L 13 AS 531/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AS 3808/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 531/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. Januar 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren um die Rechtmäßigkeit dreier Sanktionsbescheide, mit denen der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II (Alg II) des Klägers festgestellt worden ist.

Der 1956 geborene Kläger steht seit dem 1. Januar 2005 beim Beklagten im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch — Grundsicherung für Arbeitsuchende — (SGB II).
Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 26. September 2013 für den Zeitraum vom 1. Oktober 2013 bis 31. März 2014 Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich insgesamt 292,80 € (Oktober 2013
[Minderung wegen Sanktionen 229,20 €]) bzw. 522 € (November 2013 bis März 2014 [Regelbedarf 382 €, Bedarfe für Unterkunft und Heizung 140 €]).
Nachdem in der Vergangenheit bereits mehrere Sanktionen erfolgten (zuletzt Sanktionsbescheid vom 20. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Januar 2014, mit dem für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 28. Februar 2014 der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II [Alg II] wegen wiederholter Pflichtverletzung festgestellt wurde, vgl. anschließendes Klageverfahren beim Sozialgericht Heilbronn [SG] unter dem AZ S 3 AS 543/14 und Berufungsverfahren L 9 AS 3048/14 bzw. nach Wiederanrufung des ruhenden Verfahrens L 9 AS 3260/21), stellte der Beklagte mit Bescheid vom 20. Februar 2014 den vollständigen Wegfall des Alg II für den Zeitraum vom 1. März 2014 bis 31. Mai 2014 wegen wiederholter Pflichtverletzung fest. Der Kläger sei seinen im Eingliederungsverwaltungsakt vom 8. August 2013 vorgeschriebenen Eigenbemühungen in Form von Bewerbungen nicht nachgekommen und habe hierfür keine Gründe genannt.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und brachte vor, jede Eingliederungsvereinbarung sei ein sittenwidriges Rechtsgeschäft und damit ungültig. Zudem seien „Existenzkürzungen" mit dem Grundgesetz (GG) nicht vereinbar.
Mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die dagegen am 18. März 2014 zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhobene Klage wurde mit Gerichtsbescheid vom 24. Juni 2014 abgewiesen (Az. S 3 AS 1017/14). Daran schloss sich ein Berufungsverfahren beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) an (zunächst L 9 AS 3047/14 und nach Wiederanrufung des ruhenden Verfahrens L 9 AS 657/21).
Mit Bescheid vom 4. April 2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum vom 1. April 2014 bis 30. September 2014 Grundsicherungsleistungen in monatlicher Höhe von 0 € für die Monate April und Mai 2014 sowie in Höhe von monatlich insgesamt 531 € für die Monate Juni bis September 2014.
Mit Bescheid vom 22. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2014 stellte der Beklagte den vollständigen Wegfall des Alg II für den Zeitraum vom 1. Juni 2014 bis 31. August 2014 fest. Der Kläger sei seinen im Eingliederungsverwaltungsakt vom 4. März 2014 vorgeschriebenen Eigenbemühungen in Form von Bewerbungen nicht nachgekommen und habe keine Gründe hierfür genannt.
Die dagegen am 21. Juli 2014 zum SG erhobene Klage wurde mit Urteil vom 20. August 2015 abgewiesen (Az. S 3 AS 2458/14).

Mit Bescheid vom 5. August 2014 stellte der Beklagte den vollständigen Wegfall des Alg II für den Zeitraum vom 1. September 2014 bis 30. November 2014 fest. Der Kläger sei seinen im Eingliederungsverwaltungsakt vom 4. März 2014 vorgeschriebenen Eigenbemühungen in Form von Bewerbungen nicht nachgekommen und habe keine Gründe hierfür genannt. In den Verwaltungsakten des Beklagten findet sich der Vermerk, dass der Bescheid am gleichen Tag persönlich beim Kläger eingeworfen worden sei (BI. 1169 der Verwaltungsakten).
Mit Schreiben vom 11. September 2015 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag hinsichtlich der Bescheide vom 20. Februar 2014 und vom 22. Mai 2014 sowie des Sanktionsbescheides für den Monat September, den er nicht erhalten habe. Das SG Gotha gehe in seinem Vorlagebeschluss vom 26. Mai 2015 (Az.: S 15 AS 5157/14, in juris) von der Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregeln aus. Er beantrage, dass das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ausgesetzt werde.
Diesen Überprüfungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 29. September 2015 ab. Die Bescheide vom 20. Februar 2014, vom 22. Mai 2014 und vom 5. August 2014 seien nicht zu beanstanden.
In seinem dagegen gerichteten Widerspruch nahm der Kläger Bezug auf die Ausführungen in seinem Überprüfungsantrag und beantragte, dass das Widerspruchsverfahren bis zu einer Entscheidung des BVerfG ausgesetzt werde.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Nach Maßgabe des § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) sei ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergäbe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden seien. Der Kläger habe nichts vorgebracht, was für eine Unrichtigkeit der Bescheide spräche, zumal das SG sich bereits mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob die Sanktionsregelungen der §§ 31 ff. SGB II verfassungskonform seien. Das SG sei unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des BVerfG zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Regelungen mit dem GG in Einklang stünden. Deshalb erscheine auch eine Aussetzung des Verfahrens nicht angezeigt.

Dagegen hat der Kläger am 11. November 2015 Klage zum SG erhoben. Zu deren Begründung hat der Kläger zunächst auf das Vorbringen in seinem Überprüfungsantrag Bezug genommen. Das Verfahren ist zunächst unter dem Aktenzeichen S 3 AS 3756/15 geführt worden. Auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten hat das SG mit Beschluss vom 28. Dezember 2015 im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 26. Mai 2015 (Az.: S 15 AS 5157/14, in juris) das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
Nachdem das BVerfG mit Urteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16 -juris) auf einen zweiten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 2. August 2016 (Az. S 15 AS 5157/14 - juris) über die Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen entschieden hatte, hat der Kläger das Verfahren am 21. November 2019 wieder angerufen. Die Ablehnung seines Überprüfungsantrages sei im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG rechtswidrig. Die Sonderregelung des § 40 Abs. 3 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei vorliegend nicht anzuwenden. Im Übrigen sei die „erste Sanktion", die die Monate Mai bis Juli 2013 betroffen habe, aufgehoben worden. Der Beklagte habe bereits am 2. März 2020 die betroffenen Grundsicherungsleistungen nachgezahlt.
Der Beklagte hat vorgetragen, die angefochtene Entscheidung sei rechtmäßig. Die dem Überprüfungsverfahren zugrundeliegenden Bescheide seien bestandskräftig geworden. Somit gelte entsprechend den Ausführungen des BVerfG in seinem Urteil vom 5. November 2019 die Sonderregelung des § 40 Abs. 3 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, so dass die Sanktionsbescheide nicht zurückzunehmen seien.

Mit Urteil vom 14. Januar 2021 hat das SG die Klage abgewiesen.
Der Bescheid des Beklagten vom 29. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2015 sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte habe zu Recht abgelehnt, die drei Sanktionsbescheide im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X zurückzunehmen.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden seien. Diese Regelung werde nach Maßgabe des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II eingeschränkt, welcher folgende Regelung treffe: 
„Liegen die in § 44 Absatz 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil dieser auf einer Rechtsnorm beruhe, die nach Erlass des Verwaltungsaktes
1. durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden sei oder
2. in ständiger Rechtsprechung anders als durch den für die jeweilige Leistungsart
zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgelegt worden ist,
so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen.“
Sowohl der Sanktionsbescheid vom 22. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2014 als auch der Sanktionsbescheid vom 5. August 2014 seien bestandskräftig (§ 77 SGG).
Gegen das klageabweisende Urteil des SG Heilbronn vom 20. August 2015 (Az. S 3 AS 2458/14), das den Sanktionsbescheid vom 22. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2014 zum Gegenstand gehabt habe, habe der Kläger kein Rechtsmittel eingelegt.
Ebenfalls habe der Kläger keinen Rechtsbehelf gegen den Sanktionsbescheid vom 5. August 2014 eingelegt. Bei dem Einwand des Klägers, er habe den persönlich von einem Bediensteten des Beklagten in seinen Hausbriefkasten eingeworfenen Bescheid nicht erhalten, handele es sich nach Auffassung der erkennenden Kammer um eine bloße Schutzbehauptung. Bereits die Sanktionsbescheide vom 20. Februar 2014 und vom 22. Mai 2014 seien dem Kläger so bekanntgegeben worden (§ 37 SGB X). Somit greife die Sonderreglung des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Zwar beruhten die angefochtenen Entscheidungen auf Rechtsnormen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16, in juris) für unvereinbar mit dem GG erklärt habe, jedoch seien entsprechende Verwaltungsakte, wenn sie — wie hier — unanfechtbar geworden seien, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG zurückzunehmen. Die Sanktionsbescheide beträfen jedoch Zeiträume vor dem Urteil vom 5. November 2019. Dass es für bestandskräftige Verwaltungsakte bei der Regelung des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X bleibe, habe das BVerfG zudem in seinem Urteil vom 5. November 2019 klargestellt (Az. 1 BvL 7/16, in juris Rn. 220).
Die erkennende Kammer könne dahinstehen lassen, ob das mit Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 27. Januar 2016 ruhend gestellte Berufungsverfahren (Az. L 9 AS 3047/14) gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG Heilbronn vom 24. Juni 2014 (Az. S 3 AS 1017/14), der den Sanktionsbescheid vom 20. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2014 zum Gegenstand gehabt habe, zwischenzeitlich wieder angerufen und erledigt worden ist.
Denn sollte das Verfahren noch nicht erledigt sein, so sei das Berufungsverfahren nach hier vertretender Auffassung wieder anzurufen. Bis zu dessen Abschluss stehe einer anderen Entscheidung des Beklagten die gerichtliche Entscheidung vom 24. Juni 2014 entgegen. Anderenfalls gälten obige Ausführungen entsprechend.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 15. Januar 2021 zugestellte Urteil hat er am 11. Februar 2021 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Die Feststellung des BVerfG, wonach es für bestandkräftige Verwaltungsakte bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X bleibe, gelte für den vorliegenden Fall nicht. Er habe bereits am 11. September 2015, also vor der Entscheidung des BVerfG im Jahr 2019, einen Überprüfungsantrag gestellt. Zum Zeitpunkt der höchstrichterlichen Entscheidung sei das Überprüfungsverfahren für die streitgegenständlichen Bescheide gelaufen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 — B 7a AL 2/06 R) gelte die gleichlautende Einschränkung des § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III nicht, wenn der Antrag im Zugunstenverfahren bereits gestellt gewesen sei. Das BSG führe aus, dass die in § 33 Abs. 1 SGB III getroffene Regelung einen Schutz von massenhaft rückwirkenden Korrekturen von Verwaltungsakten darstellen solle und beschreibe dies als sozialpolitisch zweifelhafte Zielsetzung, die eine enge Auslegung der Norm nahelege. Da der Wortlaut des § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II nahezu identisch zu § 330 Abs. 1 SGB III sei, seien auch die Ausführungen des BSG auf den vorliegenden Fall übertragbar. Der Zweck des § 40 Abs. 3 SGB X, der Schutz des Versicherungsträgers vor massenhaft rückwirkenden Korrekturen, werde auch erreicht, wenn die Korrektur eines Überprüfungsantrags nach der BVerfG-Entscheidung für die Zeit vor der Entscheidung eingeschränkt werde.
Zwar beziehe sich das zitierte Urteil des BSG auf § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III, der § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II entspreche und den Fall einer, in ständiger Rechtsprechung angewandten, abweichenden Auslegung erfasse, die entsprechende Begründung sei aber auch für den vorliegenden Fall der Unvereinbarkeit der dem VA zugrunde liegenden Rechtsnorm mit dem GG anwendbar.
Der Vorwurf des „Trittbrettfahrers", der von der Entscheidung des BVerfG profitieren wolle, könne dem Kläger insoweit nicht vorgehalten werden, als er den Überprüfungsantrag bereits 4 Jahre vor der BVerfG-Entscheidung gestellt habe. Er könne im Ergebnis nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der die Entscheidung des BVerfG im Sinne von § 40 Abs. 3 Nr. 1 SGB II herbeigeführt habe. Die vom BVerfG in seiner Entscheidung getroffene Feststellung, dass es für bestandskräftige Verwaltung bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II bleibe, könne deshalb nur insoweit gelten, als nicht bereits ein Überprüfungsverfahren eingeleitet gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. Januar 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. September 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2015 zu verurteilen, die Sanktionsbescheide vom 20. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. März 2014, 22. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2014 und 5. August 2014 zurückzunehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat an seinem Rechtsstandpunkt festgehalten.

In dem parallel geführten Berufungsverfahren L 9 AS 657/21 (ursprünglich L 9 AS 3047/14), in dem der Sanktionsbescheid vom 20. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. März 2014 streitgegenständlich war (S 3 AS 1017/14), hat der Kläger mit Schreiben vom 22. November 2021 das Teil-Anerkenntnis des Beklagten zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits angenommen, wonach sich der Beklagte bereit erklärt hatte, aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019 den Bescheid vom 20. Februar 2014 über die Minderung des Arbeitslosengelds II insoweit aufzuheben, als dieser über eine Minderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgeht und den insoweit noch nicht erfüllten Leistungsanspruch nachzubezahlen und nach § 44 SGB I zu verzinsen.
Der Beklagte hat im genannten Berufungsverfahren darauf hingewiesen, dass sich für den Leistungszeitraum vom 1. März bis 31. März 2014 kein Nachzahlungsanspruch ergeben würde, weil in Umsetzung des Urteils des SG vom 20. August 2015 (AZ: S 3 AS 1350/14) bereits Alg II in Höhe von 531 € erbracht und die Nachzahlung nach § 44 SGB I verzinst worden sei.


Die vom Beklagten eingelegte Berufung gegen das Urteil des SG vom 20. August 2015 (ursprünglich L 9 AS 4034/15 bzw. nach Wiederanrufung des Verfahrens L 9 AS 1134/20) wurde zwischenzeitlich zurückgenommen; das Berufungsverfahren hatte im Hinblick auf das Berufungsverfahren L 13 AS 3274/18 (S 10 AS 3332/16), in dem sich der Kläger gegen einen Aufhebungsbescheid des Beklagten gewandt hat, mit dem die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 31. März 2014 aufgehoben wurde, geruht.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen des weiteren Vorbringens und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Prozessakten beider Instanzen Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist unbegründet. 
Soweit der Kläger die Überprüfung des Sanktionsbescheids vom 20. Februar 2014 für die Zeit von März bis Mai 2014 gemäß § 44 SGB X begehrt, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis, so dass die Klage insoweit unzulässig ist. Denn der Sanktionsbescheid vom 20. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. März 2014 war bereits – ohne dass hierbei Einschränkungen wie im vorliegend streitgegenständlichen Zugunstenverfahren in Betracht kommen - Gegenstand der Überprüfung im zwischenzeitlich unter dem Aktenzeichen L 9 AS 657/21 wieder angerufenen Berufungsverfahren (ursprünglich L 9 AS 3047/14 [S 3 AS 1017/14]), in dem der Kläger das Teil-Anerkenntnis des Beklagten (Reduzierung der Sanktion auf 30%) zur vollständigen Erledigung des Rechtsstreits angenommen hat. Durch die vollständige Erledigung im o.g. Berufungsverfahren hat der Kläger zum Ausdruck gebracht, dass er über das angenommene Teil-Anerkenntnis hinaus kein Interesse mehr an einer weiteren Überprüfung des Sanktionsbescheids vom 20. Februar 2014 hat, so dass für die Weiterverfolgung der Berufung, soweit sie das Zugunstenverfahren im Hinblick auf den Sanktionsbescheid vom 20. Februar 2014 betrifft, kein Rechtsschutzinteresse besteht.

Im Hinblick auf die geltend gemachte Rücknahme der weiteren Sanktionsbescheide vom 22. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2014 und 5. August 2014 ist Rechtsgrundlage § 44 SGB X.
Dies gilt für beide Sanktionsbescheide, obwohl der Kläger den Zugang des Bescheids vom 5. August 2014 bestritten hat, auch für diesen Sanktionsbescheid. Denn auch dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden, weil er, ausweislich eines Aktenvermerks in der Verwaltungsakte des Beklagten, am gleichen Tag persönlich (durch einen Beschäftigten des Beklagten) beim Kläger eingeworfen und dadurch bekanntgegeben wurde (§  37 SGB X), und der Kläger dagegen keinen Widerspruch innerhalb der dafür vorgesehen Frist von einem Monat ab der Bekanntgabe (84 SGG) erhoben hat.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt-, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Bei einem Zugunstenverfahren gemäß 
§ 44 SGB X ist auf die bei Erlass des Bescheides maßgebliche Sach- und Rechtslage abzustellen, wobei es nicht auf den Stand der Erkenntnisse bei Erlass des Verwaltungsakts, sondern im Zeitpunkt seiner Überprüfung ankommt und somit eine rückschauende Betrachtungsweise im Lichte einer eventuell geläuterten Rechtsauffassung zu der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsakts geltenden Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen ist (vgl. BSG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – B 2 U 6/16 R).
Im vorliegenden Fall hat der Beklagte bei Erlass der Sanktionsbescheide vom 22. Mai 2014 und vom 5. August 2014 weder das Recht unrichtig angewandt, noch ist er von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen.
Gemäß § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II in der hier maßgebenden Fassung vom 13. Mai 2011 (gültig ab 1. April 2011) mindert sich das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung nach § 31 in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs (Satz 2). Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfällt das Arbeitslosengeld II (Satz 3.).
Gemäß § 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II in der hier maßgebenden Fassung vom 13. Mai 2011 (gültig ab 1. April 2011) mindert sich der Auszahlungsanspruch mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt, der die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellt. In den Fällen des § 31 Absatz 2 Nummer 3 tritt die Minderung mit Beginn der Sperrzeit oder mit dem Erlöschen des Anspruchs nach dem Dritten Buch ein (Satz 2). Der Minderungszeitraum beträgt drei Monate (Satz 3).
Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II in der hier maßgebenden Fassung vom 20. Dezember 2011 (gültig ab 1. April 2012) verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie sich trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis weigern, in der
Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach 
§ 15 Absatz 1 Satz 6 festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen.
Gemessen hieran sind die Sanktionsbescheide des Beklagten vom 22. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2014 und vom 5. August 2014 nicht zu beanstanden. Sie wurden jeweils damit begründet, dass der Kläger seinen im Eingliederungsverwaltungsakt vom 4. März 2014 vorgeschriebenen Eigenbemühungen in Form von Bewerbungen nicht nachgekommen sei und keine Gründe hierfür genannt habe. Damit liegen (wiederholte) Pflichtverletzungen im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II vor, welche die in § 31a und § 31b gesetzlich normierten Folgen nach sich gezogen haben. Anhaltspunkte dafür, dass der Eingliederungsverwaltungsakt vom 4. März 2014 mit den darin geregelten Pflichten nichtig sein könnte, mit der Folge, dass daraus ein Pflichtverstoß des Klägers nicht abgeleitet werden kann, liegen nicht vor und sind vom Kläger nicht konkret vorgetragen worden. Der Kläger hat auch keine Gründe für die fehlenden Eigenbemühungen vorgebracht.

Soweit der Kläger die Verfassungswidrigkeit der Gesetzesgrundlage gerügt hat, hat das Bundesverfassungsgericht zwar mit Urteil vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16 – juris) entschieden, dass § 31 a Abs. 1 Sätze 1, 2 und 3 SGB II
§ 31a Absatz 1 Sätze 1, 2 und 3 SGB II für Fälle des §  31 Abs. 1 SGB II mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar ist, soweit die Höhe der Leistungsminderung bei einer erneuten Verletzung einer Pflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt, soweit eine Sanktion nach § 31a Abs. 1 Sätze 1-3 SGB II zwingend zu verhängen ist, auch wenn außergewöhnliche Härten vorliegen, und soweit § 31 b Abs. 1 Satz 3 SGB II für alle Leistungsminderungen ungeachtet der Erfüllung einer Mitwirkungspflicht oder der Bereitschaft dazu eine starre Dauer von drei Monaten vorgibt.
Jedoch modifziert § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II (in der Fassung ab 1. August 2016 bzw. zuvor § 40 Abs. 2 Nr. 2 SGB II i.V. m. § 330 Abs. 1 SGB III) die Rechtsfolgen des §  44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, wenn dessen Voraussetzungen deshalb vorliegen, weil ein unanfechtbarer nicht begünstigender Verwaltungsakt auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes vom BVerfG für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist (§ 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II) oder die in ständiger Rechtsprechung anders als durch die jeweilige Leistungsart zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgelegt worden ist (§ 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Der Verwaltungsakt ist in diesen Fällen nicht mit Wirkung für die (gesamte) Vergangenheit, d.h. vorbehaltlich § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II rückwirkend z.B. ab Beantragung der zu Unrecht abgelehnten Leistungen, sondern nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des BVerfG oder ab Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen.
 § 40 Abs. 3 SGB II dient ebenso wie § 330 Abs. 1 SGB III und § 100 Abs. 4 SGB VI vornehmlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Eine Grundsatzentscheidung des BVerfG oder des BSG soll nicht dazu führen, dass eine unübersehbare Vielzahl von in der Vergangenheit erlassenen Leistungsbescheiden korrigiert werden muss. § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II soll zudem ebenso wie die parallele Vorschrift des § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III verhindern, dass so genannte „Trittbrettfahrer“ von den Entscheidungen des BSG profitieren. Zugleich wird der Grundsicherungsträger von der Verpflichtung befreit, von Amts wegen, soweit die Rücknahme nicht ohnehin nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist, neue Leistungsbescheide zu erlassen. Insoweit dienen die Vorschriften auch der Entlastung der Verwaltung. Dies ist gerade auch der Zweck des § 40 Abs. 3 Satz 2 SGB II, der unnötige Rechtsstreitigkeiten vermeiden soll (vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 40 [Stand: 15.03.2022], Rn. 126 m.w.N.). Zwar hat das BSG (Urteil vom 8. Februar 2007 – B 7a AL 2/06 R) - für den Fall der anderen Auslegung einer ständigen Rechtsprechung nach Erlass des Verwaltungsaktes - entschieden, dass die Einschränkung des § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III nicht gelte, wenn das Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X schon vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung in Gang gesetzt worden sei.
Die Vorschrift des § 330 Abs. 1 Alt. 1 SGB III (bzw. ab 1. August 2016 § 40 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II) findet jedoch unabhängig davon Anwendung, ob das Überprüfungsverfahren schon vor der Entscheidung des BVerfG begonnen wurde (Löcken in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, Rn. 91). Im vorliegenden Fall ist daher nicht relevant, dass der Kläger den Überprüfungsantrag bereits lange Zeit vor der Entscheidung des BVerfG gestellt hat.

Darüber hinaus ist im Urteil des BVerfG vom 5. November 2019 ausdrücklich geregelt, wie mit vor der Entscheidung erlassenen Sanktionsbescheiden umzugehen ist.
Im Hinblick auf bestandskräftige Verwaltungsakte hat das BVerfG ausdrücklich klargestellt, dass es bei der Regelung des §
 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X bleibt, ohne hierbei nach dem Zeitpunkt, in dem ein Überprüfungsantrag gestellt wurde, zu differenzieren. Demnach kann die Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall nicht dazu führen, dass die Sanktionsbescheide vom 22. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2014 und 5. August 2014 zu Gunsten des Klägers zurückgenommen werden.

Da das SG somit die Klage zu Recht abgewiesen hat, weist der Senat die Berufung zurück.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Rahmen des dem Senat nach § 193 SGG eingeräumten Ermessens war für den Senat maßgeblich, dass der Kläger mit der Rechtsverfolgung ohne Erfolg geblieben ist und die Beklagte keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat. Der Senat hält es auch im Falle einer Zurückweisung des Rechtsmittels für erforderlich, nicht nur über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu entscheiden, sondern auch über die Kosten der vorausgehenden Instanz (so Lüdtke, Kommentar zum SGG, 4. Aufl., § 193 SGG Rdnr. 8; erkennender Senat, Urteil vom 19. November 2013, L 13 R 1662/12, veröffentlicht in Juris; a.A. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 2a; Hintz/Lowe, Kommentar zum SGG, § 193 SGG Rdnr. 11; Jansen, Kommentar zum SGG, 4. Auflage, § 193 SGG Rdnr. 4).

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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