S 20 R 956/19

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 20 R 956/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

 

Der Bescheid der Beklagten vom 05.02.2019 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.04. 2019 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes ab 01.02.2019 und ab 01.11.2019 wegen voller Erwerbsminderung im gesetzlichen Umfang zu gewähren.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Streitig ist eine Rente wegen Erwerbsminderung.  Die 1972 geborene Klägerin beantragte am 16.07.2018 bei der Beklagten eine Erwerbsminderungsrente.

Die Beklagte zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte mit Bescheid vom 05.02.2019 den Antrag der Klägerin ab. Dagegen legte die Klägerin am 15.02.2019 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2019 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, da nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bei der Klägerin noch  ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten mit weiteren Funktionseinschränkungen  für mindestens 6 Stunden täglich vorliege.

Hiergegen hat die Klägerin am 27.05.2019 Klage erhoben.

Sie führt an, dass aufgrund der Gesamtheit der diagnostizierten Erkrankungen eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr gegeben sei.

Die  Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 05.02.2019 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung im gesetzlichen Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Bescheide.

Das Gericht hat Befundberichte G-H, T und A beigezogen. Ferner wurden ein psychiatrisch- psychosomatisches Gutachten bei B und ein neuropsychologisches Gutachten bei Sch eingeholt.

Nach dem Gutachten von B vom 13.11.2019 bestehen folgende Gesundheitsstörungen:

Auf psychiatrisch-psychosomatischem Fachgebiet:

Symptomdiagnosen:

  •  Angst und Depression gemischt; (I CD 10: F41 2).
  • Bruxismus (nächtliches Zähneknirschen), mit Bissschiene seit 2014 versorgt; (ICD 10: F45.8)
  • niedrige Intelligenz (IQ 83), kein Hinweis auf Intelligenzminderung
  • umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, Lese- und Rechtschreibschwäche, vor allem Rechenstörung; (ICD 10: F81.3)
  • leichte kognitive Teilleistungsschwäche (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Konzentration, Verlangsamung bei Problemlösung und Abstraktion, Einschränkungen in visuell-räumlichen Fähigkeiten); (ICD 10: F06.7)
  • Schmerzmittelfehl- und -übergebrauch; (ICD-10: F11.25)

Strukturdiagnose:

  • selbstunsichere Bildung der Persönlichkeit mit kognitiver Teilleistungsschwäche und niedriger Intelligenz mit reduzierter individueller Belastbarkeit und Kompensationsfähigkeit der Struktur

körperliche Diagnosen im Übrigen (übernommen)

  • leicht- bis       mittelgradige bewegungs-    und belastungsabhängige Schmerzen und Funktionsstörungen der LWS nach BSV-OP L4/5 in 1112016, bei degenerativen Veränderungen, ohne radikuläres Defizit

Die Klägerin könne nur  noch leichte körperliche und geistig einfache Arbeiten mindestens 3 aber unter  6 Stunden  täglich  mit durchschnittlicher nervlicher Belastung, durchschnittlichem Arbeits- und Zeitdruck verrichten. Ferner solle die Klägerin wegen ihrer Schmerzerlebens nicht in Akkord- und Nachtarbeit eingesetzt werden, ausgeschlossen seien auch Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten.

Dieses Leistungsvermögen bestehe seit Rentenantragstellung.

Sch kommt in ihrem neuropsychologischen Zusatzgutachten vom 13.12.2021 zu folgenden Feststellungen: Die Klägerin leide auf neuropsychologischem Fachgebiet an folgenden Gesundheitsstörungen:

  • kognitive Störung unklarer Ätiologie und unklaren Ausmaßes (ICD 10: F06.9) mit Aufmerksamkeitsstörungen, Verlangsamung, visueller Explorationsstörung, visuell-räumlicher Fähigkeiten, verminderter Aufmerksamkeitsbelastbarkeit, fraglich Gedächtnisstörungen sowie exekutive Störungen (Handlungsplanung, Strategiebildung, Überblick, Flexibilität, Abstraktionsvermögen)
  • Angst und Depression gemischt (ICD 10: F 41.2)
  • Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, v.a. Rechenstörung (ICD 10: F 81.3)
  • Leichte Intelligenzminderung (ICD 10: F 70.9)

Die Klägerin sei aufgrund der chronifizierten psychischen Störungen, in Kombination mit dem niedrigen Intelligenzniveau und den kognitiven Störungen nicht mehr in der Lage, einer Tätigkeit unter Arbeitsmarktbedingungen nachzugehen. Bei der Klägerin lägen im Hinblick auf das kognitive Arbeitstempo, Konzentrationsvermögen, Ausdauer, Kritikfähigkeit, Frustrationstoleranz, emotionale Steuerungsfähigkeit und Durchhaltevermögen Einschränkungen vor, die mit den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht übereinstimmen. Die Einschränkungen führten dazu, dass die Klägerin  auf ein wohlwollendes und weitgehend stressfreies Arbeitsumfeld angewiesen ist. Angesichts der chronischen psychischen Dekompensation wäre die Klägerin auf eine Art von Anleitung und Unterstützung angewiesen, die eher den Rahmenbedingungen einer WfBM entsprechen würde. Hinsichtlich des Arbeitsergebnisses wären erhebliche Minderleistungen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht  zu erwarten, neben einem geringen Arbeitsvolumen aufgrund der Verlangsamung sei  vor allem mit sehr häufigen krankheitsbedingten Ausfällen zu rechnen. Es sei ein besonderer Aufsichts-, Kontroll- oder Motivationsbedarf gegeben, dessen Erfüllung durch den Arbeitgeber unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes regelmäßig nicht gewährleistet sei.

Die Klägerin sei seit November 2016 nur noch halbschichtig, das heißt 3 bis unter 6 Stunden, belastbar gewesen. Eine volle Leistungsminderung liege seit dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung vor, wobei davon auszugehen sei,  dass aufgrund die  Verschlechterung und Chronifizierung graduell von statten gegangen sei. Aufgrund des hohen Qualifizierungsgrades und der verminderten Fähigkeit, sich zum Beispiel im Rahmen einer Therapie selbst reflektiv damit auseinanderzusetzen bestehe keine begründete Aussicht, dass sich der Gesundheitszustand mit Auswirkungen auf das Leistungsvermögen bessere.

Dem Gericht liegen ferner vor die ergänzenden Stellungnahmen des Gutachters B vom 10.02.2020, 07.09.2020 und 05.08.2022. Er schließt in der Stellungnahme vom 05.08.2022 sich der Leistungseinschätzung von Sch an, datiert den Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung aber auf den Zeitpunkt zum Zeitpunkt der Untersuchung am 29.10.2019 durch ihn.

Die Beteiligten haben sich schriftsätzlich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozess- und Beklagtenakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig.

Sie ist auch (überwiegend) begründet, denn die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Nach § 43 Abs. 1 und 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze

Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.         erwerbsgemindert sind,

 

2.         in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für  eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet haben und

 

3.         vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs.1 S 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, juris Rdnr. 24).

Für die Klägerin waren zumindest bis zu einem Leistungsfall einschließlich im April 2022 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente unstreitig erfüllt

 Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen. Allerdings setzt § 286 ZPO (i.v.m § 202 SGG) auch keine vollständige Freiheit von allen Zweifeln voraus. Für die richterliche Überzeugungsbildung ist ein brauchbarer Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, sie aber nicht völlig ausschließt notwendig und hinreichend. Diese Gewissheit muss die Prüfung der Beweise aufgrund objektiver, einleuchtender nachvollziehbarer Erwägungen erkennen lassen und intersubjektiv diskutierbar und nachvollziehbar sein. (So Bender/Häcker/Schwarz-Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5.Aufl. München 2021, Rn 607-618). Diese in der strafrechtlichen Rechtsprechung für § 286 ZPO  entwickelnden Grundsätze sind gemäß § 202 SGG  auch in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung gültig, überdies ist kein Grund ersichtlich, warum für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente strengere Anforderungen zu stellen sein sollten, als für die Verhängung einer langjährigen Freiheitsstrafe.

Die  Klägerin leidet unter Erkrankungen vor allem auf psychiatrischem Fachgebiet, die länger als 6 Monate bestehen und einen leistungsmindernden Dauereinfluss auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben haben. Auf die in den Gutachten angeführten Diagnosen und beschriebenen Leistungseinschränkungen wird verwiesen.

Die Kammer ist in Übereinstimmung mit dem Gutachter B auf der Grundlage seiner Ausführungen sowie des einholten Zusatzgutachtens von Sch zur vollen Überzeugung gelangt, dass die Klägerin seit  dem Zeitpunkt der Rentenantragstellung teilweise erwerbsgemindert (bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine volle Erwerbsminderungsrente i.S. d. Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes) war, da sie nur noch in der Lage war, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter 6  Stunden täglich zu verrichten, und ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Sch am 29.10.2019 voll erwerbsgemindert war, denn sie war ab diesem Zeitpunkt nur  noch in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter 3 Stunden täglich zu verrichten.

Die Kammer hat keine Zweifel, dass der Sachverständige B  die medizinischen Befunde zutreffend erhoben und aus ihnen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen hat. Die von dem Sachverständigen gezogenen Schlussfolgerungen entsprechen den allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben. Der Begutachtung lagen eine ausführliche Anamnese der Klägerin, eine psychopathologische Befunderhebung und eine umfangreiche Testdiagnostik zugrunde. In der Bewertung von B wurden auch die Ergebnisse der umfangreichen Testdiagnostik aus dem Zusatzgutachten von Sch berücksichtigt. Auch hinsichtlich des Zusatzgutachtens von Sch ist die Kammer der Überzeugung, dass die medizinischen Befunde zutreffend erhoben  und aus ihnen im Wesentlichen die richtigen sozial-medizinischen Schlussfolgerungen gezogen wurden. Insofern weicht die Kammer lediglich hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunktes der vollen Erwerbsminderung ab. Die Leistungseinschätzung wird hinsichtlich der rückwirkenden Bewertung auf der Grundlage des Gutachtens von B und seiner Einschätzung in der ergänzende Stellungnahme vom 05.08.2022 als nicht hinreichend sicher eingeschätzt, um hier zur vollen richterlichen Überzeugung zu gelangen.

Soweit der sozialmedizinische Dienst der Beklagten in der Stellungnahme vom 24. Februar 2022 moniert, die Gutachterin sei keine Fachärztin sondern psychologische Psychotherapeuten mit der Zusatzbezeichnung Neuropsychologie und könne deshalb keine Beurteilung körperlicher Einschränkungen aufgrund objektiver erhobener Befunde abgeben und darüber hinaus moniert wird, dass die gerichtlichen Beweisfragen nicht daran angepasst wurden, geht diese Kritik an der Sache vorbei und verkennt die Zielrichtung der Beweisanordnung. Im Weiteren wird in dieser Stellungnahme auch auf die Feststellung eines Rehabilitationsberichts aufgrund einer stationären orthopädischen Reha Behandlung Bezug genommen und insoweit angemerkt, dass dem Reha-Entlassungsbericht nicht zu entnehmen gewesen sei, dass der Rehabilitationsverlauf durch kognitive Einschränkungen der Klägerin beeinträchtigt war. Dies ist insofern nicht nachvollziehbar, weil mit einer orthopädischen Reha-Maßnahme in der Regel und so auch hier keine eingehenden psychologischen Untersuchungen oder gar spezifische neuropsychologische Testungen verbunden sind (tatsächlich weist der Reha Entlassungsbericht lediglich 2 kurze psychologische Beratungen von jeweils 30 Minuten auf). Die Anforderungen für die Teilnahme an einer Reha-Maßnahme sind nicht mit den Anforderungen für die Teilnahme am allgemeinen Arbeitsleben identisch. Ein Rückschluß (wie er in der Stellungnahme suggeriert wird), dass, wer an einer Reha-Maßnahme teilnehmen könne,  könnte auch voll auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein, ist nicht zulässig und sachfremd.

Dies legt nahe, dass die Beklagte einen rechtlich unzutreffenden, im Wesentlichen auf die körperliche Leistungsfähigkeit für körperlich leichte Tätigkeiten verengten Begriff der Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zugrunde legt. Die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarkts müssen nicht nur im Hinblick auf das bloße körperliche Funktionsvermögen erfüllt werden können, sondern unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes.

Tatsächlich ist die Beweisanordnung im Hinblick auf die schon von B festgestellten Einschränkungen auf neuro-psychologischem Gebiet modifiziert worden, um dessen diesbezügliche Feststellungen durch die von der Zusatzgutachterin vorgenommene umfangreiche Testdiagnostik zu validieren. Insbesondere wurden in den Zusatzfragen Fähigkeitsdimensionen wie kognitives Arbeitstempo, Konzentrationsvermögen, Ausdauer und Kritikfähigkeit, Frustrationstoleranz, emotionale Steuerungsfähigkeit und Durchhaltevermögen und die Frage angesprochen, ob bei der Klägerin erhebliche Minderleistungen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht zu erwarten seien und  ein besonderer Aufsichts-, Kontroll- oder Motivationsbedarf ersichtlich ist, um den neuropsychologischen Fähigkeitsstatus der Klägerin auf valider Grundlage mit den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes vergleichen zu können.

 Unter den "üblichen Bedingungen" i.S. des § 43 SGB VI ist das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Hierzu gehören sowohl rechtliche Bedingungen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften, als auch tatsächliche Umstände, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz (vgl. z.B. Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung - SGB VI, a.a.O. Rn 86 ff, Stand September 2009). Üblich sind Bedingungen, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Anzahl (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R –, BSGE 109, 189-199, SozR 4-2600 § 43 Nr 16, Rn. 29). So hat das BSG entschieden, dass das Risiko einer häufigen Arbeitsunfähigkeit dann zu einer Erwerbsminderung führen kann, wenn feststeht, dass die (vollständige) Arbeitsunfähigkeit so häufig auftritt, dass die während eines Arbeitsjahres zu erbringenden Arbeitsleistungen nicht mehr den Mindestanforderungen entsprechen, die ein „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ zu stellen berechtigt ist, sodass eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung eines solchen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen ist und dies somit den „unüblichen Arbeitsbedingungen“ zugeordnet werden kann. (Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 8 (Stand: 27.06.2022), Rn. 39 m.w.N.) Verallgemeinert bedeutet dies, dass jedenfalls dann, wenn ein  „vernünftig und billig denkender Arbeitgeber“ einen solchen Arbeitnehmer aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwartenden quantitativen und qualitativen Minderleistungen oder fehlender Integrationsfähigkeit in die üblichen betrieblichen Abläufe entweder gar nicht erst einstellen würde oder aber berechtigt wäre, ihn (weil die fehlende Leistungsfähigkeit oder das Verhalten nicht subjektiv vorwerfbar, sondern behinderungsbedingt sind)  personenbedingt  sozial gerechtfertigt zu kündigen, eine Leistungsfähigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr vorliegt.

Aufgrund der umfangreichen Testungen unter anderem der räumlich-perzeptiven und räumlich- konstruktiven Leistungen, der Aufmerksamkeit mit den Unterdimensionen  selektive Aufmerksamkeit, Vigilanz und Daueraufmerksamkeit ergaben sich in diesen Bereichen Hinweise auf deutliche Beeinträchtigungen.  Ferner zeigte sich ein vermeidender Umgang mit Anforderungen im Bereich des Umgangs mit Zahlen und logischem Denken, erheblicher Beeinträchtigungen im Bereich der exekutiven Funktionen sowie im Bereich schlußfolgernden Denkens, weiterhin eine unterdurchschnittliche verbale Intelligenz. Nachvollziehbar leitet die Zusatzgutachterin daraus erhebliche Einschränkungen im Hinblick auf das kognitive Arbeitstempo und Konzentrationsvermögen ab. Bei der Exploration und dem Verhalten bei Durchführung der Tests wurden bei Ausdauer, Kritikfähigkeit, Frustrationstoleranz, emotionale Steuerungsfähigkeit und Durchhaltevermögen erhebliche Einschränkungen festgestellt. Die Wertung, dass dies mit den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht übereinstimmt und die Klägerin auf ein wohlwollendes und weitgehend stressfreies Arbeitsumfeld z.B. unter den Rahmenbedingungen einer WfBM angewiesen sei, ist nachvollziehbar. Entsprechendes gilt für die weiteren Feststellungen im Hinblick auf besonderen Aufsichts- und Kontrollbedarf und die Prognose, dass aufgrund Überforderung bei den unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes häufige Kurzzeiterkrankungen zu erwarten seien. Die Auffassungserschwerung, die Verlangsamung von Handlungen und Reaktionen, die deutlichen Defizite in den exekutiven Funktionen, im Bereich des komplexen Planens, Problemlösens und in der Fähigkeit der Konzeptbildung und der kognitiven Umstellungsfähigkeit  bedingen dabei allerdings auch Leistungseinschränkungen, die nicht nur für eine bestimmte (Verweisungs-)Tätigkeit, sondern in jeglichem betrieblichen Umfeld universell relevant sind, da sie zwangsläufig quantitative und qualitative Minderleistungen und einen erhöhten Anleitungs- und Überwachungsaufwand in einem Umfang bedingen, der für einen normalen „vernünftig und billig denkenden Arbeitgeber“ nicht mehr zumutbar ist, aber im Rahmen der geschützten Bedingungen einer WfBM toleriert und kompensiert werden kann.

Soweit vom sozialmedizinischen Dienst der Beklagten gegen die Feststellungen von Sch weiter eingewandt wird, dass die Anamneseerhebung unvollständig sei und sich im Wesentlichen auf einen Verweis auf die Anamneseerhebung des psychiatrisch psychosomatischen Sachverständigengutachtens von B beschränke, ist dies eine sehr verkürzte und verfälschende  Darstellung, da  tatsächlich eine Anamnese und Verhaltensbeobachtung dokumentiert sind, bei der auch eine Affektlabilität der Klägerin deutlich wurde. Außerdem beschränkte  sich der monierte Verweis auf die soziale und berufliche Anamnese. Hier ist auch angesichts der spezifischen Fragestellungen der Beweisanordnung nachvollziehbar, dass diese nicht in vollem Umfang wiederholt wird. Verfälschend ist auch die Aussage des sozialmedizinischen Dienstes, dass außer der Angabe von Konzentrationseinschränkungen keine weiteren subjektiv beklagten psychiatrischen oder kognitiven Einschränkungen dokumentiert sind. Dies suggeriert, dass solche Einschränkungen nicht vorliegen und verkennt, dass die Klägerin aus Angst vor Stigmatisierung in Abrede stellt, unter kognitiven Behinderungen zu leiden und beklagt, als dumm hingestellt und deshalb  gehänselt worden zu sein. Auch der Umstand, dass die Klägerin tatsächlich einen Schulabschluss und eine Lehre als Textilfacharbeiterin absolvieren konnte, und auch die nachfolgenden beruflichen Tätigkeiten sprechen nicht gegen das Vorliegen der festgestellten Behinderungen und Funktionseinschränkungen zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung, da durch die Gutachter nachvollziehbar erklärt wurde, wie es zu einer dauerhaften Verschlechterung des Funktionsniveaus gekommen ist. Durch vermutlich jahrelange Überlastung und Zermürbung ist danach die Klägerin in einen Teufelskreis aus Überforderungserleben, körperlichen Beschwerden und der mangelnden Fähigkeit, mit konstruktiver Kritik umgehen zu können, geraten. Insoweit weist B in der der ergänzenden Stellungnahme vom 05.08.2022 unter Verweis auf die Feststellungen der Zusatzgutachterin darauf hin, dass  es dabei zwar nicht zu einer Verschlimmerung der kognitiven Symptome sondern zum Verlust der Kompensationsfähigkeit der persönlichkeitsstrukturellen Schwächen gekommen ist, der sich unter anderem in fehlender Frustrationstoleranz sowie der herabgesetzten Fähigkeiten der Klägerin, sich an die an sie gestellten Anforderungen anpassen und sich auf sie einstellen zu können, manifestiert. Sie fühle sich daher schnell ausgeliefert und reagiere auf Überforderungssituationen mit kindlich regressiver Vermeidung. Nach Auffassung der Kammer erklären diese persönlichkeitsstrukturellen Merkmale auch die zum Teil fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Klägerin in der Testsituation und sind nicht, wie der sozialmedizinische Dienst der Beklagten offenbar meint, als Indiz für fehlende Konsistenz oder Plausibilität der Beschwerdeschilderung oder gar als Aggravation  oder Simulation zu werten.

Die  Klage war, soweit über den Tenor hinaus ein Rentenbeginn ab Antragstellung begehrt wurde, abzuweisen.

Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 SGB VI auf Zeit geleistet. Besteht Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente wegen der Arbeitsmarktlage, ist diese Rente stets nur befristet unabhängig von einer Besse-rungsprognose zu leisten.(Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 102 SGB VI (Stand: 05.05.2021), Rn. 33) Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 101 Abs 1. SGBVII  nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet.

Von den Gutachtern wird die Verschlechterung des Funktionsniveaus der Klägerin übereinstimmend als schleichender Prozess geschildert, wobei es sich um einen schleichenden Chronifizierungprozeß handelt. Mit dem Gutachter B ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass somit erst zum Zeitpunkt der ambulanten Untersuchung durch den Gutachter eine Feststellung des Leistungsvermögens auf unter 3 Stunden möglich ist und zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung ein Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden bestand.

Die Rente ist allerdings aufgrund der im Verfahren eingetretenen weiteren  Verschlechterung  im Ergebnis unbefristet zu leisten.

Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden gemäß § 102 Abs.2 S.5 SGB VI  unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann.

Die Kammer folgt den Gutachtern auch in der Einschätzung, dass aufgrund Art, Schwere und Komplexität der Störung keine begründete Aussicht besteht, dass sich der Gesundheitszustand mit Auswirkungen auf das Leistungsvermögen bessert. Maßgeblich ist insoweit auch nach den Feststellungen von Sch der hohe Chronifizierungsgrad und die verminderte Fähigkeit, sich zum Beispiel im Rahmen einer Therapie selbstreflexiv mit dem eigenen Gesundheitszustand auseinanderzusetzen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem überwiegenden Obsiegen.

 

 

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