbeit vorübergehend aufzugeben, nicht dazu, dass diese nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingegliedert sei. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 1 in der Zeit des durch die Schwangerschaft bedingten Beschäftigungsverbotes und in der Zeit des Mutterschutzes (vom 12.10.2014 bis 18.01.2015) kein neues Beschäftigungsverhältnis habe begründen können. Daher könne diese Zeit auch nicht in die Berechnung der 6-Monatsfrist des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU einberechnet werden. Der EuGH habe sich betreffend des Beibehaltes der Arbeitnehmereigenschaft dahingehend geäußert, dass innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes die Beschäftigung wiederaufgenommen bzw. eine andere Stelle gefunden werden müsse. Dabei habe er nicht lediglich auf die Mutterschutzfristen gezielt. Ebenso habe sich das SächsLSG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren dahingehend geäußert, dass der angemessene Zeitraum nicht „fallbeilartig“ nach Ende der Mutterschutzfrist enden dürfe. Eine Frau müsse auch nach Ablauf des Mutterschutzes einen gewissen Zeitraum zur Verfügung haben, um eine Arbeitsstelle zu finden. Es bestehe anderenfalls eine Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Unionsbürgern. Auch dies müsse eine Rolle spielen, wenn bestimmt werde, was eine angemessene Zeitspanne i.S.d. EuGH-Rechtsprechung sei. Höchst hilfsweise bestehe ein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII gegen die Beigeladene.

 

Mit Urteil vom 06.08.2020 hat das Sozialgericht den Beklagten antragsgemäß verpflichtet, unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II i.H.v. 1.182,76 EUR für die Zeit vom 01.12.2014 bis zum 31.12.2014, i.H.v. 1.198,64 EUR monatlich für die Zeit vom 01.01.2015 bis zum 28.02.2015 und i.H.v. 319,63 EUR die Zeit vom 01.03.2015 bis zum 08.03.2015 zu gewähren. Im Wesentlichen hat es sich der Auffassung der Kläger angeschlossen und ausgeführt, nach der Rechtsprechung des EuGH sei der Begriff des „Arbeitnehmers“ i.S.d. Art. 45 des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) weit auszulegen. Insbesondere die Tatsache, dass eine Frau infolge körperlicher Belastungen ihrer Schwangerschaft ihre Beschäftigung aufgeben müsse, sei grundsätzlich nicht geeignet, ihr die Arbeitnehmereigenschaft abzusprechen. Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung stehe, bedeute nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert sei, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wiederaufnehme oder eine andere Beschäftigung finde. Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden könne, habe das Gericht alle konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG) zu berücksichtigen. Vorliegend habe nach § 6 Abs. 1 des deutschen Mutterschutzgesetzes das Beschäftigungsverbot der Klägerin zu 1 bereits acht Wochen nach der Geburt des Klägers zu 2, also am 18.01.2015 geendet. Jedoch sei die Klägerin zu 1 lediglich sieben Wochen später, also insgesamt 3 ½ Monate nach der Geburt ihres Sohnes, wieder in einer anderen Arbeitsstelle beschäftigt gewesen. Dies sei ein noch angemessener Zeitraum bis zur Wiederaufnahme der Arbeitnehmertätigkeit, in dem die Klägerin zu 1 als weiterhin in den Arbeitsmarkt eingegliedert angesehen und dementsprechend im Sinne der Rechtsprechung des EuGH von einer fortwährenden Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin zu 1 auch vom 01.12.2014 bis 08.03.2015 gesprochen werden könne. Bei der Auslegung des Gesetzes sei zu beachten, dass Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) der Familie der Kläger und Art. 6 Abs. 4 GG der Klägerin zu 1 als Mutter einen besonderen Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft gewähre. Auch das SächsLSG habe im Eilverfahren der Beteiligten festgestellt, dass eine „fallbeilartige" Beschneidung des Leistungsanspruchs der Kläger nach dem Mutterschutz nicht in Frage kommen dürfte und die kurze Zeit bis zur Aufnahme des Beschäftigungsverhältnisses sowie die Tatsache, dass der Kläger zu 2 noch nicht vier Monate alt gewesen sei und der besonderen Betreuung seiner Mutter bedurft habe, Berücksichtigung finden müsse. Andernfalls bestehe die Gefahr der strukturellen mittelbaren Diskriminierung von Frauen gegenüber Männern.

 

Am 12.11.2020 hat der Beklagte gegen das ihm am 13.10.2020 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, dass die Zeit zwischen dem 23.11.2014, dem Tag der Geburt des Klägers zu 2, und der tatsächlichen Arbeitsaufnahme am 09.03.2015 nicht als angemessen zu deklarieren sei. Aufgrund des bisherigen Lebenslaufes der Klägerin zu 1 sei es zu erwarten gewesen, dass diese sofort bzw. unverzüglich nach Beendigung der Mutterschutzfrist mit einer abhängigen Beschäftigung beginne. Nur so könne die Rechtsprechung des EuGH in Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „angemessen“ verstanden werden. Es möge sein, dass diese Ansicht „fallbeilartige“ Wirkung habe. Dies sei jedoch der Anwendung von Normen und der Rechtsprechung geschuldet. Der nationale Gesetzgeber habe mit den Regelungen zum Mutterschutz die Situation von Müttern ausreichend gewürdigt, um auch den Gesundheits- und den Fürsorgeschutz in Einklang zu bringen. Obgleich die Klägerin zu 1 in ihrem Berufszweig schon vor dem 09.03.2015 eine Anstellung hätte finden können, zumindest in dem Umfang, wie sie vor der Schwangerschaft ausgeübt worden sei, habe sie für die Dauer von fast zwei Monaten keine Tätigkeit aufgenommen. Für den Beklagten sei der Zeitverzug bis zum 09.03.2015 im Hinblick auf den Beruf und die Flexibilität in der Anstellungsbranche des Raumpflegepersonals zu weit. Allein der Wille, wieder arbeiten gehen zu wollen, helfe nicht über die fortlaufend und notwendig durchgängige Eingliederung im Arbeitsmarkt hinweg. Insoweit meine der Beklagte auch nicht, mit dem Ende der Mutterschutzfrist sei eine Zäsur unabdingbar verbunden. Der Begriff der Angemessenheit sei fallspezifisch zu betrachten. Die Klägerin zu 1 habe bislang aber nicht vorgetragen, weshalb der verspätete tatsächliche Zugang zum Arbeitsmarkt erst mit dem 09.03.2015 realisiert worden sei.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 06.08.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

 

Die Kläger beantragen,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verteidigen die Rechtsauffassung des Sozialgerichts und betonen, realistischer Weise sei es der Klägerin zu 1 erst nach dem Mutterschutz zuzumuten gewesen, sich um eine neue Arbeitsstelle zu bemühen. Hierfür habe die Klägerin zu 1 nur 1,5 Monate gebraucht, ein Zeitraum, der als angemessen zu bewerten sei, um einen neuen Arbeitgeber zu finden. Diese Auslegung werde durch die Regelungen des § 10 Abs. 1 SGB II gestützt. Demnach sei die Erwerbstätigkeit einem Leistungserbringer nicht zumutbar, wenn er körperlich nicht in der Lage zu einer bestimmten Arbeit sei. Die Regelungen des Mutterschutzes bestimmten, dass eine Erwerbstätigkeit während des Mutterschutzes generell nicht zumutbar sei. Weiterhin sei die Erwerbstätigkeit nicht zumutbar, wenn die Ausübung der Arbeit die Erziehung des Kindes gefährde. Insbesondere sehe der Gesetzgeber erst ab der Vollendung des dritten Lebensjahrs die Pflicht zum Besuch des Kindes in einer Betreuungseinrichtung vor. Das Verständnis des Beklagten stelle eine Ungleichbehandlung gegenüber männlichen Unionsbürgern und somit einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 23 AEUV und Art. 3 GG dar. Denn diese Auslegung bedeute, dass eine Frau, deren Mutterschutz innerhalb der 6-Monatsfrist beginne, weniger Zeit habe, sich eine neue Arbeit zu suchen als ein männlicher Unionsbürger. Zeiten des Mutterschutzes seien – wie benannt – regelmäßig die Zeiten, in denen eine Frau unter den besonderen Belastungen im Spätstadium der Schwangerschaft und in Vorbereitung auf die Geburt stehe bzw. sich nach der Geburt von den Anstrengungen erholen müsse sowie eine intensive Bindung zu dem Neugeborenen aufbauen könne. Während dieser Zeit könne sich eine Frau nur bedingt um eine Arbeit bemühen. Diese Zeiten seien deshalb zur Gewährleistung der Gleichbehandlung aus der Berechnung der 6-Monatsfrist des § 2 Abs. 2 Nr. 1 a FreizügG/EU herauszurechnen. Dies bedeute vorliegend zumindest, dass die 6-Monatsfrist mit Beginn des Mutterschutzes am 12.10.2014 nach vier Monaten und sechs Tagen unterbrochen worden sei. Sie sei sodann ab dem 19.01.2015 weitergelaufen. Die Restlaufzeit bis zu sechs Monaten habe demnach frühestens am 13.03.2015 geendet.

 

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie verteidigt ebenfalls die Rechtsauffassung des Sozialgerichts.

 

Im Übrigen wird hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes gemäß § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 136 Abs. 2 Satz 1 SGG auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Beigeladenen (4 Bände), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, und des Protokolls der mündlichen Verhandlung verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten (§§ 143, 151 SGG) ist zulässig, jedoch nur im Umfang des Tenors begründet. Das Urteil des Sozialgerichts vom 06.08.2020 ist aus Klarstellungsgründen aufzuheben und neu zu fassen. Die für die Monate Dezember 2014 bis Februar 2015 für die Bedarfsgemeinschaft der Kläger ausgeurteilten Leistungsansprüche sind in der Gesamthöhe unverändert den jeweiligen Klägern konkret zuzuordnen. Für den Monat Januar 2015 hat das Sozialgericht infolge unberücksichtigt gebliebenen Einkommens den Klägern zu viel Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zugesprochen. In selber Weise hat es für den Zeitraum vom 01.03.2015 bis 08.03.2015 zu Unrecht Leistungen zuerkannt. Davon abgesehen ist die Berufung des Beklagten jedoch unbegründet.

 

Zutreffende Klageart für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage i.S.d. § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG (vgl. u.a. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R – juris Rn. 10).

 

Streitgegenstand des Verfahrens ist neben der erstinstanzlichen Entscheidung der Ablehnungsbescheid vom 18.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.05.2015. Mit diesem hat der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.12.2014 abgelehnt. Mit dem, diese Entscheidung ändernden Bewilligungsbescheid vom 04.05.2015 hat der Beklagte den Klägern ab dem 09.03.2015 Leistungen bewilligt. Im Klageverfahren noch streitig ist deshalb der Zeitraum vom 01.12.2014 bis zum 08.03.2015. Aufgrund des die Berechnung und Bewilligung des Arbeitslosengeldes II prägenden Monatsprinzips, das in zahlreichen Vorschriften des SGB II, insbesondere in § 11 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB II, § 20 Abs. 1 Satz 3 SGB II, § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II und § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu finden ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 30.03.2017 – B 14 AS 18/16 R – juris Rn. 18; Urteil vom 09.04.2014 – B 14 AS 23/13 R, juris Rn. 27 und vom 28.10.2014 – B 14 AS 36/13 R – juris Rn. 25), bestimmt die bereits erfolgte Leistungsbewilligung aus dem bestandskräftigen Bescheid vom 04.05.2015 den Umfang eines etwaigen Leistungsanspruchs im streitigen Teilzeitraum vom 01.03.2015 bis 08.03.2015 aber mit. Es hat eine Ermittlung des Leistungsanspruchs für den gesamten Monat März 2015 zu erfolgen. Soweit zu viele Leistungen für die Zeit vom 09.03.2015 bis 31.03.2015 erbracht wurden, sind diese auf den ggf. festzustellenden Anspruch für den Zeitraum vom 01.03.2015 bis 08.03.2015 anzurechnen. Nicht streitgegenständlich ist demgegenüber der Ausführungsbescheid des Beklagten vom 30.04.2015, da dieser lediglich die Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung durch das SächsLSG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren umgesetzt hat (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 09.03.2022 – B 7/14 AS 30/21 R – juris Rn. 13).

 

Die Kläger haben im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 28.02.2015 Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II im tenorierten Umfang. Sie waren im streitgegenständlichen Zeitraum nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Dies gilt zwar auch für den Zeitraum vom 01.03.2015 bis 08.03.2015. Jedoch besteht in dieser Zeit kein weitergehender Leistungsanspruch. Denn die Klägerin zu 1 hat bereits durch Bescheid vom 04.05.2015 endgültig Leistungen für die Zeit vom 09.03.2015 bis 31.03.2015 bewilligt bekommen, die ihren tatsächlichen Anspruch im gesamten Monat März 2015 übersteigen. Der Kläger zu 2 gehörte infolge bedarfsdeckenden Einkommens in diesem Monat nicht zur Bedarfsgemeinschaft und war deshalb nicht leistungsberechtigt.

 

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl. I S. 2854) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig und hilfebedürftig sind (Nr. 2 und 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).

 

Die Klägerin zu 1 bewegte sich im streitigen Zeitraum innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB II.

 

Sie war auch erwerbsfähig i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Im vorgenannten Sinne können Ausländerinnen und Ausländer zudem nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte (§ 8 Abs. 2 SGB II). Körperliche Gründe standen einer Erwerbsfähigkeit der Klägerin zu 1 nicht entgegen. Sie war im streitigen Zeitraum auch nicht i.S.v. § 8 Abs. 2 SGB II als erwerbsunfähig anzusehen. Zwar war für Bürger der Europäischen Union (EU) der zum 01.01.2007 beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien (vgl. Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union vom 25.04.2005, BGBl. II 2006, S. 1146) die Arbeitnehmerfreizügigkeit für eine Übergangsfrist von sieben Jahren in der Weise beschränkt, dass die bestehenden nationalen Regelungen für den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für ausländische Staatsangehörige auch für diese neuen EU-Bürger beibehalten wurden. Diese Einschränkung ist jedoch zum 31.12.2013 und damit vor dem hier streitigen Zeitraum ausgelaufen. Die Klägerin zu 1 als rumänische Staatsbürgerin benötigte keine Arbeitsgenehmigung-EU mehr (§ 284 Abs. 1 Satz 2 SGB III i.d.F. des Gesetzes vom 07.12.2006, BGBl. I S. 2814). Sie war als Bürgerin eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union uneingeschränkt berechtigt, in der Bundesrepublik Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen.

 

Die Klägerin zu 1 verfügte im streitigen Zeitraum auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen, tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Dieser Annahme steht bei einem Unionsbürger nicht entgegen, dass er weder Inhaber einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU noch eines Aufenthaltstitels nach dem AufenthG ist. Denn Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer Zukunftsoffenheit liegt bei niederlassungswilligen Unionsbürgern regelmäßig vor. Ihr Aufenthalt ist vor einer Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde nicht auflösend befristet oder auflösend bedingt. Der Aufenthalt eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers kann nur wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahren, beendet werden. Das Aufenthaltsrecht besteht, solange der Aufnahmemitgliedstaat nicht durch einen nationalen Rechtsakt festgestellt hat, dass der Unionsbürger bestimmte vorbehaltene Bedingungen i.S.d. Art 21 AEUV nicht erfüllt (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 18 f. m.w.N.).

 

Ausgehend davon hatte die Klägerin zu 1 im streitigen Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Denn sie lebte mit ihrem minderjährigen Sohn, dem Kläger zu 2, in ihrer Wohnung in B..... Dieser Aufenthalt dort war auch zukunftsoffen angelegt. Denn die Klägerin zu 1 wollte dauerhaft mit ihrem Kind und dem leiblichen Vater in der Bundesrepublik leben. Sie hat ihr Freizügigkeitsrecht auch nicht infolge Verlustfeststellung durch ein Verwaltungsverfahren verloren.

 

Die Klägerin zu 1 war im Bewilligungszeitraum gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II i.V.m §§ 911 ff. SGB II hilfebedürftig. Dasselbe gilt für den im Zeitraum vom 01.12.2014 bis 28.02.2015 mit der Klägerin zu 1 in Bedarfsgemeinschaft lebenden Kläger zu 2.

 

Dabei ist von einem monatlichen Regelbedarf der Klägerin zu 1 i.H.v. 391,00 EUR im Dezember 2014 sowie i.H.v. 399,00 EUR im streitigen Zeitraum ab 01.01.2015 entsprechend der Regelbedarfsstufe 1, § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB Il i.V.m. Nr. 1 der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 SGB II für die Zeit ab 01.01.2014 vom 16.10.2013 (BGBl. I S. 3857) und für die Zeit ab 01.01.2015 vom 15.10.2014 (BGBl. I S. 1620) auszugehen.

 

Die Klägerin zu 1 hatte darüber hinaus Anspruch auf Zuerkennung eines Mehrbedarfs gemäß § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II i.H.v. 140,76 EUR für Dezember 2014 und i.H.v. 143,64 EUR für die Zeit ab 01.01.2015. Bei Personen, die mit einem Kind unter sieben Jahren zusammenleben und allein für dessen Pflege und Erziehung sorgen, ist demnach ein Mehrbedarf i.H.v. 36 Prozent des nach § 20 Abs. 2 SGB II maßgebenden Bedarfs anzuerkennen. Alleinige Sorge i.S.d. § 21 Abs. 3 SGB II liegt – unabhängig vom Personensorgerecht der §§ 1626 ff. BGB – vor, wenn bei der Pflege und Erziehung keine andere Person in erheblichem Umfang mitwirkt, insbesondere, wenn der hilfebedürftige Elternteil nicht von dem anderen Elternteil oder Partner nachhaltig unterstützt wird oder wenn eine nachhaltige Entlastung innerhalb des Zeitraums, in dem das Kind sich bei dem anderen Elternteil aufhält, eintritt (vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 167/11 – juris Rn.14 m.w.N.). Ausgehend davon ist festzustellen, dass die Klägerin zu 1 im streitgegenständlichen Zeitraum mit dem am 23.11.2014 neugeborenen Kläger zu 2 allein in ihrem Haushalt in B.... lebte. Der Vater, Herr Y...., wohnte in einer Asylbewerberunterkunft in V..... Auch wenn im Rahmen des Erörterungstermins vor dem SächsLSG von der Klägerin zu 1 mitgeteilt worden ist, dass Herr Y.... regelmäßig zum Essen erschienen und im Vorfeld bzw. danach mit dem Kind spazieren gegangen sei, begründet dies keine derart nachhaltige Unterstützungsleistung bei der Erziehung und Pflege des Kindes, dass der Mehrbedarf nicht gerechtfertigt wäre.

 

Darüber hinaus war gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II Bedarf für Unterkunft und Heizung i.H.d. tatsächlichen Aufwendungen von 422,00 EUR anzuerkennen. Der Beklagte hatte bei Einzug der Klägerin zu 1 in die Wohnung die im streitigen Zeitraum tatsächlich angefallenen, monatlichen Aufwendungen als angemessen anerkannt, sodass diese zu berücksichtigen sind. Da die Klägerin zu 1 mit dem Kläger zu 2 im streitigen Zeitraum in der Wohnung zusammenlebte, entfällt bei der gebotenen Aufteilung nach Köpfen die Hälfte des Bedarfs, also 211,00 EUR, auf die Klägerin zu 1.

 

Der Kläger zu 2 war im streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.12.2014 bis 28.02.2015 berechtigt, Sozialgeld nach Maßgabe des § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.d.F. der Neubekanntmachung vom 01.04.2011 und des § 23 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 (BGBl. I S. 453) zu erhalten. Nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten danach Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben, wobei die Leistungsansprüche gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II ebenso wie das Arbeitslosengeld II den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung umfassen.

 

Der Kläger zu 2, der im Bewilligungszeitraum das 15. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte und somit nicht erwerbsfähiger Leistungsberechtigter war (vgl. § 7 Abs. 1 SGB II), lebte mit der Klägerin zu 1 in der Zeit vom 01.12.2014 bis 28.02.2015 in einer Bedarfsgemeinschaft.

 

Sein monatlicher Regelbedarf betrug 229,00 EUR im Dezember 2014 sowie 234,00 EUR im streitigen Zeitraum ab 01.01.2015 entsprechend der Regelbedarfsstufe 6, § 23 Nr. 1 SGB Il i.V.m. Nr. 5 der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20 Abs. 5 SGB II für die Zeit ab 01.01.2014 vom 16.10.2013 (BGBl. I S. 3857) und für die Zeit ab 01.01.2015 vom 15.10.2014 (BGBl. I S. 1620). Da der Kläger zu 2 mit der Klägerin zu 1 im streitigen Zeitraum in der Wohnung zusammenlebte, entfällt die zweite Hälfte des o.g. Gesamtbedarfs für Kosten der Unterkunft und Heizung, also weitere 211,00 EUR, auf den Kläger zu 2. Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) hatte er im streitigen Zeitraum nicht.

 

Dem damit festzustellenden Bedarf der Klägerin zu 1 i.H.v. 742,76 EUR und des Klägers zu 2 i.H.v. 440,40 EUR im Dezember 2014 sowie i.H.v. 753,64 EUR (Klägerin zu 1) bzw. i.H.v. 445,00 EUR (Kläger zu 2) in der Zeit ab Januar 2015 standen von Dezember 2014 bis Februar 2015 keine Einkünfte aus Kinder- und Elterngeld gegenüber. Ausweislich der vorliegenden Kontoauszüge wurden diese Leistungen erstmals im März 2015 an die Klägerin zu 1 ausgezahlt.

 

Sowohl laufende als auch einmalige Einnahmen sind grundsätzlich in dem Monat zu berücksichtigen, in dem sie zufließen (§ 11 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 SGB II). Dies gilt auch für Kindergeldzahlungen der Familienkassen. Fließen diese – wie hier – erst zu einem späteren Zeitpunkt als Nachzahlung zu, können sie jedenfalls nicht vor dem Monat des Zuflusses berücksichtigt werden. Soweit diskutiert wird, ob es sich bei Kindergeldnachzahlungen um einmalige oder laufende Einnahmen handelt, insbesondere nachdem der Gesetzgeber zum 01.08.2016 die Vorschrift des § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II eingefügt hat, berührt dies allein die Frage der Verteilung auf den weiteren Zeitraum nach dem Monat des Zuflusses (vgl. Landessozialgericht [LSG] für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.11.2015 – L 19 AS 924/15 – juris Rn. 30, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.2016 – L 1 AS 4849/15 – juris Rn. 37 ff., LSG Hamburg, Urteil vom 25.10.2019 – L 4 AS 173/18 – juris Rn. 19, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.05.2019 – L 18 AS 2347/18 – juris Rn. 20).

 

Soweit das BSG entschieden hat, dass die Nachzahlung von Kinderzuschlag i.S.d. § 6a Bundeskindergeldgesetz (BKKG) ausnahmsweise abweichend vom tatsächlichen Zufluss (normativ) dem Monat als Einkommen zuzurechnen ist, für den er zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II erbracht wurde (vgl. BSG, Urteil vom 25.10.2017 – B 14 AS 35/16 R – juris), sind diese Grundsätze auf die Anrechnung des Kindergeldes nach §§ 62 ff. Einkommensteuergesetz (EStG) nicht anwendbar. Das BSG hat zur Begründung des normativen Zuflusses unter Rn. 28 der Entscheidung ausgeführt:

 

„(..) b) Einen derart vom tatsächlichen Mittelzugang normativ abweichenden Zufluss bestimmt für den Kinderzuschlag § 6a Abs 1 Nr 4 Satz 1 BKGG. Voraussetzung für dessen Bezug ist danach zusätzlich zu den Mindest- und den Höchsteinkommensgrenzen nach § 6a Abs 1 Satz 1 Nr 2 und 3 BKGG, dass durch ihn Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II vermieden wird. Zusammen mit der Mindesteinkommensgrenze bewirkt die Regelung, dass nur diejenigen Eltern den Kinderzuschlag erhalten, deren Bedarf nach dem SGB II durch eigenes Einkommen gesichert ist (zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzung des § 6a Abs 1 Nr 4 Satz 1 BKGG vgl nur BSG vom 26.7.2016 - B 4 KG 2/14 R - BSGE 122, 11 = SozR 4-5870 § 6a Nr 7, RdNr 12). Damit ist bezweckt, dass die Familien regelmäßig nur ein Verwaltungsverfahren entweder im Jobcenter als Empfänger von Alg II und Sozialgeld oder bei der Familienkasse für den Zuschlag durchlaufen müssen (BT-Drucks 15/1516 S 83), also entweder dem SGB II oder dem BKGG (Kinderzuschlag) zugeordnet sind (BSG vom 10.5.2011 - B 4 KG 1/10 R - BSGE 108, 144 = SozR 4-5870 § 6a Nr 2, RdNr 14 mwN). Dieses wechselseitige Ausschlussverhältnis der Leistungssysteme nach SGB II einerseits und § 6a BKGG andererseits steht der Annahme des Beklagten entgegen, dass ein nachträglich gezahlter (Gesamt-)Kinderzuschlag während des Bezugs von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II (notfalls auch) für diesen Zeitraum bedarfsdeckend einzusetzen ist; solche existenzsichernden Wirkungen sind ihm kindergeldrechtlich nach § 6a Abs 1 Nr 4 Satz 1 BKGG gerade nicht zugedacht. Grundsicherungsrechtlich sind deshalb die Leistungen nach § 6a BKGG nur den Monaten als Einkommen zuzurechnen, für die sie zur Vermeidung des Leistungsbezugs nach dem SGB II bestimmt sind. (..)“

 

Anders verhält es beim hier streitigen steuerlichen Kindergeld. Diesem kommt bereits die gesetzliche Bedeutung des Kinderzuschlages nicht zu, nämlich Hilfebedürftigkeit des Kindergeldempfängers nach dem SGB II zu vermeiden. Daher gibt es keinen Anlass dafür, ausnahmsweise vom Grundsatz abzuweichen, dass bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II nur „bereite“ Mittel im Zeitpunkt des Zuflusses zur Bedarfsdeckung eingesetzt werden.

 

Die Grundsätze des tatsächlichen Zuflusses gelten im Grundsatz auch für die Gewährung von Elterngeld nach dem BEEG, soweit es auf die Leistungen nach dem SGB II angerechnet wird.

 

Die Kläger müssen sich jedoch im Januar 2015 den Zufluss eines Einzahlungsbetrages i.H.v. 60,00 EUR auf dem Konto der Klägerin zu 1 als Einkommen anrechnen lassen. Sie haben trotz Aufforderung des Gerichts nichts dazu vorgetragen, welche Herkunft die Gutschrift auf dem Konto der Klägerin zu 1 hatte. Als damit bereites Zahlungsmittel zur Deckung des Lebensunterhaltes, das im streitigen Bewilligungszeitraum einmalig zugeflossen ist, war es somit als Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen. Es ergeben sich auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass diese Einnahme etwa nach § 11a SGB II bzw. nach § 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (ALG II-V) i.d.F. vom 21.03.2013 unberücksichtigt bleiben könnte.

 

Abzugsfähig von diesem Einkommen war lediglich ein Betrag i.H.v. monatlich 30,00 EUR. Die Kläger haben keine konkreten Aufwendungen dargelegt und nachgewiesen, die Absetzbeträge nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 8 SGB II begründen könnten. Die Klägerin zu 1 war im Anrechnungsmonat insbesondere nicht erwerbstätig und hat auch kein nachgewiesenes Erwerbseinkommen erzielt, sodass ein Freibetrag nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Abs. 3 SGB II ebenso ausscheidet wie der Absetzbetrag gemäß § 11b Abs. 1 Satz 2 SGB II. Abzugsfähig ist allein der Pauschbetrag i.H.v. 30,00 EUR für die Beiträge zu privaten Versicherungen nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II, die nach Grund und Höhe angemessen sind (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V). Auf den Nachweis, ob tatsächlich Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind oder nicht, kommt es nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.2008 – B 14 AS 55/07 R – juris Rn. 34 und Urteil vom 13.05.2009 – B 4 AS 39/08 R – juris Rn. 22)

 

Ausgehend davon und unter Verteilung des anrechenbaren Einkommens i.H.v. 30,00 EUR auf die Kläger im Verhältnis ihres Bedarfes bestand im Januar 2015 ein Restbedarf der Klägerin zu 1 i.H.v. 734,78 EUR und des Klägers zu 2 i.H.v. 433,86 EUR, der vom Beklagten durch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu decken ist. Für die Zeit vom 01.12.2014 bis 31.12.2014 bestand ein Anspruch der Klägerin zu 1 auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. 742,76 EUR und des Klägers zu 2 i.H.v. 440,40 EUR. Im Zeitraum vom 01.02.2015 bis 28.02.2015 betrug der Anspruch 753,64 EUR (Klägerin zu 1) bzw. 445,00 EUR (Kläger zu 2).

 

Demgegenüber verfügte der Kläger zu 2 im März 2015 über anrechenbares Einkommen aufgrund einer Kindergeldnachzahlung, welches seinen festgestellten Bedarf i.H.v. 445,00 EUR (234,00 EUR Regelbedarf + 211,00 EUR Bedarf für Kosten der Unterkunft und Heizung) überstieg.

 

Die am 23.03.2015 zugeflossene Kindergeldnachzahlung i.H.v. 920,00 EUR stellt eine laufende Einnahme i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II dar, die vollständig im Monat des Zuflusses anzurechnen war. Der Senat schließt sich insoweit der überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung an, wonach derartige Zuflüsse jedenfalls nach der bis zum 31.07.2016 maßgeblichen Rechtslage keine einmaligen Einnahmen i.S.d. § 11 Abs. 3 SGB II darstellen, die einer Verteilung auf die Folgemonate zugänglich wären (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.11.2015 – L 19 AS 924/15 – juris Rn. 30, LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.2016 – L 1 AS 4849/15 – juris Rn. 37 ff., LSG Hamburg, Urteil vom 25.10.2019 – L 4 AS 173/18 – juris Rn. 19, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.05.2019 – L 18 AS 2347/18 – juris Rn. 20).

 

Gemäß § 11 Abs. 1 Sätze 4 und 5 SGB II ist das Kindergeld als Einkommen dem jeweiligen Kind zuzurechnen, soweit es bei diesem zur Sicherung des Lebensunterhalts, mit Ausnahme der Bedarfe nach § 28 SGB II, die hier nicht geltend gemacht sind, benötigt wird, sodass der vorgenannte Bedarf des Klägers zu 2 vollständig gedeckt war und er im März 2015 mit der Klägerin zu 1 keine Bedarfsgemeinschaft bildete (vgl. § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).

 

Der Bedarf der Klägerin zu 1 im März 2015 ist durch die endgültig gewordene Leistungsbewilligung des Beklagten vom 04.05.2015 bereits gedeckt.

 

Das den Bedarf des Klägers zu 2 übersteigende Einkommen aufgrund der Kindergeldnachzahlung ist bei der Klägerin zu 1 anzurechnen ebenso wie die auf ihrem Konto ersichtliche Gutschrift i.H.v. 62,00 EUR, zu deren Herkunft die Kläger ebenfalls nichts vorgetragen haben. Mit den bisherigen Ausführungen war diese Gutschrift damit als bereites Zahlungsmittel zur Deckung des Lebensunterhaltes anzusehen, das im streitigen Bewilligungszeitraum einmalig zugeflossen und demnach als Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen ist. Es ergeben sich auch insoweit keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Einkünfte nach § 11a SGB II bzw. nach § 1 ALG II-V i.d.F. vom 21.03.2013 unberücksichtigt bleiben könnten.

 

Offenbleiben kann im Übrigen, ob die Versicherungspauschale (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 ALG II-V) nur einmalig beim (übersteigenden) Einkommen der Klägerin zu 1 in Abzug zu bringen ist oder ob darüber hinaus, da die Kindergeldnachzahlung im März 2015 nicht das einzige Einkommen der Bedarfsgemeinschaft war, auch noch vor der Feststellung des zur Bedarfsdeckung benötigten Einkommens beim Kläger zu 2 eine solche bei ihm berücksichtigt werden muss, unabhängig davon, ob tatsächlich Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind oder nicht. Selbst bei Abzug von damit 60,00 EUR ergibt sich ein zu berücksichtigendes Einkommen der Klägerin zu 1 i.H.v. 477,00 EUR (920,00 EUR – 445,00 EUR [Bedarf des Klägers zu 2] – 30,00 EUR [Pauschale für Kläger zu 2] + 62,00 EUR [Kontogutschrift] – 30,00 EUR [Pauschale für Klägerin zu 1]). Der ungedeckte Bedarf beträgt in diesem Fall lediglich 276,64 EUR (753,64 EUR Gesamtbedarf – 477,00 EUR anrechenbares Einkommen). Der Beklagte hat der Klägerin zu 1 jedoch bereits mit Bescheid vom 04.05.2015 Leistungen i.H.v. 321,62 EUR endgültig gewährt (vgl. insoweit Bescheid vom 28.07.2016). Folglich muss auch nicht erörtert werden, ob die Berechnung des anrechnungsfreien Eltern-geldes nach § 10 Abs. 5 Satz 2 BEEG durch die Landeshauptstadt B.... zutreffend erfolgt ist und damit weiteres anrechenbares Einkommen nicht existiert bzw. ob dem Träger der Leistungen nach dem SGB II diesbezüglich eine eigenständige Prüfungspflicht zukommt.

 

Ein weitergehender, wiederholter Abzug der Versicherungspauschale sowohl bei der Klägerin zu 1 als auch beim Kläger zu 2 aufgrund der Eigenschaft des Einkommens als Nachzahlung für fünf Monate kommt zur Überzeugung des Senats nicht in Betracht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat diesbezüglich im Urteil vom 08.09.2020 (L 7 AS 354/19 – juris Rn. 31 bis 34; die zugelassene Revision wurde ohne Entscheidung in der Sache erledigt; BSG, Beschluss vom 25.06.2021 – B 4 AS 78/20 R) Folgendes ausgeführt:

 

„(..) Entgegen der Auffassung der Klägerin war der Pauschbetrag von 30,00 Euro im September 2016 von dem Einkommen nicht zweimal in Abzug zu bringen. Die Entscheidung des BSG vom 17. Juli 2014 (B 14 AS 25/13BSGE 116, 194) ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. In dieser Entscheidung hatte das BSG den Grundfreibetrag des § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (im Folgenden a.F.; nunmehr § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II) in Höhe von 100,00 Euro zweimal in Abzug gebracht, weil einem Leistungsberechtigten innerhalb eines Monats in zwei Monaten erarbeitetes Arbeitsentgelt aus einem Beschäftigungsverhältnis zugeflossen war. Das BSG hat die doppelte Ansetzung des Grundfreibetrags mit der vom Gesetz intendierten Anreizwirkung des Freibetrags für die Aufnahme oder Aufrechterhaltung einer nicht bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit begründet (BSG, Urteil vom 17. Juli 2014 – B 14 AS 25/13BSGE 116, 194 = juris RdNr. 13). Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um ein Erwerbseinkommen, sondern um die Zahlung von Kindergeld, also um Einkommen aus einer Sozialleistung, bei der die Argumentation des BSG zur Anreizwirkung des Grundfreibetrags keinerlei Rolle spielt.

 

Soweit das LSG Berlin Brandenburg in seinem Urteil vom 17. September 2015 (L 31 AS 1571/15 - juris) der Auffassung ist, die Entscheidung des BSG zur mehrfachen Absetzung des Freibetrags gelte unabhängig von der Einkommensart, weil es rechtsdogmatisch um die Berücksichtigung von Aufwendungen gehe, die der Gesetzgeber unabhängig von der Art des Einkommens für absetzbar erklärt habe (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, aaO. Juris RdNr. 31), überzeugt dies den Senat nicht. Für diese Auffassung finden sich weder Anhaltspunkte in den Gesetzgebungsunterlagen des Freibetragsneuregelungsgesetzes, durch das der Grundfreibetrag von 100,00 Euro in § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II a.F. eingeführt worden war (vgl. BT-Drs. 15/5446), noch in der Entscheidung des BSG vom 17. Juli 2014. In der Gesetzesbegründung werden allein die seinerzeit mangelnde Transparenz der Berechnung der Freibeträge, die Anreizfunktion des neuen Freibetrags für mögliche Hinzuverdienstmöglichkeiten und der Effekt der Vereinfachung für die Verwaltung erwähnt (vgl. BT-Drs. 15/5446, S. 4). Das BSG wiederum stellt allein auf Erwerbseinkommen ab und äußert sich nicht dazu, dass die mehrfache Absetzung des Freibetrags unabhängig von der Einkommensart erfolgen solle.

 

Abgesehen davon, dass bereits der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Nr. 1 Alg II-VO (‚ein Betrag in Höhe von 30 Euro monatlich‘) der Auffassung des LSG Berlin-Brandenburg entgegensteht, die Versicherungspauschale von 30,00 Euro in einem Monat mehrfach zum Abzug zu bringen, gibt es – anders als beim Erwerbseinkommen – auch kein Bedürfnis für den mehrfachen Abzug der Versicherungspauschale bei Einkommen aus Sozialleistungen. Das LSG Berlin-Brandenburg argumentiert deshalb im Ergebnis sozialpolitisch, indem es behauptet, der Zweck der Absetzungsbeträge und insbesondere der Versicherungspauschale bestehe darin, einen dem unteren Lebensstandard in Deutschland entsprechendes Leben auch dem Hilfeempfänger zu ermöglichen, also das sog. soziokulturelle Existenzminimum zu sichern, weshalb die erst nachträgliche, zusammengefasste Auszahlung dem Hilfeempfänger ebenso wenig zum Nachteil gereichen dürfe wie verspätet und deshalb für mehrere Monate ausgezahltes Arbeitsentgelt. Diese Prämisse des LSG Berlin-Brandenburg wird jedoch vom LSG nicht belegt und ist zudem fraglich. In der Gesetzesbegründung zum Freibetragsneuregelungsgesetz wird z.B. nicht die Wahrung des soziokulturellen Existenzminimums als Grund für die Gewährung des Pauschalfreibetrags genannt, sondern – wie schon oben ausgeführt – der von der Pauschale ausgehende Anreiz für Erwerbstätigkeit, die Transparenz der Berechnung und Verwaltungsvereinfachung. Auch für die Pauschalierungen nach der Alg II-V werden als Gründe für deren Schaffung vor allem die Verwaltungsvereinfachung angeführt (vgl. Schmidt in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 11b RdNr. 27; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 11 RdNr. 14). Ausgehend von dem vom Gesetzgeber vorgegebenen Monatsprinzip erweist sich die Argumentation des LSG Berlin-Brandenburg außerdem auch als rechtlich zweifelhaft. In dem Monat des Zuflusses des Kindergelds sind die Beiträge für nach Grund und Höhe angemessene Versicherungen durch den – einmaligen – Abzug der Versicherungspauschale bereits berücksichtigt, so dass in dem Monat des Zuflusses eine Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums ausgeschlossen ist. In dem Monat zuvor, in dem kein Kindergeld zugeflossen ist, ist zwar kein Abzug der Versicherungspauschale erfolgt. Dies führt aber auch in diesem Monat nicht zu einer Unterschreitung des soziokulturellen Existenzminimums. Anderenfalls würde in all den Fällen, in denen Leistungsberechtigte zwar eine nach Grund und Höhe angemessene Versicherung abgeschlossen haben, aber keinerlei Einkommen beziehen, das soziokulturelle Existenzminimums trotz Gewährung des Regelbedarfs und der Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung stets unterschritten. Ein solches Verständnis des soziokulturellen Existenzminimums stünde in Widerspruch zur Gesamtkonzeption der Leistungsgewährung nach dem SGB II, wonach gemäß § 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe der Bedarfe nach § 19 Absätzen 1 und 2 SGB II erbracht werden, die bei Leistungsberechtigten ohne Einkommen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung umfassen, also ohne Berücksichtigung von Beiträgen für Versicherungen. Nach § 3 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB II ist damit der Bedarf der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen vollständig gedeckt, was nach dem Verständnis des LSG Berlin-Brandenburg dagegen nicht der Fall wäre.

 

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Klägerin angeführten Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 29. Januar 2015 (L 7 AS 4641/12). Dem vom LSG Baden-Württemberg entschiedenen Fall lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem dem dortigen Kläger eine Rentenzahlung für mehrere Monate in einem Monat ausgezahlt worden war. Das LSG hat dort keinerlei Argumente dafür angeführt, warum bei einer Rentennachzahlung für mehrere Monate für jeden dieser Monate die Versicherungspauschale abgesetzt werden sollte. Es hat lediglich auf das Urteil des BSG vom 17. Juli 2014 verwiesen, das aber – wie bereits oben ausgeführt – keine Aussagen zur mehrfachen Absetzung von Freibeträgen bei Sozialleistungen trifft. Die Bedeutung der Entscheidung des BSG vom 17. Juli 2014 ist eben auf die seltene Ausnahmekonstellation beschränkt, in die der Arbeitgeber im selben Monat den Rhythmus der Entgeltzahlung umgestellt hat (Söhngen in Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 11b RdNr. 51; vgl auch Stotz, juris PR-SozR 2/2015 Anm.3). (..)“

 

Dieser Auffassung schließt sich der Senat nach eigener Prüfung vollumfänglich an.

 

Mit den ermittelten Leistungsansprüchen waren die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Die Klägerin zu 1 verfügte im streitigen Zeitraum über ein materielles Aufenthaltsrecht, das sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergab. Der Kläger zu 2 war, solange er im streitigen Streitraum hilfebedürftig war, als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft mit der Klägerin zu 1 nicht wegen einer Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG ausgeschlossen.

 

Maßgebliche Vorschrift für den Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes im streitigen Zeitraum ist § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der bis zum 31.07.2016 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 07.05.2013 (BGBl I S. 1167, vgl. zum Geltungszeitraumprinzip BSG, Urteil vom 19.10.2016 – B 14 AS 53/15 R – juris Rn. 14 f.).

 

Danach sind von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, also keine Leistungsberechtigten i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs. 2 SGB II sowie ohne Leistungsberechtigung nach dem SGB II,

              1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
              2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen und
              3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

 

Ein Leistungsausschluss der Klägerin zu 1 nach Ziffer 1 scheidet aus. Denn sie war bereits im September 2013 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte sich seitdem dort aufgehalten. Sie selbst hatte auch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II. Soweit sie gegenüber der Beigeladenen geltend gemacht hat, einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu haben, führt dies nicht zu einer Anwendung des AsylbLG. Ungeachtet der Frage, ob ein solcher Anspruch tatsächlich bestanden hat, verfügte die Klägerin zu 1 jedenfalls im streitigen Zeitraum über eine solche Aufenthaltserlaubnis nicht. Der Besitz ist jedoch nach dem eindeutigen Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG eine Anspruchsvoraussetzung (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2013 – L 19 AS 2363/12 – juris Rn. 38; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl., Stand 2019, § 1 Rn. 43 unter Hinweis auf Gerlach, ZfF 2017, 197, 209).

 

Ihr Aufenthaltsrecht ergab sich auch nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Das BSG hat im Urteil vom 30.01.2013 (B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 24 bis 28, 30) hierzu ausgeführt:

 

„(..) b) Unbesehen des subjektiv-öffentlichen Unionsbürgerrechts nach der RL 2004/38/EG und dem deutschen FreizügG/EU erfordert eine dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung des Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II eine ‚fiktive Prüfung‘, ob – im Falle von Unionsbürgern – ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche bestand oder daneben auch andere Aufenthaltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten. Dies ergibt sich aus der für die Auslegung der Vorschrift wesentlichen Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung.

 

Den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs 1 S 2 SGB II ist zu entnehmen, dass von der ‚Option‘ des Art 24 Abs 2 iVm Art 14 Abs 4 der RL 2004/38/EG auch im Bereich des SGB II Gebrauch gemacht werden sollte (BT-Drucks 16/5065 S 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S 13). Trotz des Kontextes, in welchem die Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erlassen wurde, nämlich der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger durch die RL 2004/38/EG, wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber neben den von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG unstreitig erfassten Sozialhilfeleistungen auch SGB II-Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließen. Deren Einordnung als Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG ist allerdings fraglich. Die beiden für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG haben die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts entsprechend ihrer Aufnahme in den Anhang der VO (EG) Nr 883/2004 als ‚besondere beitragsunabhängige Geldleistungen‘ nach Art 4 iVm Art 70 VO (EG) Nr 883/2004, nicht jedoch als Leistungen der ‚sozialen Fürsorge‘ iS von Art 3 Abs 5a) VO (EG) Nr 883/2004 angesehen. Sie haben darauf hingewiesen, dass durch das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit ein Bezug zu den Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestehe (BSGE 107, 66 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 29; BSGE 107, 206 ff = SozR 4-4200 § 7 Nr 22 RdNr 20 f; vgl auch EuGH Urteil vom 4.9.2009 - Rs C-22/08 <Vatsouras/Koupatanze> - SozR 4-6035 Art 39 Nr 5, RdNr 43; siehe aber auch BVerwG Urteil vom 31.5.2012 - 10 C 8/12 juris RdNr 25 mwN, zur Einordnung von SGB II-Leistungen als aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen iS des Art 7 Abs 1 Buchst b der RL 2004/38/EG, wobei dies ‚nicht zwingend deckungsgleich‘ mit dem in Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG genannten Begriff der Sozialhilfe sein müsse; kritisch hierzu Breidenbach in ZAR 2011, 235 ff).

 

Ungeachtet der insofern bestehenden Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit des nicht nach dem Grad der Verbindung des arbeitsuchenden Unionsbürgers zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats und seinem beruflich möglichen Zugang zum Arbeitsmarkt differenzierenden sowie zeitlich unbefristeten Ausschlusses der arbeitsuchenden Unionsbürger von SGB II-Leistungen ist § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II als Ausschlussregelung von existenzsichernden Sozialleistungen jedenfalls eng auszulegen. Auch aus dem Aufbau der Norm ist abzuleiten, dass positiv feststellt werden muss, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland zusteht (BSG SozR 4-4200 § 7 Nr 28).

 

c) Jedenfalls nicht erfasst von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II werden Unionsbürger, bei denen die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU oder ggf dem begrenzt subsidiär anwendbaren AufenthG (siehe hierzu unten) aus anderen Gründen als dem Zweck der Arbeitsuche vorliegen. Insofern ist der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II immanent, dass der Ausschluss nur Unionsbürger trifft, die sich ausschließlich und ggf schon vor einer Meldung beim Jobcenter auch eigeninitiativ um eine Beschäftigung bemüht haben, nicht jedoch diejenigen erfasst, die sich auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen können.

 

Da Unionsbürger für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels (§ 2 Abs 4 S 1 FreizügG/EU) bedürfen, kann bei ihnen der ausländerrechtlich anerkannte Aufenthaltszweck nicht unmittelbar einem entsprechenden Dokument mit möglicher Tatbestandswirkung für das SGB II entnommen werden. Vor dem Hintergrund einer - bis zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts einer Freizügigkeitsberechtigung - bestehenden Freizügigkeitsvermutung von Unionsbürgern und der bereits damit verbundenen Vermutung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (vgl Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 12 RdNr 34) kann bei dieser Personengruppe nicht darauf abgestellt werden, ob das Aufenthaltsrecht in einem Aufenthaltstitel dokumentiert ist. Zwar kann ein in einer ggf bis zum 28.1.2013 deklaratorisch erteilten Bescheinigung gemäß § 5 Abs 1 FreizügG/EU (aF) angegebener Aufenthaltszweck ein wesentliches Indiz für den Aufenthaltsgrund sein. Unionsbürger sind jedoch nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts durch eine entsprechende Bescheinigung nachzuweisen (BVerwG Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 17/09, BVerwGE 138, 122 ff). Entscheidend ist das Vorliegen der Voraussetzungen für ein weiteres Aufenthaltsrecht. Auch soweit der Aufenthalt aus einem anderen materiell bestehenden Aufenthaltsrecht als dem Zweck der Arbeitsuche nicht beendet werden könnte, hindert dies sozialrechtlich die positive Feststellung eines "Aufenthaltsrechts allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. (..)

 

Auch wenn die Klägerin wegen des im streitigen Zeitraum hinzutretenden SGB II-Antrags und der damit verbundenen Verpflichtung, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und aktiv an allen Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit mitwirken (§ 2 Abs 1 S 1 und 2 SGB II), als Arbeitsuchende anzusehen ist, hindert dies nicht die Annahme eines Aufenthaltsrechts auch aus einem anderen Aufenthaltsgrund (vgl zum zulässigen Wechsel der Aufenthaltszwecke während des Aufenthalts: HK-AuslR/Geyer, 2008, § 5 FreizügG/EU RdNr 3). Auch der Verlust des Freizügigkeitsrechts kann erst festgestellt werden, wenn die Freizügigkeitsberechtigung nicht aus anderen Gründen besteht (Huber, AufenthaltsG, 2010, § 5 FreizügG/EU RdNr 15). (..)“

 

Ferner hatte das BSG klargestellt, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch nach der bis zum 31.07.2016 geltenden Rechtslage über die wortwörtlich geregelten Fälle hinaus Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen, erfasst (vgl. BSG, Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – juris Rn. 19 ff. und Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – juris Rn. 20).

 

Demgegenüber hindert nach der ständigen Rechtsprechung des BSG somit jedes andere materielle Aufenthaltsrecht sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S. von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw. lässt den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen (ab 01.08.2016 als § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe b SGB II; vgl. auch BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 34/20 R – juris Rn. 15; Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 25/20 R – juris Rn. 15 m.w.N. und Urteil vom 13.07.2017 – B 4 AS 17/16 R – juris Rn. 17 m.w.N.).

 

Dies ist vorliegend der Fall. Denn zur Überzeugung des Senats wirkte zum einen die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin zu 1 im streitigen Zeitraum fort, sodass sie deshalb unionsrechtlich freizügigkeits- und damit aufenthaltsberechtigt war. Zum anderen bestand ein Aufenthaltsrechts aufgrund der am 23.11.2014 mit der Geburt des Klägers zu 2 vollzogenen Familiengründung zusammen mit Y...., dem Vater des Klägers zu 2.

 

Die Klägerin zu 1 verfügte im streitigen Zeitraum vom 01.12.2014 bis 09.03.2015 über ein Aufenthaltsrecht aufgrund fortwirkender Arbeitnehmereigenschaft.

 

Unstreitig war die Klägerin zu 1 im streitigen Bewilligungszeitraum nicht selbständig oder unselbständig tätig (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU). Sie hat sich in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht zum Zweck aufgehalten, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 und 4 FreizügG/EU). Sie verfügte zudem nicht über ausreichende Existenzmittel, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Sie war im streitigen Bewilligungszeitraum auch keine Familienangehörige eines aufenthaltsberechtigten Unionsbürgers i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 FreizügG/EU. Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU) haben bei ihr nicht vorgelegen.

 

Die Klägerin zu 1 kann sich jedoch auf ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 FreizügG/EU berufen.

 

Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU unter anderem für Arbeitnehmer bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU wirkt das durch eine Erwerbstätigkeit erworbene Aufenthaltsrecht i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung für die Dauer von sechs Monaten fort.

 

Die Klägerin zu 1 war vor dem streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.04.2014 bis 31.05.2014 Arbeitnehmerin i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.  

 

Der Begriff des Arbeitnehmers nach dieser Vorschrift ist europarechtlich geprägt (vgl. BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R – juris Rn. 19 m.w.N.). Die Arbeitnehmereigenschaft i.S.d. Rechts der Europäischen Union beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Beschäftigungsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen (vgl. EuGH, Urteile vom 06.11.2003 – C-413/01 – juris Rn. 24 und vom 21.02.2013 – C-46/12 – juris Rn. 40). Arbeitnehmer ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urteil vom 06.11.2003, a.a.O., juris Rn. 26 m.w.N.; EuGH, Urteile vom 14.06.2012 – C-542/09 – juris Rn. 68, vom 26.03.2015 – C-316/13 – juris Rn. 27 und vom 16.07.2020 – C-658/18 – juris Rn. 93). Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. EuGH, Urteile vom 06.11.2003, a.a.O., juris Rn. 24 und vom 14.06.2012, a.a.O., juris, Rn. 68; BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 34/20 R – juris Rn. 18). Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist (vgl. EuGH, Urteile vom 26.02.1992 – C-357/89 – juris Rn. 14, vom 04.02.2010 – C-14/09 – juris Rn. 26 m.w.N. und vom 01.10.2015 – C-432/14 – juris Rn. 24; BSG, Urteil vom 27.01.2021 – B 14 AS 42/19 R – juris Rn. 18). Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann (vgl. EuGH, Urteil vom 04.02.2010, a.a.O., juris Rn. 26; BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R – juris Rn. 19 m.w.N.). Auch die Dauer der von dem Betroffenen ausgeübten Tätigkeit ist ein Gesichtspunkt, den das Gericht bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen hat, ob es sich hierbei um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang hat, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet ist (vgl. EuGH, Urteile vom 26.02.1992, a.a.O., juris Rn. 14 und vom 04.02.2010, a.a.O., Rn. 27). Der bloße Umstand der kurzen Dauer einer Beschäftigung führt als solcher aber nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 06.11.2003, a.a.O., juris Rn. 25). Liegen die Voraussetzungen des Arbeitnehmerstatus vor, sind die Motive für den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat unerheblich (vgl. EuGH, Urteile vom 23.03.1982 – C-53/81 – juris Rn. 22 und vom 21.02.2013 – C-46/12 – juris Rn. 47 m.w.N.).

 

Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist mithin Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer. Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon jeweils für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen. Der maßgeblichen Gesamtbewertung ist mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH ein weiteres Verständnis zugrunde zu legen (vgl. BSG, Urteile vom 29.03.2022 – B 4 AS 2/21 R – juris Rn. 20 und vom 27.01.2021 – B 14 AS 42/19 R – juris Rn. 21 m.w.N.).

 

Ausgehend davon stellt sich das am 01.04.2014 aufgenommene Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zu 1 als ein Arbeitsverhältnis dar, auch wenn es zunächst als ein bis zum 01.10.2014 befristetes Probearbeitsverhältnis ausgestaltet war. Denn die Klägerin zu 1 schuldete nach dem vorliegenden Vertrag als weisungsabhängige Reinigungs- und Servicekraft entsprechende Arbeitsleistungen in einem Hotel in B..... Es war zudem eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vereinbar, sodass es sich um eine Vollzeitbeschäftigung gehandelt hat. Die monatliche Bruttovergütung i.H.v. 465,00 EUR war zwar sehr gering. Die Arbeitsleistung war gleichwohl nicht mit einem besonderen Verlustrisiko (Unternehmerrisiko) verbunden (vgl. Bergmann/Dienelt/Dienelt, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 2 Rn. 44). Die Vergütung stellt sich auch nicht als völlig untergeordnet dar. Die Vertragsparteien hatten zudem bezahlten Urlaub vereinbart. Fehlzeiten bei Krankheit oder Arbeitsverhinderung wurden nach dem Arbeitsvertrag vom Arbeitgeber überbrückt. Dieser führte Beiträge zur Sozialversicherung ab, sodass alle Merkmale einer abhängigen Beschäftigung i.S.v. § 7 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch und der Arbeitnehmereigenschaft im europarechtlichen Sinne vorliegen.

 

Die Klägerin zu 1 ist nach einer Beschäftigung von weniger als einem Jahr unfreiwillig arbeitslos geworden. Auch unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG, wonach die einjährige Tätigkeit i.S.d. § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU auch durch Addition mehrere Beschäftigungen, die durch Zeiten der Beschäftigungslosigkeit unterbrochen sind, erreicht werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 13.07.2017 – B 4 AS 17/16 R – juris), war die Klägerin zu 1 nicht mindestens ein Jahr in der Bundesrepublik erwerbstätig. Insofern kann dahinstehen, ob auch die davor ausgeübte Tätigkeit vom 08.01.2014 bis 31.03.2014 ein Beschäftigungsverhältnis als Arbeitnehmerin war.

 

Das Tatbestandsmerkmal des unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes ist dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, nicht zu vertreten hat (vgl. BSG, Urteil vom 09.03.2022 – B 7/14 AS 79/20 R – juris Rn. 30). Ist von Anfang an nur ein befristeter Arbeitsvertrag geschlossen worden, so lässt sich bei Auslaufen des Vertrages daraus nicht zwingend schließen, dass der Arbeitnehmer freiwillig arbeitslos geworden ist. In diesem Fall ist zu prüfen, welche Gründe zur Befristung und damit zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben und ob ein Vertretenmüssen des Arbeitnehmers anzunehmen ist (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16.04.2021 – 9 A 2282/19 – juris Rn. 33 m.w.N.).

 

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin zu 1 wurde vom Arbeitgeber vorliegend noch vor Ablauf der Befristung aus so benannten betrieblichen Gründen, also aus Gründen, die nicht in der Person der Klägerin zu 1 liegen, am 18.05.2014 zum 31.05.2014 gekündigt. Zwischen den Beteiligten besteht auch kein Streit darüber, dass die Klägerin zu 1 tatsächlich unfreiwillig arbeitslos geworden ist, sie die Kündigung also nicht zu vertreten hatte.

 

Zwar schreibt das FreizügG/EU weiter vor, dass die Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigt sein muss. Eine solche ausdrückliche Bescheinigung liegt nicht vor. Das BSG hat im Urteil vom 09.03.2022 (B 7/14 AS 79/20 R – juris Rn. 29 bis 31) für Sachverhalte, bei denen die Bundesagentur für Arbeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitslosengeld gewährt, Folgendes ausgeführt:

 

„(..) Die von Art 7 Abs 3 Nr 3 Buchst b der Richtlinie 2004/38/EU abweichende Formulierung im nationalen Recht des § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 2 FreizügG/EU trägt mit der ausdrücklichen Benennung der Agentur für Arbeit und der von ihr verlangten Bestätigung der "Besonderheit" des deutschen Systems sozialer Sicherheit bei Arbeitslosigkeit Rechnung, in welchem - abhängig von der Dauer der Beschäftigung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit - im Grundsatz entweder die Agentur für Arbeit oder ein Jobcenter zuständig für die Gewährung von (existenzsichernden) Leistungen bei Arbeitslosigkeit sein kann. Da Alg II aber (anders als Alg nach dem SGB III) ohne Rücksicht darauf gezahlt wird, warum Arbeitslosigkeit eingetreten ist (vgl § 31 SGB II einerseits, § 159 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB III andererseits), ist die Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit nach Maßgabe der nationalen Systemstruktur der Agentur für Arbeit zugewiesen worden (vgl zu diesem Verständnis auch die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II Ziff 1.4.4.2 Abs 5).

 

Hat aber der ehemalige Arbeitnehmer infolge der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für Alg nach dem SGB III - wie im vorliegenden Fall der Kläger - diese Leistung im Anschluss an die letzte Beschäftigung bezogen und ist auch von der zuständigen Agentur für Arbeit nicht der Eintritt einer Sperrzeit festgestellt worden, ist die von § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 2 FreizügG/EU gewollte Einbindung der Agentur für Arbeit bereits erfolgt. Da im nationalen Recht, insbesondere im SGB III, zudem keine eigenständigen Kriterien für die Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Rahmen des Freizügigkeitsrechts normiert sind (zu Beispielen dafür, welche Gesichtspunkte abhängig vom nationalen Recht für die Prüfung der <Un->Freiwilligkeit eine Rolle spielen können EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187-13237 RdNr 44) hat sich die Agentur für Arbeit dabei an den Kriterien für den Anspruch auf Alg nach dem SGB III bzw dem Eintritt einer Sperrzeit zu orientieren (vgl §§ 137 ff SGB III, § 159 SGB III). Diesen systematischen Überlegungen entsprechend regelt auch die Verwaltungsvorschrift zu § 2 Abs 3 FreizügG/EU (Ziff 2.3.1.2), dass das ‚unfreiwillige Eintreten von Arbeitslosigkeit … dann vorliegt, wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Kündigung, Aufhebungsvertrag) geführt haben, nicht zu vertreten hat. Die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ist Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts. Die Bestätigung erfolgt, wenn der Arbeitnehmer sich arbeitslos meldet, den Vermittlungsbemühungen der zuständigen Arbeitsagentur zur Verfügung steht und sich selbst bemüht, seine Arbeitslosigkeit zu beenden (§ 138 SGB III).‘

 

Ist vom Vorliegen dieser Voraussetzungen schon wegen des Bezugs von Alg nach dem SGB III (und zusätzlich aufstockendem Alg II) auszugehen, bedarf es in diesem (Sonder)fall einer (weiteren) förmlichen Bestätigung der Agentur für Arbeit nicht. Die erforderliche Prüfung ist durch die zuständige Behörde bereits durchgeführt worden, die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit durch die Bewilligung von Alg nach dem SGB III im unmittelbaren Anschluss an die letzte Beschäftigung inzident geprüft und bejaht worden. (..)“

 

Die vom BSG im vorzitierten Urteil formulierten Grundsätze müssen zur Überzeugung des Senats auch in einem Fall wie hier gelten. Zwar hat die zuständige Agentur für Arbeit, nachdem sich die Klägerin zu 1 arbeitssuchend gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hatte, einen Ablehnungsbescheid erteilt. Allerdings wurde die Bewilligung von Arbeitslosengeld allein mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin zu 1 habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Der Beklagte ist selbst von der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit der Klägerin zu 1 ausgegangen und hat Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit nach der Arbeitslosigkeit unter Anwendung von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FreizügG/EU gewährt. Selbst im Rahmen des zwischenzeitlichen Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens um die mit Bescheid vom 10.07.2014 verfügte Rücknahme der Leistungsbewilligung ab 01.08.2014 lag die Annahme zugrunde, dass die Arbeitslosigkeit unfreiwillig entstanden sei. Schließlich hat die mit dem Fall der EU-Ausländerin befasste Agentur für Arbeit, obwohl sie ausdrücklich auf den Antrag auf Arbeitslosengeld II hinweist, keine, die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit in Zweifel ziehenden Feststellungen getroffen. Unter diesen Voraussetzungen haben der Beklagte und die Bundesagentur für Arbeit bei der Klägerin zu 1 einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der es ausschließt, weitergehende Leistungen wegen Fehlens einer Unfreiwilligkeitsbescheinigung zu verwehren.

 

Ausgehend davon besteht nach den Maßgaben des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU für die Dauer von sechs Monaten nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1 als Arbeitnehmerin. Vorliegend endete das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zu 1 am 31.05.2014. Nicht bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die ausgesprochene Kündigung aufgrund der bereits bestehenden Schwangerschaft der Klägerin zu 1 unwirksam war. Denn diese hat Kündigungsschutzklage nicht erhoben, sodass die ggf. rechtsunwirksame Kündigung von Anfang wirksam geworden ist (§§ 4, 7 Kündigungsschutzgesetz [KSchG]). Bis zum Ablauf der 6-Monatsfrist am 30.11.2014 hat der Beklagte der Klägerin zu 1 und ab dem 23.11.2014 auch dem Kläger zu 2 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes gewährt.

 

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Frist des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU in richtlinienkonformer und verfassungskonformer Auslegung jedoch nicht am 30.11.2014, sondern erst am 13.03.2015 abgelaufen.

 

Das Sozialgericht hat auf den Fall der Kläger die Rechtsprechung des EuGH vom 19.06.2014 (C-507/12 – juris, „Saint Prix“) zur Anwendung gebracht, wonach Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die "Arbeitnehmereigenschaft" im Sinne der Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet. Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, soll das Gericht nach Auffassung des EuGH alle konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG, ABl. L 348, S. 1) berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014 – C-507/12 – juris Rn. 42). Hieraus haben das LSG Berlin-Brandenburg (vgl. Beschluss vom 25.11.2019 – L 31 AS 1662/19 B ER – juris) und das Verwaltungsgericht Darmstadt (Urteil vom 01.12.2016 – 5 K 475/15.DA – juris) den Schluss gezogen, dass mit Ende der nationalen gesetzlichen Mutterschutzfrist nach der Geburt des Kindes (hier: § 6 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. des Mutterschutzgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 20.06.2002 (BGBl. I S. 2318), das zuletzt durch Art. 6 des Gesetzes vom 23.10.2012 (BGBl. I 2246) geändert worden ist [MuSchG 2002]) das fortwirkende Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer endet. Ab diesem Zeitpunkt bestehe demnach nur noch ein Aufenthaltsrechts der Ausländerin zum Zwecke der Arbeitssuche i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1a SGB II. Ihrer Arbeitnehmereigenschaft sei sie ab diesem Zeitpunkt verlustig, mit der Folge, dass sie von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ausgeschlossen sei.

 

Der Fall der Klägerin zu 1 entspricht jedoch nicht dem Sachverhalt, wie er dem EuGH zur Entscheidung vorlag. Die dortige Klägerin Saint Prix gab ihre Tätigkeit als Leiharbeitnehmerin in Kindergärten aufgrund ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft mit der Begründung auf, dass die Arbeit mit Kindergartenkindern für sie zu anstrengend geworden sei (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014 – C-507/12 – juris Rn. 16). Der EuGH hat hierzu ausgeführt, dass die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (RL 2004/38/EG) den Fall der Frau Saint Prix nicht erfasse. Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38/EG erfasse nicht ausdrücklich die Situation einer Frau, die sich wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes in einer besonderen Lage befinde (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014, a.a.O., juris Rn. 28). Insbesondere stellte der EuGH nochmals klar, dass die Schwangerschaft keine Krankheit i.S.d. Art. 7 Abs. 3 Buchstabe a RL 2004/38/EG sei. Ein Fall unfreiwilliger Arbeitslosigkeit lag – ohne dass dies vom EuGH ausdrücklich thematisiert worden ist – nicht vor.

 

Der hier streitige Fall liegt demgegenüber anders. Zum einen wurde das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zu 1 nicht im Stadium fortgeschrittener Schwangerschaft, sondern bereits im dritten Schwangerschaftsmonat beendet. Zum anderen wurde das befristete Arbeitsverhältnis arbeitgeberseitig aus betrieblichen Gründen noch vor Ende der ohnehin bestehenden Befristung gekündigt.

 

Diese Sachverhaltskonstellation ist – anders als im Fall Saint Prix – ausdrücklich von der RL 2004/38/EG erfasst, die in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FreizügG/EU umgesetzt wurde. Denn für die Zwecke des Art. 1 Abs. 1 Buchstabe a RL 2004/38/EG – mithin das Recht auf Freizügigkeit als Arbeitnehmer – bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit unter anderem als Arbeitnehmer nicht mehr ausübt, gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c RL 2004/38/EG erhalten, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines – wie hier – auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit (hier: arbeitgeberseitige Kündigung) dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt. In diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft nach Maßgabe der Richtlinie während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten.

 

Da die Klägerin zu 1 vorliegend im Laufe der ersten zwölf Monate ihres zudem auf sechs Monate befristeten Arbeitsvertrages unfreiwillig arbeitslos geworden ist, findet § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FreizügG/EU auf den vorliegenden Fall im Grundsatz Anwendung. Allerdings ist die darin bestimmte 6-Monatsfrist zur Überzeugung des Senats richtlinien- und verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass diese während der Mutterschutzfristen des §§ 3 Abs. 2, 6 Abs. 1 MuSchG 2002 gehemmt war.

 

Außerhalb der Saint Prix-Entscheidung führt der EuGH zu den Fortwirkungstatbeständen aus, dass ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger vorübergehend aufgegeben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38 EG und das damit verbundene Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie nur behalten kann, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht (vgl. EuGH, Urteil vom 11.04.2019 – C-483/17 – juris Rn. 40 unter Hinweis auf sein Urteil vom 13.09.2018 – C-618/16, EU:C:2018:719 – Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Art. 7 Abs. 3 RL 2004/38 EG garantiere jedem vorübergehend nicht erwerbstätigen Unionsbürger die Aufrechterhaltung seiner Erwerbstätigeneigenschaft und infolgedessen seines Rechts auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, indem er bei den Voraussetzungen dieser Aufrechterhaltung ebenfalls eine Abstufung vornehme, die zum einen vom Grund seiner Untätigkeit und zum anderen von der ursprünglichen Dauer seiner Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat, d. h. je nachdem, ob diese Dauer länger oder kürzer als ein Jahr ist, abhänge. Einem Unionsbürger, der weniger als ein Jahr lang im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt habe, bleibe jedoch die Erwerbstätigeneigenschaft nur für einen Zeitraum erhalten, dessen Dauer der Mitgliedstaat festlegen dürfe, wobei sie nicht weniger als sechs Monate betragen dürfe. Der Aufnahmemitgliedstaat dürfe nämlich die Dauer der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft des Unionsbürgers, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat, begrenzen, doch dürfe er sie gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c RL 2004/38/EG nicht auf weniger als sechs Monate verkürzen, wenn der Bürger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen arbeitslos geworden sei, bevor er ein Jahr Erwerbstätigkeit zurücklegen konnte (vgl. EuGH, Urteil vom 11.04.2019, a.a.O., juris Rn. 43, 45 und 46).

 

Dies zugrunde gelegt, setzt der Ablauf der 6-Monatsfrist voraus, dass der Betroffene zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht. Ist er daran insbesondere durch vorübergehende Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall gehindert, bleibt ihm die Arbeitnehmereigenschaft ggf. auch über diesen Zeitraum hinaus erhalten.

 

So führt das Sozialgericht Berlin im Beschluss vom 02.03.2016 (S 96 AS 646/16 ER – juris Rn. 28 bis 30) zur Anwendbarkeit von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU während des Fristlaufes des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU aus:

 

„(..) Zwar spricht der das verlängerte Aufenthaltsrecht vermittelnde § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU nicht wörtlich davon, dass der Arbeitnehmerstatus erhalten bleibt, sondern besagt, dass „das Recht nach Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt bleibt“ bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung. Der Wortlaut des § 2 Abs. 3 S. 1 FreizügG/EU ist jedoch im Lichte von Art. 7 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG zu sehen. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU dient der Umsetzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (vgl. Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 2 FreizügG/EU Rn. 98). Nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG bleibt für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt nach Buchstabe c) in den Fällen mindestens für sechs Monate erhalten, in denen er sich bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt. Artikel 7 Abs. 1 Buchstabe a, auf den Abs. 3 Bezug nimmt, bestimmt das Aufenthaltsrechts der Arbeitnehmer und Selbständigen. Der Begriff des Erwerbstätigen umfasst daher sowohl den Arbeitnehmer als auch den Selbständigen. Soweit Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG ausdrücklich von der Erhaltung der „Erwerbstätigeneigenschaft“ normiert, ist damit die Erhaltung der Arbeitnehmereigenschaft sowie der Eigenschaft als Selbständiger umfasst.

 

In diesem Sinne ist auch § 2 Abs. 3 S. 1 FreizügG/EU zu verstehen. Im Falle unfreiwilliger Arbeitslosigkeit bleibt dem Unionsbürger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer (bzw. Selbständiger) in dem Sinne erhalten, dass er nach wie vor als Arbeitnehmer (bzw. Selbständiger) gilt. § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU ist daher nach Ansicht der Kammer in dem Sinne zu lesen, dass das Aufenthaltsrecht nach § 2 Absatz 1 FreizügG/EU bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit unberührt bleibt für (originäre) Arbeitnehmer und solche, die aufgrund der Erhaltung ihrer Arbeitnehmereigenschaft freizügigkeitsrechtlich weiterhin als Arbeitnehmer gelten.

 

Diese Auslegung rechtfertigt sich auch durch den Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Verlängerung des Arbeitnehmerstatus um sechs Monate nach einem unfreiwilligen Verlust des Arbeitsplatzes bewirkt, dass der Unionsbürger, der seine Eigenschaft als Arbeitnehmer andernfalls sofort mit der von ihm nicht verschuldeten Beendigung seiner Erwerbstätigkeit verlieren würde, während einer Übergangszeit von sechs Monaten Bemühungen zur Wiederherstellung seines originären Arbeitnehmerstatus unternehmen kann. Wird der Unionsbürger innerhalb der sechsmonatigen Übergangsfrist infolge Krankheit oder Unfalls vorübergehend erwerbsgemindert, sind ihm solche Bemühungen aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit unmöglich. Der Schutz des unverschuldet an der Wiederherstellung seines Arbeitnehmerstatus gehinderten Unionsbürgers gebietet es daher, die Verlängerung des Aufenthaltsrechts bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfalls nach § 2 Abs. S. 1 Nr. 1 FreizügG/EU auch dann eingreifen zu lassen, wenn die Erwerbsminderung nicht bereits während des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses, sondern innerhalb von sechs Monaten nach der unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU eintritt. (..)“

 

Insbesondere den Ausführungen zur Intention und zum Sinn und Zweck der Vorschrift ist zuzustimmen (im Ergebnis, jedoch ohne weitere Begründung so auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 18.07.2017 – 10 B 17.339 – juris LS 1).

 

Vor diesem Hintergrund ist die Saint Prix-Entscheidung zu betrachten. Zwar hat der EuGH – wie bereits dargelegt – im Rahmen des Urteils vom 19.06.2014 (C-507/12 – juris Rn. 29 f.) betont, dass Schwangerschaft keine Krankheit i.S.d. Art. 7 Abs. 3 Buchstabe a RL 2004/38/EG darstellt und ihr auch nicht gleichzusetzen ist. Aus der Rechtsprechung des EuGH (so auch schon EuGH, Urteil vom 29.04.2004 – C-482/01 und C-493/01EU:C:2004:262, juris Rn. 50 zum Fortbestand der Arbeitnehmereigenschaft bei Inhaftierung) folgt ferner, dass der Umstand, dass eine schwangere Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, nicht bedeutet, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014, a.a.O., Rn. 41). Darüber hinaus hat der EuGH in dieser Entscheidung aber auch die besondere Bedeutung des Schutzes der Schwangeren sowie deren Beziehung zum Neugeborenen betont und insoweit auf die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG, ABl. L 348, S. 1) verwiesen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.06.2014, a.a.O., Rn. 42).

 

Der Anspruch auf Mutterschaftsurlaub ist nach der Rechtsprechung des EuGH als „sozialrechtliches Schutzinstrument von besonderer Bedeutung“ anzusehen. Die Gemeinschaftsgesetzgebung ist zur Ansicht gelangt, dass wesentliche Änderungen in den Lebensbedingungen der Frauen während des begrenzten Zeitraums von mindestens 14 teils vor, teils nach der Entbindung liegenden Wochen ein triftiger Grund dafür sind, die Ausübung ihrer Berufstätigkeit auszusetzen, ohne dass die Stichhaltigkeit dieses Grundes von den Behörden oder den Arbeitgebern in irgendeiner Weise in Frage gestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 20.09.2007 – C-116/06 – juris Rn. 49). Der Mutterschaftsurlaub dient einem doppelten Zweck. Einerseits soll die körperliche Verfassung der Frau während und nach der Schwangerschaft geschützt werden. Die Erwägungsgründe nehmen auf deren „Empfindlichkeit“ Bezug. Andererseits geht es um den Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der an Schwangerschaft und Entbindung anschließenden Zeit, damit diese Beziehung nicht durch die Doppelbelastung infolge der gleichzeitigen Ausübung eines Berufs gestört wird (vgl. Gruber-Risak in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022, RL 92/85/EWG Art. 8 Rn. 3 m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH).

 

Aus alledem folgt für den Senat, dass innerhalb der gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Mutterschaftsurlaubszeit von 14 Wochen i.S.d. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 92/85/EWG, die in der Bundesrepublik Deutschland europarechtskonform auf sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt bestimmt ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.11.2019 – L 31 AS 1662/19 B ER – juris Rn. 21), die betroffene Frau aus besonders schützenswertem Anlass trotz fortdauernder Integration in den Arbeitsmarkt diesem berechtigt nicht zur Arbeitssuche zur Verfügung stehen muss. Deswegen und aus dem bereits benannten Sinn und Zweck der Frist des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ist deren Weiterlauf innerhalb des Zeitraumes des gesamten Mutterschutzes gehemmt. Dies unabhängig davon, dass die Schwangere nach nationalem Recht auf das Beschäftigungsverbot vor der Entbindung verzichten kann (vgl. § 3 Abs. 2 MuSchG 2002), was wiederum bewirkt, dass im Rahmen des Rechts auf Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) nur während der Zeit des nachgeburtlichen Beschäftigungsverbotes (§ 6 Abs. 1 MuSchG 2002), auf das nicht verzichtet werden kann, Verfügbarkeit i.S.d. § 138 Abs. 5 Satz 1 SGB III unabwendbar nicht gegeben ist, im Übrigen die Betroffene durch entsprechende Erklärung, für Arbeitsleistungen bereit zu sein, Verfügbarkeit im vorgenannten Sinne herzustellen kann (vgl. Leandro Valgilio in: Hauck/Noftz, SGB III, 2. Aufl. Stand 2022, § 138 Rn. 179 unter Hinweis auf Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 20.12.1993 – S 33 Ar 49/92 – juris; Schmidt in SGb 2014, 242, 243; Öndül in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl. Stand 02.05.2022, § 138 SGB III Rn. 88). Denn durch diese nationalen Regelungen werden lediglich bestehende Beschäftigungsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen ausgestaltet und die Voraussetzungen einer von der Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt abhängigen Sozialleistung bestimmt. In beiden Fällen wird der betroffenen Frau eine für sie günstigere Rechtsposition eingeräumt, sei es durch die Möglichkeit des Bezuges von Arbeitslosengeld bzw. durch die Möglichkeit, freiwillig die Beschäftigung fortzusetzen, um insbesondere berufliche Chancen oder wirtschaftliche Vorteile zu wahren. Die Klägerin zu 1 stand aber weder in einem Beschäftigungsverhältnis noch hatte sie Anspruch auf Arbeitslosengeld. Sie hatte in ihrer Situation als Antragstellerin für Grundsicherungsleistungen ohne Beschäftigung auch keinen Anlass zu wählen, ob sie auf das vorgeburtliche Beschäftigungsverbot verzichtet oder nicht.

 

Bei den Erwägungen des Senats zum Einfluss des Mutterschutzes auf die Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft geht es vielmehr um den entsprechenden, europarechtlich geprägten Begriff i.S.d. Art. 45 AEUV, der eigenständige Bedeutung hat und somit losgelöst von der mitgliedsstaatlichen Ausgestaltung und Lage des Mutterschutzurlaubs zu bewerten ist, sowie die von der Arbeitnehmereigenschaft vermittelte Freizügigkeit. Die Hemmung des Fristenlaufs mit der Maßgabe zu verneinen, dass die erwerbslose EU-Bürgerin auf das vorgeburtliche Beschäftigungsverbot (nach deutschem Recht) auch verzichten kann, würde im Übrigen zu einer mit der Richtlinie 92/85/EWG nicht zu vereinbarenden Verschlechterung ihrer Rechtsposition führen.

 

Die Auslegung ist zur Überzeugung des Senats auch zur Abwendung einer, gemäß Art. 14 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (RL 2006/54/EG) unzulässigen, zumindest mittelbaren Diskriminierung von Frauen beim Zugang zur Beschäftigung und unter Beachtung von Art. 3 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 6 Abs. 4 GG geboten.

 

Denn durch ein abweichendes Verständnis würden schwangere und gebärende EU-Bürgerinnen allein durch den Umstand, dass sie während des Mutterschutzes schwangerschaftsbedingt wesentlichen Änderungen ihrer Lebensbedingungen ausgesetzt sind und deshalb die Ausübung ihrer Berufstätigkeit berechtigt aussetzen können, hinsichtlich der Arbeitnehmereigenschaft gegenüber Männern nachteilig behandelt und somit in ihrer Möglichkeit, sich in einem anderen Mitgliedsstaat aufzuhalten und eine neue Beschäftigung aufzunehmen, rechtswidrig beschnitten. Ihnen bliebe durch die Wahrnehmung von Mutterschutzzeiten ein geringer Zeitraum, Bemühungen zur Wiederherstellung eines originären Arbeitnehmerstatus zu unternehmen. Zwar bestimmt Art. 28 Abs. 1 RL 2006/54/EG, dass die Richtlinie Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, nicht entgegensteht. Auch berührt die Richtlinie nicht die Bestimmungen der Richtlinie 92/85/EWG. Dadurch wird aber lediglich eine Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen ermöglicht, nicht jedoch eine Diskriminierung von Frauen legitimiert. Nichts Anderes gilt im Übrigen mit Blick auf das Gleichstellungsgebot von Mann und Frau i.S.d. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG sowie das Schutzgebot von Müttern (Art. 6 Abs. 4 GG).

 

Der vom Senat vorgenommenen Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU steht im Übrigen auch nicht Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c RL 2004/38/EG selbst entgegen. Denn es ist ausdrücklich bestimmt, dass die Frist mindestens sechs Monate beträgt, somit auch länger sein kann.

 

Angewandt auf den vorliegenden Sachverhalt wurde hier der am 01.06.2014 begonnene Fristenlauf des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU mit Ablauf des 11.10.2014, dem Beginn des Beschäftigungsverbotes vor Entbindung gemäß § 3 Abs. 2 MuSchG 2002 gehemmt. Die Hemmung endete am 18.01.2015, dem Tag des Ablaufes des nachgeburtlichen Beschäftigungsverbotes (§ 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG 2002), sodass die 6-Monatsfrist am 09.03.2015, dem Tag der Wiederaufnahme einer neuen Beschäftigung noch nicht abgelaufen war. Die Frist hätte erst mit Ablauf des 13.03.2015 geendet.

 

Verfügte die Klägerin zu 1 demnach im streitigen Zeitraum über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 FreizügG/EU leitet sich daraus ein Aufenthaltsrecht des Klägers zu 2 nach Maßgabe des § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU als begleitendem Familienangehörigen ab.

 

Die Kläger sind – wenn man davon abweichend ein Freizügigkeitsrecht nach dem FreizügG/EU als nicht gegeben ansieht – auch deshalb nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen, weil sie im streitigen Zeitraum jedenfalls über ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen verfügten.

 

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in der im Bewilligungszeitraum und bis zum 22.11.2020 geltenden Fassung findet über die in Satz 1 ff. genannten Vorschriften hinaus, die vorliegend nicht einschlägig sind, das AufenthG Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das FreizügG/EU. Bei dem anzustellenden Günstigkeitsvergleich ist keine abstrakt wertende Betrachtung in Bezug auf die gesamte Rechtsstellung anzustellen. Vielmehr knüpft der Vergleich i.S. einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Betrachtung an einzelne Merkmale an (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 32 unter Verweis auf Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., Stand 2011, § 11 Rn. 28). In diesem Zusammenhang ist auch Art. 18 Abs. 1 AEUV zu berücksichtigen, wonach unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.

 

Gemäß § 27 Abs. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG erteilt und verlängert. Für den Elternteil eines minderjährigen Deutschen, welcher seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, besteht gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zur Ausübung der Personensorge ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis. Ob ein solcher Anspruch auch einem sorgeberechtigten EU-Bürger für ein minderjähriges, freizügigkeitsberechtigtes Kind mit EU-Staatsbürgerschaft, welches im Bundesgebiet lebt, zusteht, ist in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung umstritten (vgl. für eine Gleichstellung mit einem deutschen Kind die im Ergebnis überzeugenden Ausführungen in LSG Saarland, Urteil vom 07.09.2021 – L 4 AS 23/20 WA –; SächsLSG, Beschluss vom 10.05.2021 – L 7 AS 342/21 B ER – sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30.10.2018 – L 19 AS 1472/18 B ER – , vom 01.08.2017 – L 19 AS 1131/17 B ER – und vom 30.11.2015 – L 19 AS 173/15 B ER – jeweils juris; a.A. dazu LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.06.2021 – L 34 AS 850/17 – und Beschluss vom 22.05.2017 – L 31 AS 1000/17 B ER –; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.11.2021 – L 2 AS 438/21 B ER –; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.07.2017 – L 21 AS 782/17 B ER –; LSG Hessen, Beschlüsse vom 29.07.2021 – L 6 AS 209/21 B ER – und vom 21.08.2019 – L 7 AS 285/19 B ER – jeweils juris).

 

Ferner kann gemäß § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG einem nicht vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern.

 

Die Frage nach dem Aufenthaltsrecht sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen, freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers sowie die entsprechenden Vorschriften und deren Interpretation sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Lichte von Art. 6 GG und zudem von Art. 8 Abs. 1 1. Alt. der Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (BGBl. 1952 II, S. 685; ber. S. 953; EMRK) zu würdigen, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 04.10.2019 – 1 BvR 1710/18 – juris Rn. 13 und vom 08.07.2020 – 1 BvR 932/20 – juris Rn. 15). Dies gilt besonders, wenn die Gefahr besteht, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 36).

 

Diese Grundsätze beschränken sich aber nicht lediglich auf den Familiennachzug eines EU-Ausländers zu einem freizügigkeitsberechtigen EU-Bürger und dem gemeinsamen Kind im Bundesgebiet. Denn das Recht aus Art. 8 Abs. 1 1. Alt. EMRK ist ein Menschenrecht und damit nicht lediglich EU-Bürgern vorbehalten. Dasselbe gilt für Art. 6 Abs. 1 GG, weshalb das BSG zu Recht im vorgenannten Urteil vom 30.01.2013 (B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 35) darauf hingewiesen hat, dass die (anstehende) Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen, aber auch ausländischen Staatsangehörigen aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründen kann und zwar gleich welcher Nationalität.

 

Zwar gewährt Art. 6 GG – und so auch Art. 8 Abs. 1 EMRK – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, wonach der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über die Aufenthaltsberechtigung seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 m.w.N.).

 

Es müssen deshalb die Konsequenzen der aufenthaltsrechtlichen Entscheidung mitbedacht und im Lichte der Grundrechte auf ihre Zumutbarkeit geprüft werden. Die Berücksichtigung der Grundrechte verlangt, dass die Besonderheiten familiärer Konstellationen sorgfältig ermittelt und mit den ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt dabei einwanderungspolitische Belange zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann und besondere Umstände vorliegen, die ein Verlassen des Bundesgebietes unzumutbar machen. Das Aufenthaltsgesetz bietet verschiedene Ansatzpunkte, eine besondere persönliche Lebenssituation als Grund für eine Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 30.07.2013 – 1 C 15/12 – juris Rn. 15; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.02.2021 – L 2 AS 3/21 B ER – juris Rn. 36).

 

Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gilt zwar zunächst und zuvorderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Besteht eine solche zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann sie nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich aber eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Es ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird. Eine verantwortungsvoll gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass selbst der persönliche Kontakt des Kindes zu einem getrenntlebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. zu allem BVerfG, Beschluss vom 08.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 18 bis 21 und 25 f. m.w.N.).

 

Ausgehend davon ist der Senat der Überzeugung, dass beiden Klägern, vermittelt durch § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. §§ 27 ff. bzw. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1, 2 Satz 1 GG, Art. 8 Abs. 1 1. Alt. EMRK jedenfalls ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen und damit eine günstigere Rechtsposition i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 11 Freizüg/EU a.F. im hier streitigen Zeitraum zustand. Dass ein solcher (befristeter) Aufenthaltstitel nicht erteilt worden war, ist dabei für die Frage des Ausschlusses nach § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II irrelevant. Es genügt für die Kläger als EU-Bürger allein das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen eines Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG, um nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen zu sein (vgl. SächsLSG, Beschluss vom 10.05.2021 – L 7 AS 342/21 B ER – juris Rn. 44 m.w.N.).

 

Im hier streitigen Zeitraum war der Kläger zu 2 bereits geboren, jedoch noch im ersten Lebensjahr. Sein Vater hatte schon am 11.06.2014 die Vaterschaft durch eine von der Landeshauptstadt B.... beurkundete Sorgeerklärung nach § 1626a BGB anerkannt und sich – wie dargelegt – an der Sorge und Erziehung des Klägers zu 2 beteiligt. So hat er nach den Feststellungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zwischen den Beteiligten die Kläger regelmäßig besucht und war mit dem Kläger zu 2 spazieren. Die Familie hat zudem gemeinsam gegessen. Herr Y.... hat sich im Rahmen dieser Zusammenkünfte an der Sorge um seinen Sohn beteiligt. Die Familie ist zudem im Nachgang des Bewilligungszeitraumes am 19.08.2015 zusammengezogen. Seitdem üben die Klägerin zu 1 und Herr Y.... die Sorge für den Kläger zu 2 gemeinsam im Rahmen einer echten Lebens- und Erziehungsgemeinschaft aus. Mithin haben die Kläger und Herr Y.... eine Familiengründung – wie bereits vor der Geburt beabsichtigt – tatsächlich vollzogen, sobald hierfür keine rechtlichen Hindernisse mehr bestanden.

 

Es war den Klägern zur Überzeugung des Senats auch nicht zumutbar, das Bundesgebiet zu verlassen. Die von ihnen und Herrn Y….. tatsächlich begründete familiäre Gemeinschaft, die mit einer gemeinsamen Sorge im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG um den Kläger zu 2 verbunden war, konnte im streitgegenständlichen Zeitraum legal weder in Tunesien noch in der Tschechischen Republik gelebt werden. So sind keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich die Kläger im streitigen Zeitraum rechtmäßig in der Tunesischen Republik hätte niederlassen dürfen. Einer legalen Übersiedlung des Vaters des Klägers zu 2, der sich bis zum 04.02.2015 im Asylverfahren in der Bundesrepublik befunden hat und nach dessen Abschluss bei grundsätzlicher Ausreisepflicht gemäß § 60a AufenthG in Deutschland geduldet war, in die Tschechische Republik standen im streitigen Zeitraum zudem die Zuständigkeitsregelungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) und damit die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens bis zu einer Abschiebung in das Herkunftsland entgegen.

 

Dies wiederum hat zur Folge, dass die Verneinung eines gemeinsamen Aufenthaltsrechts den tatsächlich gelebten Familienbund zerrissen und dem Kläger zu 2 entweder die Mutter oder den Vater entzogen hätte, die sich tatsächlich um dessen Erziehung und Pflege kümmerten. Dies widerspräche Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG.

 

Schlussendlich ist auch der Kläger zu 2 nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ausgenommen, wonach Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG ausgeschlossen sind.

 

Zwar sind gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder der in den Nummern 1 bis 5 genannten Personen, ohne dass sie selbst die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Herr Y.... als Vater des minderjährigen Klägers zu 2 bezog im streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.12.2014 bis 09.03.20215 Leistungen nach dem AsylbLG aufgrund einer Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG bis 04.02.2015 und ab dann nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG. Denn bis zum 04.02.2015 befand er sich im Asylverfahren und besaß eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz. Danach wurde ihm von der zuständigen Ausländerbehörde bis zur Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU im August 2015 eine Duldung gemäß § 60a AufenthG erteilt. Ob diese bereits eher durch einen anderen Aufenthaltstitel hätte ersetzt werden müssen, ist für die hier zu beurteilende Frage des Leistungsausschlusses nicht bedeutsam. Denn darüber, ob der Ausländer einen zur Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG führenden Aufenthaltsstatus hat, entscheidet allein die Ausländerbehörde. An deren Entscheidung ist der Grundsicherungsträger in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gebunden. Dieser besitzt insoweit kein eigenes Prüfungsrecht (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2013 – L 19 AS 2363/12 – juris Rn. 33 ff. und 41 ff.).

 

Der Kläger zu 2 ist jedoch als jedenfalls tschechischer Staats- und damit EU-Bürger vom Anwendungsbereich des AsylbLG ausgeschlossen. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat im Beschluss vom 30.05.2019 (L 20 AY 15/19 B ER – juris Rn. 30 bis 36) dazu ausgeführt:

 

„(..) aa) Der Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 AsylbLG ist insoweit teleologisch dahin zu reduzieren, dass EU-Ausländer nicht von der Norm erfasst sind (vgl. jurisPK-Frerichs, § 1 AsylbLG Rn. 43; a.A. Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 2019, § 1 Rn. 34). EU-Ausländer können deshalb auch von vornherein nicht leistungsberechtigt nach dem AsylbLG sein.

 

Denn das AsylbLG ist ein restriktives Sondergesetz für Drittstaatsangehörige, die sich auf politische, humanitäre oder völkerrechtliche Aufenthaltsgründe berufen können, und ist insoweit eng mit den ausländerrechtlichen Bestimmungen (AsylG, AufenthG) verknüpft (Frerichs, a.a.O. Rn. 13). Ab seinem Inkrafttreten am 01.11.1993 regelte es einen Mindestunterhalt für Asylbewerber sowie bestimmte andere ausländische Staatsangehörige; es war von Anfang an ein Gesetz, das außerhalb des für Deutsche und diesen gleichgestellte ausländische Staatsangehörige ein eigenes Leistungsregime zur Verfügung stellen sollte (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 Rn. 2). Zwar findet es nach zwischenzeitlichen Gesetzesänderungen als Sonderregelung außerhalb des Sozialhilferechts nicht nur Anwendung auf Asylsuchende, sondern auch auf die weiteren in § 1 Abs. 1 AsylbLG benannten Personenkreise (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 4-7). Gleichwohl wendet es sich ausweislich seiner Entstehungsgeschichte und des Gesamtzusammenhanges der einschlägigen Regelungen von vornherein nicht an Unionsbürger; bei Letzteren sind die rechtlichen Regelungen nicht allein allgemein-ausländerrechtlich, sondern weitgehend europarechtlich geprägt (Frerichs, a.a.O. Rn. 43).

 

bb) Dies gilt entgegen der Ansicht des Antragstellers auch dann, wenn - wie bei ihm - im Einzelfall der Verlust des Rechts auf Einreise und Freizügigkeit nach § 6 FreizügG/EU festgestellt wurde. Denn diese Verlustfeststellung findet gleichwohl im Rahmen der primär europarechtlich geprägten Rechtsverhältnisse von EU-Ausländern statt, auch wenn anschließend Normen etwa des AufenthG ein weiteres Vorgehen bestimmen mögen. Vor wie nach einer Verlustfeststellung steht der typische Lebenssachverhalt eines EU-Ausländers in keinem Zusammenhang mit den Sachverhalten, die der Gesetzgeber typisierend mit dem AsylbLG regeln wollte.

 

cc) Dem Ausschluss von EU-Ausländern aus dem Anwendungsbereich des AsylbLG steht auch keine Auslegungsgrenze entgegen, die sich streng am Gesetzeswortlaut auszurichten hat.

 

Zwar ist der Antragsteller insoweit der Ansicht, der klare Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG begrenze die Auslegung dahin, dass der Antragsteller als EU-Ausländer und Inhaber einer Duldung nach § 60a AufenthG nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sei; anderenfalls hätte der Gesetzgeber einen Leistungsausschluss ausdrücklich in das Gesetz aufnehmen müssen.

 

Der offenbar dahinterstehenden Auffassung, die richterliche Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG werde durch jede Auslegung verletzt, die nicht im Wortlaut des Gesetzes vorgegeben ist, liegt jedoch ein zu enges Verständnis von Rechtsprechung zugrunde. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Gerichte, "nach Gesetz und Recht" zu entscheiden. Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung indes nicht vor. Insbesondere zieht der Wortlaut des Gesetzes im Regelfall gerade keine starre Auslegungsgrenze. Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört vielmehr auch die teleologische Reduktion einer Norm, wenn sie sich auf den Willen des Gesetzgebers stützt (siehe dazu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26.09.2011 - 2 BvR 2216/06 und 469/07 Rn. 57, m.N. weiterer Rspr. des BVerfG). Davon zu unterscheiden ist ein Fall unzulässiger verfassungskonformer Auslegung, wenn diese Auslegung mit Wortlaut und Willen des Gesetzgebers nicht im Einklang steht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 31.10.2016 - 1 BvR 871/13 und 1833/13 Rn. 34). Die Eigenart der teleologischen Reduktion aber besteht gerade darin, dass sie die auszulegende Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut hinsichtlich eines Teils der von ihr erfassten Fälle für unanwendbar hält, weil ihr Sinn und Zweck, ihre Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen gegen eine uneingeschränkte Anwendung sprechen (BVerfG, Beschluss vom 07.04.1997 - 1 BvL 11/96 Rn. 15). Einer teleologischen Reduktion des Anwendungsbereichs des AsylbLG, welche EU-Ausländer von der Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 AsylbLG ausnimmt, stehen auslegungstechnische verfassungsrechtliche Erwägungen deshalb nicht entgegen.

 

dd) Rechtsprechung anderer Senate des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, die EU-Ausländern einen Anspruch nach dem AsylbLG zuspricht (Beschluss vom 14.11.2018 - L 19 AS 1434/18 B ER Rn. 26 f.) oder jedenfalls erwägt (Beschluss vom 16.01.2019 - L 7 AS 1085/18 B Rn. 26), folgt der Senat nicht. Die Entscheidungen befassen sich von vornherein nicht mit der Frage einer teleologischen Reduktion des Anwendungsbereichs des AsylbLG, sondern setzen (zumindest der Beschluss vom 14.11.2018) die Anwendbarkeit unhinterfragt voraus. Soweit der Beschluss vom 16.01.2019 - L 7 AS 1085/18 B auf die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit eines ggf. fehlenden Existenzsicherungsanspruchs für EU-Ausländer verweist (Rn. 27), stellt sich diese Frage jedenfalls beim Antragsteller nicht, weil ihm existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren sind (dazu noch bei 4.) (..)“.

 

Dieser Auffassung des 20. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an (vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25.11.2021 – L 8 SO 207/21 B ER – juris, Hohm in: Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, Stand August 2022, III § 1 Rn. 21; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl, § 1 AsylbLG (Stand: 18.11.2019), Rn. 43 ff.; Dollinger in: Siefert, AsylbLG, 2. Aufl., Stand: 2020, § 1 Rn. 46, Wahrendorf, AsylbLG, Stand: 2017, Rn. 12; Birk in: LPK-SGB XII, § 1 AsylbLG Rn. 2; a.A. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2020 – L 19 AS 2035/19 B ER – juris Rn. 67 ff.; Decker in: Oestreicher, SGB XII/SGB II, § 1 AsylbLG Rn. 41; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 34, der aber davon ausgeht, dass EU-Bürger faktisch nicht in den Anwendungsbereich fallen). Gestützt wird die hier vertretene Auslegung auch durch die Überlegung, dass freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger Inländern im Wesentlichen gleichgestellt werden und deutsche Staatsangehörige vom AsylbLG grundsätzlich nicht erfasst werden (vgl. BSG, Urteil vom 14.06.2018 – B 14 AS 28/17 R – juris Rn. 27).

 

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucksache 12/4451, S. 7) ist im Übrigen Ziel des § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG die leistungsrechtliche Gleichbehandlung von Personen in einem Haushalt. Demnach ist die Vorschrift – selbst wenn sie auf den Kläger zu 2 entgegen der hier vertretenen Ansicht tatsächlich Anwendung fände – jedenfalls telelogisch einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie sich nur auf Familienangehörige einer Haushaltsgemeinschaft bezieht (vgl. Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 63; Hohm in: Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, III § 1 Rn. 143). Der Kläger zu 2 hat jedoch im streitigen Zeitraum nicht in einer Haushaltsgemeinschaft mit seinem Vater gelebt.

 

Da somit weder die Klägerin zu 1 noch der Kläger zu 2 vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen waren, ist entsprechend des Tenors zu entscheiden.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

 

Die Revision beider Beteiligter wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

 

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Rechtskraft
Aus
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