S 14 KR 136/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 14 KR 136/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Transsexualität ist unter bestimmten Voraussetzungen eine behandlungsbedürftige Krankheit in Gestalt einer psychischen Erkrankung. 
2. Die Versorgung mit einem Hilfsmittel ist danach auszurichten, ob das Hilfsmittel geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das in § 33 Abs. 1 S. 1 genannte Versorgungsziel zu erreichen. Versorgungsziel ist vor allem, den Leidensdruck der betroffenen Personen zu lindern und damit den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. 
3. Die Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese, die zum Geschlechtsverkehr genutzt werden kann, kann im Einzelfall geeignet und notwendig sein, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern. 
 


Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12.5.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.9.2022 verpflichtet, den Kläger mit einer weiteren Penis-Hoden-Epithese zum Geschlechtsverkehr zu versorgen. 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese für den Geschlechtsverkehr. 

Der Kläger ist bei der Beklagten krankversichert. Bei ihm besteht eine Transidentität von Frau-zu-Mann. Eine Personenstandsänderung und die Mastektomie sind erfolgt. eine Penoidaufbauoperation hat der Kläger bislang nicht vornehmen lassen.  

Durch Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 25.3.2022 und Kostenvoranschlag des Instituts für Epithetik D. vom 19.4.2022 hat der Kläger die Versorgung mit zwei Penis-Hoden-Epithesen beantragt, eine für den Alltag mit Urinierfunktion und die andere Epithese für den Geschlechtsverkehr. Beigefügt war unter anderem eine ärztliche Stellungnahme vom 8.4.2022 von Dr. M., der nach den bislang erfolgten Behandlungsschritten eine Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese befürwortet sowie eine persönliche Stellungnahme des Klägers vom 18.4.2022. Dort beschreibt der Kläger insbesondere, dass er unter Einschränkungen in der Lebensqualität und Freiheit leide, unter anderem, weil kein Geschlechtsverkehr mit seiner langjährigen Partnerin möglich sei. 

Die Beklagte hat daraufhin den Medizinischen Dienst mit einer Begutachtung beauftragt. Der Medizinische Dienst hat in seinem Gutachten vom 6.5.2022 ausgeführt, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Hilfsmittelversorgung mit den beantragten Epithesen nicht vorlägen. Insbesondere sei keine körperliche Funktionsstörung gegeben. Die fehlende Penetrationsfähigkeit durch den nicht vorhandenen Penis könne keinen Leistungsanspruch auf eine Hilfsmittelversorgung rechtfertigen. Zudem seien die Voraussetzungen für eine geschlechtsangleichende Operation nicht gleichbedeutend mit einem Leistungsanspruch auf Kostenübernahme für ein Hilfsmittel. Es würden sich Überschneidungen zu Alltagsgegenständen wie Sex-Toys ergeben, da beispielsweise ein Dildo oder ein Strap-on die gleiche Funktion erfüllen würden wie die Epithese mit Erektionsfunktion. 

Die Beklagte hat den Antrag mit Bescheid vom 12.5.2022 abgelehnt. Zur Begründung hat sie unter Verweis auf das Gutachten des Medizinischen Dienstes ausgeführt, dass keine medizinische Notwendigkeit vorliegen würde. 

Mit Schreiben vom 31.5.2022 hat der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid erhoben. Dieser wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Medizinische Dienst auf die Listung der Epithesen im Hilfsmittelverzeichnis gar nicht eingehe und das Gutachten im Übrigen auch nicht überzeugend sei. Penis-Hoden-Epithesen seien zum Behinderungsausgleich notwendig, da sie die fehlenden primären Geschlechtsteile ersetzen. Sie seien aber auch zur Linderung des psychischen Drucks notwendig.  

Mit Schreiben vom 6.7.2022 hat die Beklagte den Kläger darüber informiert, dass sie den Medizinische Dienst erneut mit einer sozialmedizinischen Stellungnahme beauftragt habe. 

Der Medizinische Dienst hat in seiner Stellungnahme vom 3.8.2022 ausgeführt, dass eine sozialmedizinische Indikation weiterhin nicht nachvollziehbar sei. Ein individuelles körperliches medizinisches Erfordernis sei nicht nachvollziehbar begründet, weil das weibliche Genital anatomisch intakt funktioniere. Es bestehe weder eine organisch begründete Störung des Wasserlassens noch diene die Epithese der Fortpflanzungsfähigkeit. Die Hilfsmittelsystematik kenne keine Indikation der Verbesserung des psychischen Wohlbefindens. Eine Abgrenzung von allgemeinen Gebrauchsgegenständen sei nicht möglich.

Der Widerspruch wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 22.9.2022 als unbegründet zurückgewiesen. Unter Verweis auf die Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 5.5.2022 und 29.7.2022 hat die Beklagte dies damit begründet, dass eine somatische Indikation fehle. Das vorhandene weibliche intakte Genital entspreche weder einer Krankheit noch einer Behinderung oder Entstellung. Die Versorgung mit dem Hilfsmittel scheide daher aus. 

Der Kläger hat am 11.10.2022 Klage am Sozialgericht Marburg erhoben. Die Penis-Hoden-Epithesen seien im Hilfsmittelverzeichnis gelistet, sodass sie bei Vorliegen der Voraussetzungen durch die Krankenkassen genehmigt werden müssten. Die Voraussetzungen lägen vor, da beim Kläger eine gesicherte Transidentität vorläge. Es sei derzeit nicht möglich, eine Penis-Hoden-Epithese zu fertigen, mit der die Ausführung beider Funktionen, also Alltag und Miktion und Geschlechtsverkehr, möglich wäre. 

Der Kläger hatte ursprünglich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.5.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.9.2022 zu verurteilen, den Kläger mit zwei Penis-Hoden-Epithesen zu versorgen. 

Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 21.12.2022 den Anspruch des Klägers auf eine Penis-Hoden-Epithese zum Urinieren im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen anerkannt hat, hat der Kläger die Klage insoweit für erledigt erklärt.

Der Kläger beantragt nunmehr, 
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.5.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.9.2022 zu verpflichten, den Kläger mit einer weiteren Penis-Hoden-Epithesen zum Geschlechtsverkehr zu versorgen.

Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Der Geschlechtsverkehr sei zwar ein Bedürfnis, aber kein definiertes Grundbedürfnis, weshalb eine Hilfsmittelversorgung ausscheide. Bei der Beklagten seien zwar keine Erfahrungswerte vorhanden, es müsse aber möglich sein, eine individuelle Epithese herzustellen, die sowohl für das Urinieren als auch für den Geschlechtsverkehr genutzt werden kann. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. 

Streitgegenständlich ist nach dem Teilanerkenntnis der Beklagten der Bescheid vom 12.5.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.9.2022 nur noch soweit dieser die Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese, die für den Geschlechtsverkehr genutzt werden kann, zum Gegenstand hat. 

Der angefochtene Bescheid verletzt den Kläger dahingehend in seinen Rechten. Es besteht ein Anspruch auf Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese für den Geschlechtsverkehr. 

Rechtsgrundlage für diesen Anspruch ist nach Auffassung des Gerichts § 27 Abs. 1 i.V.m. § 33 Abs. 1 S. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). 

§ 27 SGB V bestimmt zunächst, dass versicherte Personen einen Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. 

Gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.

Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor. 

Unstreitig ist, dass bei dem Kläger eine Frau-zu-Mann-Transidentität und damit eine Krankheit im Rechtssinne (Transsexualismus nach ICD-10, F 64-0, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen) vorliegt (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 11; BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 11/12 R –, juris Rn. 9 ff.; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – B 1 KR 19/20 R –, juris Rn. 8). 

Hierbei handelt es sich um eine psychische Erkrankung. Dafür spricht bereits der Eintrag im ICD-10-Code, in dem Transsexualismus als Persönlichkeits- und Verhaltensstörung klassifiziert ist. Zur Krankheit wird insbesondere Folgendes ausgeführt: 
„Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher.“

Auch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird klargestellt, dass es sich bei Transsexualismus um eine psychische Erkrankung handelt, die von der Rechtsordnung als Krankheit anerkannt wird (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 11; BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 11/12 R –, juris Rn. 9 ff.; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – B 1 KR 19/20 R –, juris Rn. 8). Personen mit einer Transidentität leben in dem irreversiblen und dauerhaften Bewusstsein, einem, Geschlecht anzugehören, dem sie zum Zeitpunkt der Geburt rechtlich nicht zugeordnet wurden (BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3295/07 – juris Rn. 34). 

Diese ist dem Grund nach auch behandlungsbedürftig (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 11). Dabei gibt es mittlerweile ein breites Spektrum an Behandlungsoptionen (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 13). So erfasst der Anspruch nach § 27 SGB V Therapien, die sowohl das schlichte Leben im Körper des gewählten Geschlechts ohne somatische Maßnahmen als auch hormonelle Therapien und operative Geschlechtsangleichung erfasst. Mit Blick auf die operativen Maßnahmen erkennt das Bundessozialgericht eine Ausnahme von dem Grundsatz an, dass bei psychischen Erkrankungen körperliche Eingriffe nicht in Betracht kommen (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 15). Anders herum wird aber auch klargestellt, dass eine solche Operation aufgrund der damit verbundenen Risiken nicht verlangt werden kann (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 15). 

Besteht eine Indikation für eine geschlechtsangleichende Operation, wird das erforderliche Ausmaß der Behandlung und Hilfsmittelversorgung durch objektivierte medizinische Kriterien bestimmt, wobei vor allem das Ziel der Behandlung berücksichtigt werden muss. Dieses Ziel besteht darin, den Leidensdruck der Betroffenen zu lindern – auch durch das körperliche Annähern des körperlich bestehenden Geschlechts mit dem empfundenen Geschlecht (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 9/12 R –, juris Rn. 21). 

Ausgehend davon und unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Behandlung handelt es sich auch bei der beantragten Penis-Hoden-Epithese um ein Hilfsmittel, welches dazu dient, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Hilfsmittel sind zunächst alle sachlichen Mittel, die durch ersetzende, unterstützende oder entlastende Wirkung den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, soweit sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. 

Diese Voraussetzungen liegen bei der beantragten Epithese vor. Sowohl die Epithese zum Urinieren als auch die Epithese für den Geschlechtsverkehr sind im Hilfsmittelverzeichnis (Nr. 35.27.01.0001) gelistet. Dort wird ausgeführt, dass die Epithesen aus medizinischem Silikon individuell modelliert und im Einzelfall so gefertigt werden, dass die Möglichkeit besteht, mit den Epithesen zu urinieren und mit ihnen Geschlechtsverkehr zu haben. Zudem wird erläutert, dass die Epithese mit einem Hautkleber fixiert wird. Bei dem Hilfsmittel handelt es sich auch nicht um einen Alltagsgegenstand. Wie sich aus dem Hilfsmittelverzeichnis ergibt, besteht eine Indikation für das Hilfsmittel bei einer Frau-zu-Mann Transidentität und wird auch insbesondere dort eingesetzt.  

Die Hilfsmittelversorgung ist schließlich auch im Einzelfall erforderlich, also geeignet, notwendig und angemessen und entspricht damit dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V). 

Ein Hilfsmittel ist geeignet, wenn dadurch eines der in § 33 Abs. 1 S. 1 genannten Versorgungsziele wesentlich gefördert wird. Beurteilungsmaßstab hierfür ist der aktuelle, allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse (vgl. ausführlich     BSG, Urteil vom 15. März 2012 – B 3 KR 2/11 R – juris Rn. 21). Diese Voraussetzungen liegen vor. Denn im Rahmen der Behandlung der Transgeschlechtlichkeit muss die Hilfsmittelversorgung darauf gerichtet sein, den Leidensdruck der betroffenen Person dadurch zu lindern, dass das körperlich bestehende Geschlecht dem empfundenen Geschlecht deutlich angenähert wird. 

Der Kläger hat deutlich gemacht, dass er insbesondere leide, bislang keinen Geschlechtsverkehr mit der Epithese in seinem gelebten Geschlecht vollziehen zu können. Dies läge daran, dass er sich aufgrund eines unwohlen Gefühls nicht schaffe, sich seiner Freundin zu zeigen. Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Leidensdruck des Klägers durch eine Penis-Hoden-Epithese gemindert wird. Die beantragte Epithese ermöglicht es, den Geschlechtsverkehr im gelebten Geschlecht zu vollziehen. Zugleich ist das Hilfsmittel so konstruiert, dass die Klitoris stimuliert wird. Hinzu kommt auch, dass durch die Epithese das bestehende Geschlecht an das empfundene und gelebte Geschlecht angeglichen wird. Dies wird auch nicht bereits durch die anerkannte Epithese für den Alltag verwirklicht, da der Kläger insbesondere darunter leidet, dass er keinen Geschlechtsverkehr mit seiner langjährigen Partnerin vollziehen kann. 

Dies deckt sich letztlich auch mit den Ausführungen in der Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“:
„Penis-Hoden-Epithesen sind Penisnachbildungen aus Silikon, die einem     gewachsenen Penis sehr ähnlich sehen und sich auch beim Anfassen ähnlich anfühlen. Penis-Hoden-Epithesen werden individuell angefertigt und an die Hautfarbe, Körpergröße und Auflagefläche angepasst. Sie werden mit einem medizinischen Haftkleber befestigt. Die Epithesen können in erigierter und nicht erigierter Form hergestellt werden und ermöglichen so das Urinieren im Stehen, unbefangenes Umkleiden im Fitnessstudio oder sexuelle Aktivitäten mit steifem Penis. Dadurch können sie den Leidensdruck erheblich reduzieren.“

Es handelt sich deshalb um ein geeignetes Hilfsmittel, um den psychischen Leidensdruck zu lindern. 

Die beantragte Epithese ist auch zur Erreichung der Versorgungsziele des § 33 SGB V notwendig. Dies liegt vor, wenn das Hilfsmittel unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse zwangsläufig, unentbehrlich oder unvermeidlich ist. Es steht entgegen der Auffassung der Beklagten zur Überzeugung der Kammer fest, dass es derzeit nicht möglich ist, eine Epithese herzustellen, die sowohl für das Urinieren als auch für den Geschlechtsverkehr geeignet ist (so auch SG Hannover, Urteil vom 16. März 2022 – S 95 KR 1336/21). Es mag Alltagsgegenstände geben, die beide Funktionen abdecken. Dabei handelt es sich aber nicht um individuell angefertigte qualitativ-hochwertige Epithesen, die mit dem beantragten Hilfsmittel vergleichbar sind. Denn bei dieser Epithese handelt es sich um ein maßangefertigtes Produkt, die unter anderem über die beschriebene Kontaktstelle zur Stimulation verfügt. 

Deshalb ist auch eine kostengünstigere und mindestens gleichwertige Maßnahme nicht ersichtlich. Insbesondere kann der Kläger auch nicht auf eine genitalverändernde Operation verwiesen werden. Es handelt sich daher auch um eine verhältnismäßige Versorgung.  

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Penis-Hoden-Epithese nach Auffassung der Kammer nicht dem Behinderungsausgleich dient (a.A. SG Hamburg, Urteil vom 27.9.2019 – S 46 KR 1012/18). Unter einer Behinderung wird die Abweichung von der für das Lebensalter typischen körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit verstanden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt (vgl. auch § 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch). Darunter fallen im Rahmen des § 33 auch der Verlust oder das Nichtvorhandensein von Gliedmaßen oder sonstigen Körperteilen (BeckOGK/Nolte, 1.3.2021, SGB V § 33 Rn. 8). Gegenstand des Behinderungsausgleichs ist es in so einem Fall, die ausgefallenen oder beeinträchtigten Funktionen unmittelbar zu ersetzen (BeckOK SozR/Knispel, 67. Ed. 1.12.2022, SGB V § 33 Rn. 12). Vorliegend ist der Zweck der Versorgung mit einer Penis-Hoden-Epithese für den Geschlechtsverkehr aber nicht auf den Ersatz eines Körperteils oder Ausgleich eines funktionellen Funktionsdefizits gerichtet. Die Versorgung zielt vielmehr darauf ab, den psychischem Leidensdruck, der daraus erwächst, dass der Kläger mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren wurde, zu lindern (vgl. auch SG Hannover, Urteil vom 16. März 2022 – S 95 KR 1336/21). Dies knüpft letztlich auch an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an, die die Notwendigkeit der Behandlungsoptionen vor allem anhand des Ziels der Linderung des psychischen Leidensdrucks beurteilt haben. 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG
 

Rechtskraft
Aus
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