S 11 KG 1/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Landshut (FSB)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KG 1/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

  
SOZIALGERICHT LANDSHUT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
in dem Rechtsstreit

 A., A-Straße, A-Stadt
- Klägerin -
Proz.-Bev.:
Rechtsanwälte B., B-Straße, B-Stadt

gegen

Familienkasse Baden-Württemberg West Team Rechtsangelegenheiten
Kriegsstraße 100, 76133 Karlsruhe - -
- Beklagte -

Kindergeldrecht, ohne Streitigkeiten nach §§ 6a und 6b BKGG

Die 11. Kammer des Sozialgerichts Landshut hat auf die mündliche Verhandlung in Landshut
                                                 am 06. Dezember 2022
durch den Richter am Sozialgericht als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:

I. Der Bescheid vom 08.09.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.409,00 EUR zu zahlen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.


                                                                                                T a t b e s t a n d :

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin ab Mai 2021 Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) hat.

Die 2003 geborene Klägerin stammt aus Rumänien. Sie kam mit ca. sechs Jahren mit ihrer Mutter nach Deutschland.
Mit dem Vater hat die Klägerin nie zusammengelebt.
Die Klägerin lebte bis zum Tod der Mutter am 19.04.2021 mit dieser zusammen in Deutschland. Seit September 2019 absolvierte die Klägerin eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten. Die Ausbildung sollte voraussichtlich bis Juni 2022 gehen.

Nach dem Tod der Mutter beantragte die Klägerin im August 2021 bei der Beklagten Kindergeld für Vollwaisen oder Kinder, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen.
Sie gab an, keinen Kontakt mit dem Vater gesucht zu haben. Dieser sei im Gefängnis gewesen und zudem Alkoholiker. Deshalb habe sie nichts unternommen. Auch Verwandte hätten nichts unternommen. Der letzte Kontakt mit dem Vater sei 2018 gewesen. Der Vater habe auch nie versucht, Kontakt zur Klägerin aufzunehmen. Er habe immer nur angerufen, wenn er betrunken gewesen sei. Nach Angaben der Mutter lebe der Vater in einem Ort in T. mit Namen V.

Mit Bescheid der Beklagten vom 08.09.2021 wurde der Antrag der Klägerin vom 20.07.2021 ab dem Monat Mai 2021 abgelehnt. Es seien keine Bemühungen oder Bemühungen anderer Personen dargelegt worden, den Aufenthalt des Vaters zu ermitteln.
Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 08.10.2021 ließ die Klägerin Widerspruch erheben. Die Klägerin habe keinen Kontakt zu ihrem Vater und wisse nicht, wo er sich aufhält.
Der letzte Kontakt sei vor ca. zwei Jahren gewesen, als sie seine Unterschrift benötigt habe, um ihren Ausbildungsvertrag abzuschließen. Damals sei sie mit ihrer Mutter nach T. gereist, in eine der Klägerin unbekannte Stadt und habe dort auf den Straßen nach ihrem Vater gesucht, der erheblich alkoholkrank sei. Nach mehreren Stunden Suche hätten sie den Vater dann auf der Straße sitzend gefunden. Er habe selbst keine Angaben zu seinem Wohnort machen können und habe tatsächlich nur gewusst, in welcher Stadt er sich aufhielt. Ob er sich dort noch befindet, wisse weder die Klägerin noch ein Verwandter oder Bekannter.
Mit Schreiben vom 08.11.2021 teilte die Beklagte der Klägerin u. a. das Folgende mit:
"Ein Kindergeldanspruch besteht demnach nur, wenn der Aufenthalt der Eltern unbekannt ist, obwohl alle zumutbaren Bemühungen unternommen wurden, diesen zu ermitteln. Um über Ihren Widerspruch entscheiden zu können, werden noch folgende Nachweise benötigt:
Was haben Sie selbst oder andere Personen konkret und im Einzelnen unternommen, um Kontakt zum Vater herzustellen und dessen Aufenthaltsort festzustellen? Bitte teilen Sie mir mit, wann und in welcher Form Sie zuletzt Kontakt zu Ihrem Vater hatten (z.B. auch telefonisch, über das Internet etc.) und wann dieser Kontakt abbrach. Teilen Sie mir bitte weiter mit, ob Sie versucht haben, Ihren Vater über die Ihnen bekannten Kontaktdaten zu erreichen, z.B. per Post, Telefon, Handy, WhatsApp, E-Mail, Facebook/andere soziale Medien etc. Bitte nehmen Sie auch dazu Stellung, warum der Kontakt abbrach und warum kein Kontakt mehr aufgenommen werden kann.
Bitte belegen Sie Ihre Bemühungen mit entsprechenden Nachweisen.
Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie versucht haben, den Aufenthaltsort Ihres Vaters über andere Personen in Erfahrung zu bringen, z.B. Verwandte, Bekannte, ehemalige Nachbarn; insbesondere Personen in der Nähe des zuletzt bekannten Aufenthaltsortes. Bitte legen Sie, soweit möglich, eine entsprechende Bestätigung der von Ihnen angefragten Personen vor.
Haben Sie versucht, den Kontakt über
-   staatliche Stellen (Behörden in Deutschland, im Herkunftsland oder im letztbekannten Aufenthaltsland der Eltern, z.B. Polizeidienststellen, Einwohnermeldebehörden),
-   die Botschaft oder das Konsulat des Herkunftslandes,
-   private (Hilfs-)Organisationen (z.B. Suchdienste, Rotes Kreuz bzw. Roter Halbmond, Heilsarmee) herzustellen?

Lassen Sie mir als Nachweis bitte eine Kopie Ihrer Anfrage und - soweit vorhanden - des Antwortschreibens zukommen. Wenn keine solchen Stellen angefragt wurden, teilen Sie mir bitte die Gründe hierfür mit. Sollten die Suchdienste in Ihrem Fall keine Suche durchführen können/dürfen, legen Sie hierzu bitte eine entsprechende Bestätigung oder andere geeignete Nachweise vor. Aus den Nachweisen muss hervorgehen, dass Sie bereits (erfolglos) versucht haben, den Aufenthaltsort des Vaters ausfindig zu machen."

Nachdem die Klägerin nicht reagierte, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 02.12.2021 als unbegründet zurück. Vorliegend habe es die Klägerin unterlassen, Bemühungen zur Feststellung des Aufenthalts des Vaters zu unternehmen. Eine Suchanfrage sei nicht von vornherein ungeeignet, den Aufenthalt des Vaters zu ermitteln. Angesichts dessen, dass die Anfrage nicht mit größerem Aufwand verbunden sei, wäre das Durchführen der Anfrage auch bei geringen Erfolgschancen grundsätzlich zumutbar gewesen.

Am 13.01.2022 hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, Klage erhoben. Es bestehe ein Anspruch auf Kindergeld für den Zeitraum Mai 2021 bis Februar 2022. Die Klägerin hat am 03.03.2022 geheiratet.

Die Klägerin beantragt zuletzt,
                 den Bescheid der Beklagten vom 08.09.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der
                 Klägerin für den Zeitraum Mai 2021 bis März 2022 Kindergeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
                 die Klage abzuweisen.

Es bestehe keinesfalls Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG. Die Klägerin wisse, dass sich der Vater in T. aufhalte. Darauf, ob der Vater Unterhalt leisten könne, komme es nicht an. Die Klägerin hätte bei Telefonaten den Aufenthalt des Vaters erfragen können.

Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 06.12.2022 eingehend zum Kontakt mit dem Vater befragt. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird gem. § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen.


                                                                                                 E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 08.09.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2021 ist rechtswidrig, sodass die Klägerin hierdurch beschwert ist im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere wurde die Klagefrist eingehalten.

Der Bescheid vom 08.09.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2021 war zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht bestandskräftig geworden. Gemäß § 87 Abs. 1 und Abs. 2 SGG ist die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben. Diese Frist beginnt aber gemäß § 66 Abs. 1 SGG nur dann zu laufen, wenn der Bescheid mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehen ist. Hieran fehlt es vorliegend mit der Folge, dass gemäß § 66 Abs. 2 S. 1 SGG für die Erhebung der Klage eine Frist von einem Jahr gilt, die hier eingehalten ist.
§ 66 Abs. 1 SGG verknüpft den Beginn der Klagefrist mit einer Belehrung des Beteiligten über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist. Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass über den Wortlaut der Vorschrift hinaus nach ihrem Sinn und Zweck, den Beteiligten ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte der (fristgerechten) Wahrung ihrer Rechte zu ermöglichen, auch eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften erforderlich ist (vgl. nur Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 14. März 2013 - B 13 R 19/12 R -. Hinzu kommt, dass § 36 S. 1 SGB X bei einem schriftlichen Verwaltungsakt - wie hier - eine Belehrung auch über die Form des Rechtsbehelfs ausdrücklich vorsieht.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben kann die dem Widerspruchsbescheid vom 02.12.2021 beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung, wonach die Klage schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben werden könne, nicht als richtig bewertet werden. Für die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid ist mit dem Inkrafttreten der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs zum 01.01.2022 gem. § 65d SGG die Rechtsbehelfsbelehrung entsprechend um den Hinweis zu ergänzen, dass die nicht-digitale Form für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts (persönlicher Anwendungsbereich des § 65d SGG) nicht mehr ausreichend ist. Aufgrund der dann über den Jahreswechsel laufenden Rechtsbehelfsfristen ist eine entsprechend angepasste Belehrung bereits ab dem 01.12.2021 erforderlich (vgl. H. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 66 SGG (Stand: 15.12.2022), Rn. 38 m. w. N.).

Unerheblich ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 66 SGG, ob die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung für das Fristversäumnis ursächlich geworden ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 66 Rn. 12).

2. Die Klägerin hat im beantragten Zeitraum Anspruch auf Gewährung von Kindergeld nach Maßgabe des BKGG. Dabei hat die Klägerin den Anspruch auf den Zeitraum auf Mai 2021 bis März 2022 beschränkt. Jedenfalls für diesen Zeitraum liegen auch die Anspruchsvoraussetzungen vor.
Die Kläger erfüllt die Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG.

Nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer 1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, 2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und 3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Klägerin hatte im fraglichen Zeitraum ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Sie lebt seit ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland, zumindest seit 01.09.2019 absolviert die Klägerin eine Ausbildung. Sie verfügt als Rumänin über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Die Klägerin ist auch nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen. Die Mutter ist tot, der Vater lebt jedenfalls nicht in Deutschland.

Die Klägerin erfüllt auch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG: Zwar ist sie nicht Vollwaise, aber sie kennt den Aufenthalt ihres Vaters nicht.

Die Mutter der Klägerin ist verstorben.

Wo der Vater der Klägerin lebt, ist unbekannt. Den letzten persönlichen Kontakt zu ihm hatte die Klägerin im Jahr 2018. Die Kammer konnte sich in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass die Klägerin die Adresse ihres Vaters nicht kennt. Sie vermutet lediglich, dass dieser weiterhin in T. lebt. Sowohl der Vater als auch dessen Familie weigern sich, nach überzeugender Ausführung der Klägerin, den genauen Wohnort des Vaters der Klägerin mitzuteilen. Nachvollziehbar ist die Vermutung der Klägerin, dass der Vater den Rückgriff der Unterhaltsstelle befürchtet.

Nach Überzeugung der Kammer hat die Klägerin keine Kenntnis vom Aufenthaltsort ihres Vaters. Dabei schließt lediglich positive Kenntnis des antragstellenden Kindes von dem Aufenthalt des Elternteils den Leistungsanspruch aus (grundlegend hierzu und zu dem hierbei anzuwendenden subjektiven Maßstab siehe BSG, Urteil vom 08. April 1992 - 10 RKg 12/91 -, SozR 3-5870 § 1 Nr 1). Dieser Rechtsprechung, die nach wie vor aktuell ist (siehe BSG, Urteil vom 05. Mai 2015 - B 10 KG 1/14 R -, BSGE 119, 33-43, SozR 4-5870 § 1 Nr 4, Rn. 16), wird seitens der landessozialgerichtlichen und sozialgerichtlichen Rechtsprechung soweit veröffentlicht, zumindest überwiegend (vgl. nur Landessozialgericht (LSG) für das Land Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2001 - L 8/3 KG 5/00 -; Sozialgericht (SG) Landshut, Beschluss vom 17. April 2012 - S 10 KG 1/12 ER -; SG Mainz, Urteil vom 22. September 2015 - S 14 KG 4/15 -; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. Juni 2016 - L 5 KG 1/15 -; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 2018 - L 2 KG 1/18 B ER -; SG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2020 - S 19 KG 5/20 -). In der Entscheidung von 1992 hatte das BSG zugleich darauf hingewiesen, dass sich aus § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG "in keinerlei Hinsicht" ein Verschuldensgrad entnehmen lasse, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könne. Damit reicht es nicht aus, wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern (hier des Vaters) nicht nachgeht (BSG, Urteil vom 08.04.1992, a. a. O., Rn. 18). Lediglich bei "missbräuchlicher Nichtkenntnis" sei zu erwägen, ob dies einer Kenntnis im Sinne von § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden könne (a. a. O.). In diesem Zusammenhang hat das BSG auf die zivilrechtliche Rechtsprechung zu § 852 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hingewiesen (a. a. O.). Diesen Gesichtspunkt hat das LSG Sachsen-Anhalt in seinem Urteil vom 23.06.2016 - L 5 KG 1/15 - aufgegriffen und hierzu ausgeführt (Rn. 36, 37):

Nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. hängt der Beginn der Verjährung von deliktischen Ansprüchen davon ab, dass der Verletzte - oder der Wissensvertreter - Schaden und Schädiger positiv kennen. Die Vorschrift wird auch dann angewendet, wenn der Verletzte die Kenntnis zwar tatsächlich nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte. Denn der Verletzte soll es nicht in der Hand haben, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt (Rechtsgedanke des § 162 BGB). Allerdings genügt eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der positiven Kenntnis nicht. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt. Nur dann liegt ein Fall von missbräuchlichem sich Verschließen vor der Kenntnis vor, der mit einer positiven Kenntnis gleichzusetzen ist.

Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: Das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis, oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangen weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 08.04.1992, a. a. O. (16)). Ebenfalls keine missbräuchliche Kenntnis liegt vor, wenn der Geschädigte die aus seiner Sicht in Betracht kommenden Auskunftsstellen erfolglos um Mitteilung gebeten und erst durch eine verspätet gewährte Akteneinsicht Kenntnis erlangt hat (BGH, Urteil vom 08.04.1992, a. a. O., (17)).
Dem entsprechen die Hinweise des BSG in dem Urteil vom 08.04.1992 (a. a. O., Rn. 20), die auf die Erwägungen der Vorinstanz verweisen, wonach eine Nichtkenntnis des Kindes von dem Aufenthalt seiner Eltern dann nicht anzunehmen sei, wenn der Aufenthalt durch einfache Nachforschungen zu ermitteln sei; darüberhinausgehende Anforderungen, insbesondere der Nachweis fruchtloser Bemühungen bei den zuständigen Behörden des letzten Aufenthaltsstaates, könnten jedoch nicht verlangt werden.

Unter Zugrundelegung dieser Erwägungen kann vorliegend nicht festgestellt werden, dass ein missbräuchliches "sich Verschließen" vorliegt, das der positiven Kenntnis gleichzusetzen wäre (zu dieser Formulierung LSG Sachsen-Anhalt, a. a. O., Leitsatz 1).

Der Klägerin kann nicht widerlegt werden, dass sie den aktuellen Aufenthalt ihres Vaters nicht kennt. Es erscheint nicht lebensfremd, dass ein ohnehin nur oberflächliches Verhältnis mit dem Vater nicht aufrechterhalten wurde. Die Klägerin hat nachvollziehbar ausgeführt, dass der Vater für sie praktisch eine fremde Person war und, weil der Vater sich nicht um sie gekümmert hatte, auch die aktuelle Adresse des Vaters nicht kennt. Die Klägerin hat nie mit dem Vater zusammengelebt. Straffälligkeit und offenkundige Alkoholprobleme schreckten sie ebenfalls ab. Sie hat erfolglos den Vater und andere Familienmitglieder befragt. Ob die Familienmitglieder des Vaters die genaue Adresse des Vaters überhaupt kennen ist offen.
Ausreichend ist vorliegend auch nicht die bloße Vermutung, der Vater lebe in T. Denn auch hierbei handelt es sich um keinen konkreten Aufenthaltsort im Sinne des Gesetzes. Vielmehr kommt es auf einen festen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (mit konkreter Adresse) an (SG Mainz, Urteil vom 22.09.2019 - S 14 KG 4/15 -). Hierfür bestehen vorliegend keinerlei Anhaltspunkte.
Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich bei der von ihr (nach Antragsstellung und Ablehnung) geforderten Ermittlungen auch nicht um "einfache Nachforschungen" im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.04.1992, a. a. O., Rn. 20). Die Annahme "einfacher Nachforschungen" scheidet bereits dann aus, wenn hierfür "lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel" erforderlich würden (LSG Sachsen-Anhalt, a. a. O., Rn. 37). Gleiches gilt grundsätzlich auch für Nachforschungen im Ausland (BSG, a. a. O.). Damit bleiben im Wesentlichen übrig nur Rückfragen bei inländischen Behörden (Einwohnermeldeamt, ggfls. Jugendamt) sowie Rückfragen bei gemeinsamen Bekannten und Verwandten. Genau diese Ermittlungsmöglichkeiten hat die Klägerin ausgeschöpft.
Soweit die Beklagte auf Nachforschungen bei Behörden in T. oder privater Organisationen im Ausland verweist, hat sie dies nicht näher konkretisiert. "Einfache Nachforschungen" liegen jedenfalls bereits dann nicht mehr vor, wenn hierfür erforderlich ist, dass das antragstellende Kind selbst erst die Behörden, Institutionen oder privaten Einrichtungen ermitteln muss, bei denen dann auch noch völlig unklar ist, ob diese überhaupt entsprechende Auskünfte geben könnten (SG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2020 - S 19 KG 5/20 -).
Dem ist auch nicht weiter nachzugehen, da es nach der Rechtsprechung des BSG, der das erkennende Gericht folgt, nicht auf die objektiven Umstände ankommt, sondern allein ein subjektiver, auf den Antragsteller bezogener Maßstab anzuwenden ist (BSG, a. a. O., Rn. 17, Rn. 20).

Es kann vorliegend dahinstehen, ob eine Ablehnung nicht ohnehin erst ab dem Zeitpunkt erfolgen könnte, ab dem einer Antragstellerin die konkreten Ermittlungspflichten mitgeteilt wurden. Dies wäre vorliegend frühestens ab dem Schreiben der Beklagten vom 08.11.2021 der Fall gewesen.

Die Klägerin hat folglich Anspruch auf Kindergeld für sich selbst, jedenfalls für die Zeit von Mai 2021 bis März 2022 in der gesetzlichen Höhe. Die Summe von 2.409 EUR folgt aus der damaligen mtl. Höhe des Kindergelds (§ 6 BKGG in der Fassung vom 10.3.2021, 219 EUR) multipliziert mit 11 Monaten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Rechtsmittelbelehrung
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Bayer. Landessozialgericht, Ludwigstraße 15, 80539 München, oder bei der Zweigstelle des Bayer. Landessozialgerichts, Rusterberg 2, 97421 Schweinfurt, schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Bayer. Landessozialgericht in elektronischer Form einzulegen. Rechtsanwälte, Behörden oder juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse müssen die Berufung als elektronisches Dokument übermitteln (§ 65d Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Gleiches gilt für die nach dem Sozialgerichtsgesetz vertretungsberechtigten Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 65a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGG zur Verfügung steht (§ 65d Satz 2 SGG).
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist beim Sozialgericht Landshut, Seligenthaler Straße 10, 84034 Landshut, schriftlich oder zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder beim Sozialgericht Landshut in elektronischer Form eingelegt wird.
Die elektronische Form wird durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments gewahrt, das für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist und
- von der verantwortenden Person qualifiziert elektronisch signiert ist oder
- von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 65a Abs. 4 SGG eingereicht wird.
Weitere Voraussetzungen, insbesondere zu den zugelassenen Dateiformaten und zur qualifizierten elektronischen Signatur, ergeben sich aus der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) in der jeweils gültigen Fassung.
Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden; dies gilt nicht im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs.

 

 

 

 

 

 

 

Rechtskraft
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