L 32 AS 505/22 NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 27 AS 696/20
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 505/22 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Voraussetzung für eine statthafte Nichtzulassungsbeschwerde ist allein, dass das SG von einer nicht statthaften Berufung ausgegangen ist und dieses Rechtsmittel nicht zugelassen hat.

Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde kann eine rechtlich unzutreffende (Entscheidung über die) Nichtzulassung der Berufung isoliert aufgehoben werden. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wird in diesem Fall nicht automatisch als Berufungsverfahren fortgeführt.

Für einen Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Kosten wegen unrichtiger Sachbehandlung durch ein Gericht gibt es keine Rechtsgrundlage.

 

Auf die Beschwerde der Klägerinnen wird die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2022 aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

 

 

 

 

Gründe

 

Die von den Klägern gegen das Urteil des SG Cottbus vom 5. April 2022 eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde führt zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Entscheidung.

Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Das gilt gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Nichtzulassung der Berufung durch das SG durch Beschwerde angefochten werden.

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, im Besonderen statthaft. Voraussetzung ist insoweit allein, dass das SG von einer nicht statthaften Berufung ausgegangen war und dieses Rechtsmittel nicht zugelassen hat.

Ob diese Rechtsauffassung zutrifft, ist für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels ohne Belang. Verfahrensbeteiligte, die das in einer Rechtsmittelbelehrung als gegeben bezeichnete Rechtsmittel einlegen, haben ein berechtigtes Interesse daran, dass das angerufene Gericht, welches sich allein über die Zulässigkeit eines bei ihm eingelegten Rechtsmittel äußern kann, darüber eine verbindliche Entscheidung trifft.

Würde angenommen, dass im Rahmen der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde kein isolierter Ausspruch über die Rechtmäßigkeit der Nichtzulassung der Berufung möglich wäre, vielmehr - alle weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen wie Form und Frist (§ 145 Abs. 1 Satz 2 SGG) unterstellt - nur die Verwerfung als unzulässig bei objektiv gegebener „Berufungsfähigkeit" oder eine Sachentscheidung über die Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 SGG in Betracht käme, bliebe eine Rechtsschutzlücke. Diese durch ein gesetzlich nicht geregeltes Rechtsmittel außerhalb der Nichtzulassungsbeschwerde zu schließen, widerspräche dem Prinzip der Rechtsmittelklarheit. Es verlangt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für Rechtsmittel genau definiert und so ausgelegt werden, dass sie nicht ineffektiv werden (dazu stellvertretend BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Oktober 2015 - 2 BvR 3071/14 -, Rn 12 m.w.Nachw.).

Der Wortlaut des § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG lässt die Auslegung zu, dass im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde - als „Minus“ zu der vorrangig mit dem Rechtsmittel beabsichtigten Zulassung der Berufung - eine rechtlich unzutreffende (Entscheidung über die) Nichtzulassung der Berufung auch deshalb aufgehoben werden kann, weil das SG wegen kraft Gesetzes gegebener Statthaftigkeit der Berufung zu solch einer Entscheidung gar nicht befugt war. Für eine Aufspaltung in das gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde und einen gesetzlich nicht geregelten Rechtsbehelf, der allein dem Zweck dient, die Nichtzulassung der Berufung in der erstinstanzlichen Entscheidung zu beseitigen, gibt es keinen Grund (s. im gleichen Sinn unter anderem den veröffentlichten Beschluss des mit dem 32. Senat personenidentischen 22. Senats vom 19. November 2015 - L 22 R 744/11 NZB -).

Das Rechtsmittel der Kläger ist jedoch nur insofern begründet, als die Nichtzulassung der Berufung aufzuheben war. Entgegen den Ausführungen des SG und der Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Urteil war die Berufung jedenfalls gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kraft Gesetzes zulässig.

Auf eine Geldleistung gerichtet sind auch solche Verwaltungsakte, durch die wie im vorliegenden Fall Erstattungsforderungen festgesetzt werden (unbestritten, s. stellvertretend BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 10/20 R –, Rn 18).

Der Schwellenwert von 750,-- Euro für eine gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsfreie Berufung wird überschritten. Die angefochtenen Bescheide vom 28. Juli 2014, 22. November 2014 und 24. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 2020 treffen Regelungen gegenüber allen vier Klägern. Die Bescheide vom 24. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. März 2020 ändern bezüglich aller die vorangegangenen Leistungsbewilligungen unter anderem für die Monate Dezember 2014 und Januar 2015 bei einem insgesamt die Monate August 2014 bis Januar 2015 umfassenden Bewilligungszeitraum (weshalb von daher die Voraussetzungen für eine Zulässigkeit nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht vorliegen) und setzen wegen der Änderungen gegen die Klägerin zu 1) eine Erstattungsforderung in Höhe von 310,21 Euro, gegenüber dem Kläger zu 2) in Höhe von 504,03 Euro, gegenüber dem Kläger zu 3) in Höhe von 209,70 und gegenüber dem Kläger zu 4) in Höhe von 175,09 Euro, insgesamt 1.099,03 Euro fest (im Hinweisschreiben vom 2. Februar 2023 war die Teilabhilfe durch den Widerspruchsbescheid versehentlich nicht berücksichtigt worden).

Die Beträge sind zur Ermittlung des Schwellenwerts zusammenzurechnen, der somit erkennbar überschritten wird (das SG hat in dem angefochtenen Urteil möglicherweise irrtümlich überhaupt nur für den für den Kläger zu 4) in dem ihn betreffenden Bescheid vom 24. September 2015 allein ausgewiesenen Betrag von 695,89 Euro berücksichtigt).

Zwar bleiben Leistungsansprüche von Personen, die wie die Kläger eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II bilden, deren Individualansprüche (s. stellvertretend BSG, Urteil vom 28. November 2018 - B 4 AS 46/17 R -, Rn 33 mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 8/06 R –). Sie müssen deshalb von jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft individuell verfolgt werden und können etwa auch dazu führen, dass für Klagen verschiedener Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft unterschiedliche SG örtlich zuständig werden (s. BSG, Beschlüsse vom 3. Mai 2017 - B 4 SF 3/17 S - und vom 27. Mai 2021 - B 11 SF 8/21 S -). Mehrere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft können gegen einen sie alle betreffenden Verwaltungsakt jedoch rechtlich statthaft gemeinsam klagen. Im Fall dieser sogenannten subjektiven Klagehäufung (§ 74 SGG i.V. mit § 60 ZPO) sind die Werte der mit der Klage geltend gemachten Rechte jedenfalls dann gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V. mit § 5 ZPO zu addieren, wenn über sie wie im vorliegenden Fall durch einen einheitlichen Bescheid entschieden worden ist (so ausdrücklich für den Fall von Erstattungen BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 10/20 R –, Rn 18 m.w.Nachw.; für Leistungsklagen BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 9/20 R –,Rn 15; im gleichen Sinn bereits LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. März 2006 - L 8 AS 4314/05 -, in „Juris“ Rn 18).

Die Klage war ohne ausdrückliche oder dem Vortrag der Klägerseite zu entnehmende Einschränkungen gegen die genannten Bescheide erhoben worden. Dem Schriftsatz des Bevollmächtigten der Kläger vom 31. August 2021 ist im Gegenteil zu entnehmen, dass sie die Erstattungsforderungen in vollem Umfang als unberechtigt ansehen. Von daher ergibt sich folglich keine Einschränkung der möglichen Beschwer durch das angefochtene Urteil.

Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wird nicht automatisch als Berufungsverfahren fortgeführt (s. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Mai 2007 - L 9 KR 205/04 NZB -, in „Juris“ Rn 6). Die Umdeutung eines eindeutig eingelegten, aber rechtlich unzulässigen in das rechtlich zulässige Rechtsmittel ist ausgeschlossen. Die Folgen einer unzutreffenden Belehrung über das statthafte Rechtsmittel richten sich ausschließlich nach der diesen Fall regelnden Vorschrift des § 66 Abs. 2 SGG (s. BSG, Beschluss vom 20. Mai 2003 - B 1 KR 25/01 R -, in „Juris“ Rn 18ff). § 145 Abs. 5 Satz 1 SGG, der die Fortführung des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde als Berufungsverfahren für den Fall vorsieht, dass die Berufung zugelassen worden ist, ist mangels einer planwidrigen Regelungslücke nicht entsprechend anwendbar (s. dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. November 2007 - L 15 B 174/07 SO NZB -, in „Juris“ Rn 5). Die Kläger haben nach dem Hinweisschreiben des Senats vom 2. Februar 2023, in dem auf die mögliche Zulässigkeit der Berufung kraft Gesetzes hingewiesen worden war, jedoch bereits gesondert Berufung gegen das Urteil des SG vom 6. Juli 2022 eingelegt (Az. L 32 AS 117/23).

Außergerichtliche Kosten für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht gemäß § 193 SGG zu erstatten, weil dieses Rechtsmittel erfolglos bleibt und auch nicht vom Beklagten veranlasst worden ist. Für einen Anspruch auf Kostenerstattung wegen unrichtiger Sachbehandlung durch ein Gericht gibt es keine Rechtsgrundlage (s. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Mai 2007 a.a.O. Rn 7).

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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