L 4 AS 586/21

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 7 AS 658/19
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 586/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ein Urteil, das in der Hauptsache ergeht, obwohl eine Klage nicht oder nicht mehr rechtshängig ist, ist nichtig und damit wirkungslos (vgl. BSG, B. v. 07.09.1998, B 2 U 10/98 R, juris RN 7).

2. Auch ein nichtiges Urteil kann formell rechtskräftig werden. Dagegen ist das Rechtsmittel (hier: Berufung) zulässig.

3. Bei Verfahren, die wegen eines nichtigen Urteils geführt werden, sind die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten nicht erstattungsfähig, wenn ein nichtiges Urteil tatsächlich gegeben ist. Eine analoge Anwendung von § 21 Abs 1 GKG findet nicht statt.

 

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 27. August 2021 wird aufgehoben.

 

Der Antragstellerin wird für das Berufungsverfahren ab dem 12. Mai 2022 ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Rechtsanwälte GmbH bewilligt.

 

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Die Antragstellerin und Berufungsklägerin (im Folgenden: Antragstellerin) wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau (SG).

 

Die Antragstellerin und ihr Ehemann beziehen als Bedarfsgemeinschaft vom Beklagten und Berufungsbeklagten (im Weiteren: Beklagter) ergänzende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Eheleute bewohnen gemeinsam ein Eigenheim mit einer Wohnfläche von ca. 100 m² in G., einem Stadtteil von J. Das Haus ist mit einer Ölzentralheizung ausgestattet, die auch Warmwasser bereitet. Der Ehemann der Antragstellerin erhielt eine befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

 

Auf den Fortzahlungsantrag der Antragstellerin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Mai 2019 zunächst vorläufige Leistungen nach dem SGB II für den Bewilligungszeitraum von Juni bis November 2019. Dagegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein.

 

Mit Bescheid vom 6. Juni 2019 setzte der Beklagte die Leistungen für den vorgenannten Bewilligungszeitraum endgültig fest. Er bewilligte monatliche Leistungen zwischen 333,54 € und 378,04 € für die zweiköpfige Bedarfsgemeinschaft. Auf den Gesamtbedarf, der sich aus dem Regelbedarf der Eheleute und den wechselnden Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) zusammensetzte, rechnete er die Rente des Ehemanns, bereinigt um die Versicherungspauschale, als Einkommen an. Auch gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2019 als unzulässig verwarf. Der Bescheid vom 6. Juni 2019 ändere den Bescheid vom 14. Mai 2019 ab und sei daher gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens.

 

Am 28. Juni 2019 hat die Antragstellerin beim SG einen (isolierten) Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt und ausgeführt: Die Rechtsverfolgung habe hinreichende Aussicht auf Erfolg und sei nicht mutwillig. Eine weitere Begründung könne erst erfolgen, wenn der Beklagte im noch laufenden Widerspruchsverfahren gegen den Ausgangsbescheid entschieden habe.

 

Nach Erlass des (zurückweisenden) Widerspruchsbescheids vom 11. Juli 2019 durch den Beklagten hat die Antragstellerin am 19. Juli 2019 beim SG „beantragt“, den „Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2019 an den bereits bestehenden Antrag auf PKH vom 25.06.2019 … anzugliedern“, da es um denselben Bewilligungszeitraum gehe. Die Bescheide des Beklagten für den Bewilligungszeitraum seien rechtswidrig: Ihr Ehemann beziehe keine SGB II-Leistungen, denn er habe diese nie beantragt. Seine Erwerbsminderungsrente dürfe bei der Berechnung ihres Leistungsanspruchs nicht berücksichtigt werden. Bei den KdUH seien die Zahlungen zur Finanzierung des Eigenheims (Zinsen und Tilgung) zu berücksichtigen. Leistungen für die Bevorratung mit Heizöl seien im Voraus zu erbringen. Ein Mehrbedarf für die Warmwasserbereitung sei nicht bewilligt worden. Entgegen der Regelung im § 41 SGB II sei eine Leistungsbewilligung nur für einen sechsmonatigen Bewilligungszeitraum erfolgt.

 

Der Beklagte hat schriftsätzlich ausgeführt, die Klage sei abzuweisen, denn die Leistungsbewilligung sei rechtmäßig.

 

Mit Schreiben vom 6. September 2019 hat die Antragstellerin um eine umgehende Bearbeitung ihres PKH-Antrags gebeten. Mit Schreiben vom 10. April 2021 hat sie auf die vom SG mitgeteilte Absicht der Durchführung eines Erörterungstermins erwidert, es handele sich nur um einen PKH-Antrag, sodass kein Termin erforderlich sei.

 

Die Frage des SG vom 29. Juni 2021, ob Einverständnis mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung bestehe, haben der Beklagte (mit Schriftsatz vom 2. Juli 2021) und die Antragstellerin (mit Schriftsatz vom 3. Juli 2021) bejaht. Letztere hat erneut darauf hingewiesen, sie habe bisher nur einen Antrag auf PKH gestellt.

 

Mit Urteil vom 27. August 2021 hat das SG „die Klage“ abgewiesen und den Antrag auf PKH abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die anhängige und zulässige Klage gegen den endgültigen Festsetzungsbescheid vom 6. Juni 2019 sei unbegründet. Denn der Beklagte habe den Bedarf und das Einkommen der Antragstellerin und ihres Ehemanns zutreffend berechnet und dementsprechend SGB II-Leistungen bewilligt.

 

Gegen das ihr am 30. September 2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. Oktober 2021 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt: Da sie noch keine Klage erhoben habe, habe das SG nicht über eine „Klage“ entscheiden können. Es hätte erst den Antrag auf PKH bescheiden müssen. Die Ablehnung des PKH-Antrags sei rechtsfehlerhaft. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung habe hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zu Unrecht seien ihr keine Leistungen für die Heizkosten bewilligt worden. Die Aufwendungen für die Eigenheimfinanzierung (Tilgung und Schuldzinsen) seien nicht berücksichtigt worden.

 

Daraufhin sind beim Landessozialgericht eine Berufung (Az.: L 4 AS 586/21) und eine PKH-Beschwerde (Az.: L 4 AS 587/21 B) eingetragen worden.

 

Mit Schreiben vom 23. November 2021 hat die Berichterstatterin die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Urteil des SG um ein nichtiges Urteil, ein sog. Nichturteil handle, das keine materielle Rechtskraft entfalte, aber der formellen Rechtskraft fähig sei. Die Berufung sei zulässig, um den vom Urteil gesetzten Rechtsschein zu beseitigen. Das Urteil sei aufzuheben, denn beim SG sei keine Klage anhängig gewesen.

 

Auf die Frage der Berichterstatterin vom 23. Dezember 2021 haben sich die Antragstellerin (mit Schreiben vom 30. Dezember 2021) und der Beklagte (mit Schriftsatz vom 13. Januar 2022) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Am 12. Mai 2022 hat die Antragstellerin – anwaltlich vertreten – die Bewilligung von PKH für das Berufungsverfahren beantragt.

 

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 27. August 2021 aufzuheben.

 

Der Beklagte hat keinen eigenen Antrag angekündigt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung des Senats gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe:

 

Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG).

 

Die Berufung ist zulässig. Sie hat insbesondere nicht der Zulassung im Urteil des SG gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGG bedurft. Denn der Wert des Beschwerdegegenstands bei der (beabsichtigten) Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, übersteigt den Beschwerdewert von 750 €. Allein die von der Antragstellerin beabsichtigte Geltendmachung von Heizkosten (insoweit begehrt sie nach Kenntnis des Senats regelmäßig Leistungen zur Beschaffung von 4.000 l Heizöl) im künftigen Klageverfahren überschreitet – unabhängig vom weiteren SGB II-Leistungsbegehren – die Beschwerdewertgrenze.

 

Die Berufung ist auch begründet. Denn das Urteil des SG vom 27. August 2021 ist nichtig.

 

Gemäß § 123 SGG wird über eine Klage, soweit nichts Anderes bestimmt ist, durch Urteil entschieden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass ein Urteil zwingend ein rechtshängiges Klageverfahren voraussetzt. Im vorliegenden Fall war indes im Zeitpunkt der Entscheidung des SG durch Urteil ein Klageverfahren der Antragstellerin (noch) nicht anhängig. Denn die Antragstellerin hatte mit ihrem Schriftsatz vom 25. Juni 2019 nur einen isolierten Antrag auf PKH für ein beabsichtigtes Klageverfahren gestellt. Nur über diesen hätte das SG entscheiden dürfen.

 

Ein Urteil, das in der Hauptsache ergeht, obwohl ein Klageverfahren nicht mehr oder noch nicht rechtshängig ist, ist nichtig und damit wirkungslos (vgl. BSG, Beschluss vom 07.09.1998, B 2 U 10/98 R, juris RN 7; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 125 RN 5a, b). Ein sog. Nicht- oder Scheinurteil kann nicht in materieller Rechtskraft erwachsen. Gleichwohl ist es formeller Rechtskraft fähig. Um aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit den fehlerhaften äußeren Schein einer wirksamen gerichtlichen Entscheidung zu beseitigen, ist gegen ein solches Nichturteil die Einlegung des bei einer wirksamen Entscheidung statthaften Rechtsmittels, hier der Berufung, zulässig, (vgl. BGH, Urteil vom 3. November 1994, LwZ B 5/94, NJW 1995 S. 404; BSG, Urteil vom 17. September 2020, B 4 AS 13/20 R, juris RN 18 m. weit. Nachw.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29. April 2008, L 4 R 23/07, juris RN 18).

 

Das Urteil des SG vom 27. August 2021 war antragsgemäß aufzuheben. Einer Zurückverweisung an das SG bedurfte es vorliegend nicht, da – wie ausgeführt – keine Klage rechtshängig war.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens und insbesondere den Umstand, dass der Beklagte weder für das erstinstanzliche Urteil noch für das Berufungsverfahren verantwortlich ist.

 

Die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten können nicht im Wege einer analogen Anwendung von § 21 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) der Staatskasse auferlegt werden, wie das zum Teil in der Rechtsprechung vertreten wird (vgl. Sächs. LSG, Urteil vom 15. Januar 2015, L 3 AS 861/14, juris RN 20 m. weit. Nachw.; ihm folgend: LSG Thüringen, Beschluss vom 19. Juni 2016, L 6 KR 896/16 B ER, juris RN 14). Denn § 21 GKG bezieht sich ausdrücklich nur auf die Gerichtskosten, d.h. Gerichtsgebühren und Auslagen, aber nicht auf die Aufwendungen der Verfahrensbeteiligten (vgl. Toussaint: Kostenrecht, 51. Aufl. 2021, § 21 GKG RN 2). Danach werden im Fall einer unrichtigen Sachbehandlung durch das Gericht Gerichtskosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht angefallen wärden, nicht erhoben und können durch die Staatskasse nicht bei den Beteiligten liquidiert werden. Eine darüber hinaus gehende Regelung zugunsten der (außergerichtlichen) Aufwendungen der Beteiligten, um die es in gerichtskostenfreien Verfahren – wie hier – allein geht, trifft § 21 GKG nicht, sodass eine analoge Anwendung der Vorschrift bereits mangels vergleichbarer Ausgangssituation ausscheidet.

 

Eine § 21 GKG ähnliche Regelung trifft für das sozialgerichtliche Verfahren § 190 SGG, der eine Niederschlagung der Pauschgebühr (durch den Präsidenten des Gerichts) ermöglicht, wenn diese durch unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld der gebührenpflichtigen Beteiligten entstanden ist. Aber auch diese Vorschrift betrifft allein „Gerichtsgebühren“ und nicht die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt: SGG, 13. Aufl. 2020, § 190 RN 2).

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

 

Der Antragstellerin war ab Eingang ihres Antrags am 12. Mai 2022 für das Berufungsverfahren PKH unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten zu bewilligen. Die Rechtsverfolgung hat aus den oben dargelegten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit den §§ 114ff. Zivilprozessordnung). Die wirtschaftlichen Voraussetzungen liegen vor.

 

Rechtskraft
Aus
Saved