L 1 KR 71/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 15 KR 306/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 71/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 39/22 B
Datum
Kategorie
Urteil


Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 14. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen. 


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR). 

Die 1950 geborene Klägerin hat zwei Kinder und war zuletzt ab dem Jahr 2001 gesetzlich krankenversichert. Auf ihren Antrag auf Altersrente ab dem 25.07.2013 informierte die Beklagte sie mit Schreiben vom 29.07.2013 darüber, dass sie die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in der KVdR nicht erfülle und es bei einer freiwilligen Versicherung verbleibe.

Mit Schreiben vom 07.08.2017 beantragte die Klägerin die Aufnahme in die KVdR.

Mit Bescheid vom 18.08.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Es fehle - auch unter Berücksichtigung der beiden Kinder - an den notwendigen Vorversicherungszeiten. 

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und führte zur Begründung aus, dass die zweite Hälfte ihres Berufslebens am 01.01.2001 beginne und sie unter Berücksichtigung der beiden Kinder die Vorversicherungszeiten erfülle. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Am 24.07.2018 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Erneut hat sie darauf verwiesen, dass sie die Vorversicherungszeiten für die Aufnahme in die KVdR erfülle. Sie sei nach der Geburt ihrer Kinder gezwungen gewesen, die gesetzliche Krankenversicherung zu verlassen.

Mit Gerichtsbescheid vom 14.12.2021 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V (i.d.F. vom 04.04.2017) seien Personen versicherungspflichtig, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllten und diese Rente beantragt hätten, wenn sie seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder nach § 10 versichert gewesen seien. Die Rahmenfrist des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V umfasse das gesamte Erwerbsleben von der erstmaligen Aufnahme einer entgeltlichen Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit bis zum Rentenantrag. Der Tag der Aufnahme der Erwerbstätigkeit sei mitzurechnen. Der Tag der Rentenantragstellung bleibe unberücksichtigt (Krauskopf/Vossen, 110. EL März 2021, SGB V § 5 Rn. 69). Dieser Tag sei für das Ende der Rahmenfrist auch dann maßgebend, wenn über den Zeitpunkt der Rentenantragstellung hinaus eine nach § 5 Abs. 8 SGB V vorrangige Versicherung bestanden habe, zwischen Rentenantragstellung und Rentenbeginn weitere anrechenbare Versicherungszeiten in Form einer Pflichtversicherung wegen abhängiger Beschäftigung zurückgelegt würden und daher Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V erst zu einem späteren Zeitpunkt eintrete (BSG, Urteil vom 04.06.2009 – B 12 KR 26/07 R). Es komme daher nicht darauf an, ob die Klägerin nach Rentenantragstellung noch einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Die Voraussetzungen dieser sog. 9/10-Belegung erfülle die Klägerin nicht. In der maßgeblichen Rahmenfrist vom 01.04.1966 (erstmalige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) bis zum 24.07.2013 (Tag vor Rentenantragstellung) sei die Klägerin nicht zu 9/10 des Zeitraums (= 21 Jahre, 7 Monate und 14 Tage von rund 23 Jahren) der zweiten Hälfte des Zeitraums (= 29.11.1989 bis 27.07.2013) gesetzlich krankenversichert gewesen. Vielmehr sei sie lediglich in der Zeit vom 01.01.2001 bis zum 25.07.2013, also 12 Jahre, 6 Monate, 25 Tage, gesetzlich krankenversichert gewesen. Für die Klägerin ließe sich daher nur dann etwas Anderes herleiten, wenn sie von der zum 01.08.2017 (durch Gesetz vom 04.04.2017, BGBl. I, S. 778) eingeführten Regelung des § 5 Abs. 2 S. 3 SGB V profitiere: Nach dieser Regelung werde auf die nach Abs. 1 Nr. 11 erforderliche Mitgliedszeit für jedes Kind, Stiefkind oder Pflegekind (§ 56 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - SGB I -) pauschal eine Zeit von drei Jahren angerechnet. Bei Bestandsfällen, in denen der Rentenantrag, wie hier bereits vor dem 01.08.2017, gestellt worden sei, bzw. bereits Rente bezogen werde, werde davon ausgegangen, dass die Versicherungspflicht auch erst zum 01.08.2017 eintrete, jedoch auf die ursprüngliche zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung maßgebliche Rahmenfrist abzustellen sei (LSG für das Land NRW, Urteil vom 09.05.2019 - L 5 KR 658/18).

Zu den guten zwölf Jahren, in denen die Klägerin pflichtversichert oder freiwillig versichert gewesen sei, kämen aufgrund der Kindererziehungszeiten für zwei Kinder weitere sechs Jahre hinzu. Die Klägerin sei daher in der zweiten Hälfte ihrer Erwerbstätigkeit 18 Jahre, 3 Monate und 25 Tage bei einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert gewesen und erfülle die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB mithin nicht. Anhaltspunkte für den von der Klägerin angegebenen Zwang zum Wechsel in die private Krankenversicherung nach der Geburt des ersten Kindes lägen nicht vor. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG sei nicht erkennbar.

Die Klägerin hat gegen den ihr am 21.12.2021 zugestellten Gerichtsbescheid am 10.01.2022 vor dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt und zur Begründung ihren bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft. Sie sei nach der Geburt der beiden Kinder gezwungen gewesen, die gesetzliche Krankenversicherung aufgrund der Aufgabe der beruflichen Tätigkeit zugunsten der beiden Kinder und des Haushaltes zu verlassen. Einen entsprechenden Nachweis, der belege, dass sie keine andere Wahl gehabt habe, als damals von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung zu wechseln, könne sie nicht vorzulegen. Sie habe die Solidargemeinschaft in ausreichender Weise unterstützt und sei insbesondere als beihilfeberücksichtigungsfähiges Familienmitglied zu keinem Zeitpunkt selbst versicherungsfrei gewesen. Es verstoße gegen Art. 3 GG, wenn die Entscheidung über die Mitgliedschaft in der GKV von der Berufswahl des Ehepartners und der Frage, wann eine Trennung/Scheidung erfolgt sei, abhängig gemacht werde. Der Gesetzgeber habe bei der 9/10-Regelung nicht an die Frauen und Mütter gedacht, die während der Kinderbetreuung keine Möglichkeit der Familienversicherung nach § 10 SGB V gehabt hätten und nunmehr als Rentnerinnen zwangsläufig an der 9/10-Regelung scheiterten – völlig unabhängig davon, ob sie in ihrer zweiten Hälfte des Berufslebens noch beschäftigt gewesen seien und in die GKV eingezahlt hätten. Mit dem Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) seien die Voraussetzungen für den Zugang zur KVdR (erneut) geändert worden. Leidtragende hiervon seien Mütter und Ehefrauen. Zwar habe die Anpassung durch die Berücksichtigung der Pauschalbeträge für vorhandene Kinder eine leichte Erleichterung gebracht, jedoch nicht zum Abklingen der Ungleichbehandlung geführt. Der Klägerin fehlten nach den Angaben der Beklagten lediglich eine Vorversicherungszeit von nicht einmal drei Jahren. Die Grenze scheine hier willkürlich gesetzt angesichts der Tatsache, dass die Klägerin die bereits mit 16 Jahren aufgenommene Berufstätigkeit lediglich für Kinder und Ehemann aufgegeben habe. Später habe sie sich um die pflegebedürftige Mutter gekümmert. Lediglich aufgrund ihrer Schwerbehinderung sei es ihr möglich gewesen, früher in Rente zu gehen. Sie werde ungleich behandelt, weil sie früh berufstätig gewesen und später ihren Pflichten als Mutter nachgegangen sei.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 14.12.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.06.2018 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin ab dem 01.08.2017 pflichtversichertes Mitglied der Beklagten in der Krankenversicherung der Rentner ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend. 

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. 


Entscheidungsgründe

Die Entscheidung konnte durch die Berichterstatterin und ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die Beteiligten mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben, §§ 155 Abs. 3 und 4, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). 

Die zulässige Berufung ist unbegründet. 

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14.12.2021 abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 18.08.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.06.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe der erstinstanzlichen Entscheidung. Sie sind überzeugend und würdigen die fallentscheidenden Aspekte unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Rechtsprechung.

Der Vortrag im Berufungsverfahren begründet keine andere Entscheidung.

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass eine Grundrechtsverletzung nicht ersichtlich ist. Insbesondere ist § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V auch hinsichtlich der erforderlichen 9/10-Belegung in der zweiten Hälfte der Rahmenfrist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt insbesondere kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor (vgl. BSG, Urteile vom 05.07.2006 - B 12 KR 15/05 R - und 04.06.2009 - B 12 KR 26/07 R -, beide in juris). Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 15.03.2000 (1 BvL 16/96 u.a.) einen Verfassungsverstoß nur darin, dass nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V in der Fassung des GSG die erforderliche 9/10-Belegung in der zweiten Hälfte der Rahmenfrist nicht auch mit Zeiten einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt werden konnte. Die 9/10-Belegung als solches hat das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht beanstandet. 

Ob der Gesetzgeber die Regelung über die Vorversicherungszeit anders hätte gestalten können, ist für die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht erheblich. Der Gesetzgeber wollte die Versichertengemeinschaft nicht mit Krankheitskosten von Personen belasten, die während der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens der GKV nicht längere Zeit angehört haben (BT-Drs. 11/2237, S. 159). Es steht im gesetzgeberischen Ermessen, den hiefür maßgeblichen Zeitraum festzulegen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.09.2014 – L 4 KR 1532/14 – juris, Rn. 22 f.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
 

Rechtskraft
Aus
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