S 18 KR 642/22 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KR 642/22 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 9 KR 231/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Dem Anspruch des Antragstellers gegen seine Krankenversicherung auf Bewilligung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme im Zeitraum der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtmG steht kein Ruhenstatbestand gemäß § 16 Abs. 1 Nr.4 SGB V entgegen.

  1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung über den Bescheid vom 12.07.2022 eine Zusage zur Übernahme der Kosten einer stationären Rehabilitationsmaßnahme zur Behandlung einer Drogenabhängigkeit mit Regeltherapiedauer 24/26 Wochen in der S-Klinik B.... – Fachklinik für Suchterkrankungen.... - zu erteilen, die für den Fall der Zurückstellung der Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichtes B.... vom …, AZ … durchgeführt wird.
  2. Die Antragsgegnerin erstattet die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

  

Gründe:

 

I.

 

Der am … geborene Antragsteller befindet sich ausweislich des vorliegenden Vollstreckungsblattes (Bl. 15 der Gerichtsakte, GA) seit 01.07.2021 in der JVA A.... im Strafvollzug und ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert.

Zuletzt wurde er durch Urteil des Amtsgerichtes B.... vom , AZ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten sowie zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt (Bl. 16 ff. GA). Zu den persönlichen Gründen ist in dem Urteil vermerkt, dass der Antragsteller seit seinem 18. Lebensjahr regelmäßig Drogen konsumiert, zunächst Cannabis, später auch Crystal und GBL. Die zur Aburteilung anstehenden Taten stünden in Zusammenhang mit der festgestellten Betäubungsmittelabhängigkeit (Bl. 17 GA).

Das Urteil wird in Bezug auf die Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten seit 21.12.2021 vollstreckt. Außer der Strafvollstreckung aus dem benannten Urteil steht noch eine weitere Strafvollstreckung an aus einem Urteil des Amtsgerichtes C vom … mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten an, von denen allerdings nur noch eine Rest-Gesamt-Freiheitsstrafe von 398 Tagen zu verbüßen ist (Bl. 15 GA).

Am 24.05.2022 beantragte der Antragsteller bei der Deutschen Rentenversicherung stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Hinblick auf seine Drogenabhängigkeit (Bl. 5 der Verwaltungsakte, VA). Dem Antrag lagen u.a. der ärztliche Befundbericht des behandelnden Arztes Dipl-med Z., der die Belastbarkeit des Antragstellers für die Rehabilitationsmaßnahme bejaht, der Sozialbericht und der handschriftliche Lebenslauf/Suchtverlauf des Antragstellers bei (Bl. 5ff. VA). Vorgelegt wurde auch die Bescheinigung der Justizvollzugsanstalt zur hier vorliegenden Möglichkeit der Zurückstellung nach § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) (Bl. 40 VA).

Die Deutsche Rentenversicherung verneinte die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 11 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) und leitete den Antrag nach § 14 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) an die Antragsgegnerin weiter.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag durch Bescheid vom 12.07.2022 mit folgender Begründung ab:

"Sie befinden sich derzeit im Vollzug einer Haftstrafe und haben Anspruch auf Heilbehandlung gemäß § 48 SGB XII, analog § 57 StVollzG. Entsprechend des Urteils des Bundessozialgerichts vom 05.08.2021 bleiben Sie auch bei einer möglichen Zurückstellung nach § 35 BtMG weiterhin im Vollzug einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung.

Während dieser Zeit ruhen die Leistungsansprüche gegen eine gesetzliche Krankenkasse. Somit kann die AOK PLUS keine Leistungen zur Entwöhnungsbehandlung für Sie übernehmen."

 

Gegen diesen Bescheid legte der Antragsteller mit Schreiben vom 25.07.2022 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden wurde.

 

Mit Eingang am 04.08.2022 beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Zusage zur Übernahme der Kosten der beantragten Rehabilitationsmaßnahme für den Fall der Zurückstellung der Strafvollstreckung.

 

Der Antragsteller führt aus,

es träfe nicht zu, dass die Leistungsansprüche gegen die gesetzliche Krankenkasse während der Rehabilitationsmaßnahme ruhten.

Denn er befinde sich bei einer Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG gerade nicht im Vollzug einer Freiheitsstrafe und auch nicht in einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung. Er habe auch keinen anderweitigen Anspruch auf Gesundheitsfürsorge in diesem Zeitraum.

 

Die Antragsgegnerin beantragt,

 

den Antrag abzulehnen.

 

Die Antragsgegnerin stützt sich weiterhin auf das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 05.08.2021, B 4 AS 58/20, und erwidert, die Kostenübernahmeverpflichtung des Freistaates Sachsen, den sie in der Pflicht sähe, ergebe sich zwar nicht aus § 57 Strafvollzugsgesetz (StVollzG), aber aus § 58 StVollzG (Bl. 27 RS GA).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte (46 Blatt) verwiesen.

 

II.

 

Dem zulässigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist stattzugeben.

 

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Der Antrag ist bereits vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 3 SGG).

 

Für eine einstweilige Anordnung sind nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung Tatsachen für einen Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft zu machen. Für das Bestehen eines Anordnungsanspruches ist die Darlegung und Glaubhaftmachung von Tatsachen erforderlich, aus denen sich ein materiell-rechtlicher Anspruch ergibt. Der Anordnungsgrund erfordert das Bestehen einer besonderen Dringlichkeit. Die vorläufige Regelung muss „zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig“ erscheinen. Entscheidend ist hierfür vor allem, ob es dem einstweiligen Rechtsschutz Begehrenden zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10.09.2009 – L 7 AS 414/09 B ER – dokumentiert bei Juris). Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung des effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – dokumentiert bei Juris).

 

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Anordnungsanspruch:

Der Anspruch des Antragstellers gegen die Antragsgegnerin ergibt sich aus § 40 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SBG V), nachdem im vorliegenden Fall die Eintrittspflicht des Rentenversicherungsträgers wegen Fehlens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zu verneinen war.

Die S-Klinik., Fachklinik für Suchterkrankungen, ist Vertragspartnerin der Antragsgegnerin gemäß § 40 Abs. 2 SGB V (Bl.42 GA), auch die weiteren Voraussetzungen, die in Anbetracht der im Urteil des Amtsgerichtes B.... vom geschilderten "Drogenkarriere" und der geschilderten glaubhaften Motivation des Antragstellers zur Umkehr sowie in Kenntnis der Anlagen zum Antrag vom 24.05.2022 auch durch die Antragsgegnerin nicht in Abrede gestellt werden, sind hinreichend glaubhaft gemacht.

Einem Anspruch gegen die Antragsgegnerin steht auch kein Ruhenstatbestand gemäß § 16 SGB V entgegen.

Einem Anspruch des Antragstellers gegen seine Krankenversicherung auf Bewilligung der Rehabilitationsmaßnahme stünde dann § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V entgegen, wenn gegen ihn im Zeitraum der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen würde und er als Gefangener in diesem Umfang Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz hätte oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhielte.

Die Voraussetzungen dieses Ruhenstatbestandes sind umfassend nicht gegeben.

Zum einen liegt keine Maßregel der Besserung und Sicherung vor. Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB) ist zwar eine freiheitsentziehende Maßregel. Eine solche gerichtliche Anordnung liegt jedoch nicht vor und hätte auch den sich aus dem Strafurteil ergebenden Anreiz des Antragstellers, sich eigeninitiativ aus der aktuellen Situation zu arbeiten konterkariert.

Auch liegt während des Zeitraumes der Zurückstellung der Strafvollstreckung kein fortdauernder Vollzug einer Freiheitsstrafe vor. Hiergegen sprechen bereits ohne weiteres die Bedingungen eines solchen Aufenthaltes. Die S-Klinik ist kein Haftkrankenhaus, sondern eine Fachklinik für Suchterkrankung, in der alle spezifisch Erkrankten, unter ihnen auch verurteilte Straftäter behandelt werden können.

Auch das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 05.08.2021 steht dem nicht entgegen.

Zwar schließt diese Entscheidung den dortigen Kläger über § 7 Abs. 4 Satz 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) von dem Bezug von Grundsicherungsleistungen mit der Begründung aus, er befinde sich während des Zurückstellungszeitraumes nach § 35 BtMG, also während des Klinikaufenthaltes weiterhin in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung (BSG, Urteil vom 05.08.2021, B 4 AS 58/20 Euro, Rz. 21, zitiert nach juris). Diese Entscheidung hat jedoch ersichtlich keine über den Bereich des Grundsicherungsrechtes hinausgehende Bedeutung, schon gar nicht führt sie dazu, dass Rentenversicherungs- und Krankenversicherungsträger unter Berufung auf diese Entscheidung aus der Leistungsverantwortung entlassen werden.

Das Bundessozialgericht hatte sich in der zitierten Entscheidung mit der Frage zu beschäftigen, ob der Kläger, der zur Durchführung einer bewilligten stationären Entwöhnungstherapie für eine Dauer von 20 Wochen (also weniger als sechs Monaten, dazu § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II) von der Justizvollzugsanstalt in die Fachklinik entlassen worden war, Eingliederungshilfe und den zuerkannten notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 27 b des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) beanspruchen konnte oder Eingliederungshilfe und Grundsicherungsleistungen, beziehungsweise ob die auflösend bedingte Bewilligung des monatlichen Barbetrages wegen eines durchsetzbaren Anspruch auf Grundsicherungsleistungen entfiele.

In dieser Konstellation stellte das Bundessozialgericht auf der Grundlage des § 7 Abs. 4 SGB II eine klare Trennung zwischen dem Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfeträger auf der einen Seite und der Grundsicherungsträger auf der anderen Seite fest und stellte klar, dass dem Kläger der Barbetrag nach Sozialhilferecht zukomme und keine Grundsicherungsleistungen. Eine Vermengung der Zuständigkeiten durch einen Anspruch des Klägers gegenüber dem Grundsicherungsträger scheide mithin aus. Die Zuordnung zum Sozialhilferecht müsse deshalb erfolgen, weil der Zweck der Zurückstellung von der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG regelmäßig ausschließlich die Behandlung einer Abhängigkeit sei. Dies schließe in der Regel eine Erwerbstätigkeit aus, was dem Sozialhilferecht näher sei als dem Grundsicherungsrecht (BSG, a.a.O., Rz. 33, zitiert nach juris).

Die Pflicht der Renten- bzw. Krankenversicherungsträger zur Kostenübernahme bei Rehabilitationsmaßnahmen berührt die Entscheidung nicht. Hätte das Bundessozialgericht eine komplette Kehrtwende in der Finanzierung der Maßnahmen statuieren wollen, wozu nach Auffassung des Gerichtes keine Anhaltspunkte bestehen und überdies Konfliktpotential unter Beachtung der Gewaltenteilung böte, wäre mit Ausführungen zu rechnen gewesen, welcher Kostenträger dann einzutreten hätte. Hierzu fehlen indes aus guten Grund Hinweise. Die Ansicht der Antragsgegnerin, dass nunmehr die Leistungsansprüche versicherter Inhaftierter bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG ruhen, trägt mithin nicht.

Abgesehen davon hat der Antragsteller auch keinen Anspruch auf die beantragte Rehabilitationsmaßnahme nach § 58 Satz 2 Nr. 4 Strafvollzugsgesetz (StVollzG). Die Vorschrift wurde nach Übergang des Strafvollzuges in die Gesetzgebungskompetenz der Länder nicht übernommen, Art. 125 a Grundgesetz, § 111 des Sächsischen Strafvollzugsgesetzes.

Anordnungsgrund:

Der vom Antragsteller aus der Ablehnung seines Antrages zu befürchtende Nachteil besteht darin, dass er ohne eine Zusage zur Gewährung der Therapie entgegen der Möglichkeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG im Vollzug bleiben muss. Dieser Nachteil ist im Sinne des § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wesentlich und aktuell, weil die Eingangsvoraussetzungen von § 35 Abs. 3 Satz 2 BtMG vorliegen (so überzeugend in einem ähnlich gelagerten Fall zur Eilbedürftigkeit Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 30.03.2015, L 6 KR 71/14 B ER, Rz. 24, zitiert nach juris). Die Möglichkeit der Zurückstellung nach § 35 BtMG wurde dem Antragsteller bereits am 24.05.2022 bescheinigt (Bl. 40 VA). Überdies wurde sie auch durch das vorgelegte Vollstreckungsblatt ( Bl. 15 GA) glaubhaft gemacht.

Gemäß § 35 Abs. 3 Nr. 2 BtMG kann eine Zurückstellung der Strafvollstreckung erfolgen, wenn auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt. Dies ist der Fall. Auch liegen keine die Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG hindernde weitere Strafvollstreckungen vor. Denn sind neben einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe in anderen nicht gesamtstrafenfähigen Betäubungsmittelsachen Restfreiheitsstrafen zu vollstrecken, so besteht kein dauerhaftes Vollstreckungshindernis, wenn jeder einzelne Strafrest gemäß § 35 BtMG zurückgestellt werden kann, auch wenn die Summe der Strafzeiten – wie hier – 2 Jahre übersteigt (so Fabricius in Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz, 10. Auflage 2022, Rz. 285, zitiert nach Beck-Online).

 

Damit war dem Antrag stattzugeben.

 

III.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Rechtskraft
Aus
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