S 3 VE 3/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 3 VE 3/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 15/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 38/22 B
Datum
Kategorie
Urteil


1.    Die Klage wird abgewiesen.

2.    Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin ein Versorgungsanspruch wegen eines Impfschadens zusteht.

Die 1954 geborene Klägerin nahm am 04.05.1995 zusammen mit ihrem Ehemann und zwei ihrer drei Kinder an einer Schluckimpfung gegen Polio mit dem Impfstoff Oral-Virelon T1, Behring-Werke, Charge-Nr. 050061A, teil. Am 07.05.1995 sind der Klägerin zufolge bei ihr und auch den anderen Familienmitgliedern Beschwerden (Durchfall, Fieber, Kopfweh, Nackensteifigkeit, Schmerzen an der Wirbelsäule u. a.) aufgetreten. Nach Angabe der Klägerin besserten sich die akuten Beschwerden bei ihr nach ca. zehn Tagen wieder. Sie habe jedoch durchgängig seit der Impfung unter neurologischen und orthopädischen Beschwerden gelitten.

Der Ehemann der Klägerin verstarb 1995. Bezüglich der Frage einer Hinterbliebenenversorgung wegen eines Impfschadens haben die Beteiligten bereits einen Rechtsstreit geführt. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen (Sozialgericht Wiesbaden, Urteil vom 14.06.2006, Az.: S 7 VI 526/02). Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung blieb ohne Erfolg; sie wurde durch Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30.01.2008 zurückgewiesen (Az.: L 4 VJ 2/06). Nach den Feststellungen der Sachverständigen sei ein Zusammenhang zwischen der Polioimpfung und dem Tod aufgrund von Multiorganversagen bei maligner lymphatischer Erkrankung nicht wahrscheinlich. Es gebe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass eine Polioimpfung eine Tumorerkrankung hervorrufen könne. Die hiergegen gerichtete Beschwerde zum Bundessozialgericht wurde mit Beschluss 08.05.2008 als unzulässig verworfen (Az.: B 9 VJ 1/08 B).

Am 31.07.2008 beantragte die Klägerin beim Hessischen Amt für Versorgung und Soziales Fulda die Gewährung von Versorgung wegen eines eigenen Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Sie leide an Polyarthritis, Osteochondrose, neurologischen Störungen, Vernarbungen des Gehirns, Erschöpfung u.a.

Nach Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Internisten Herrn G., wonach ein Impfschaden nicht wahrscheinlich sei, lehnte das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Fulda mit Bescheid vom 07.12.2009 den Antrag ab. Der hiergegen gerichtete Widerspruch, der nicht begründet wurde, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 08.10.2010 zurückgewiesen. Es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Erkrankungen der Klägerin und der Polio-Impfung.

Hiergegen hat die Klägerin unter dem Aktenzeichen S 7 VE 1/11 Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden erhoben. In diesem Verfahren wurde die Beklagte mit gerichtlichem Schreiben vom 13.01.2012 zum Betreiben des Verfahrens (Übersendung einer Schweigepflicht-Entbindungserklärung) aufgefordert und auf die Rechtsfolge des § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen. Die Klägerin hat das Verfahren trotz dieser Aufforderung länger als drei Monate nicht betrieben, so dass Klagerücknahmefiktion eingetreten ist.

Am 16.06.2015 ging beim Hessischen Amt für Versorgung und Soziales Fulda ein erneuter Antrag der Klägerin auf Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz ein. Mit Bescheid vom 03.12.2015 wies das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Fulda den Antrag zurück. Ein gleichlautender Antrag der Klägerin sei bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 07.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2010 zurückgewiesen worden. Neue Tatsachen seien nicht vorgetragen, so dass es bei den bindenden Feststellungen bleibe.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Fulda mit Widerspruchsbescheid vom 18.01.2016 zurück. Der Antrag der Klägerin auf Versorgung nach dem IfSG sei bestandskräftig abgelehnt worden. Gründe für eine Rücknahme dieser Entscheidung gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) lägen nicht vor.

Am 18.02.2016 erhob die Klägerin die vorliegende Klage zum Sozialgericht Wiesbaden.

Zur Begründung führt sie aus, dass sie infolge der Impfung eine sogenannte Polioencephalitis mit neurologischem Defizit entwickelt habe. Der Impfstoff Oral-Virelon sei unter anderem aufgrund der nicht unerheblichen Nebenwirkungen 1998 von der ständigen Impfkommission zurückgezogen worden. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Klägerin durch die empfohlene Impfung eine erhebliche gesundheitliche Schädigung erlitten habe.

Die Klägerin beantragt 

den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 07.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2010 sowie den Bescheid vom 03.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2016 aufzuheben und der Klägerin aufgrund der Polioencephalitis Leistungen nach § 60 Infektionsschutzgesetz i. V. m. BVG zu gewähren. 

Der Beklagte beantragt,

die Klage als unbegründet abzuweisen.

Eine ursächlich auf die Polio-Impfung zurückzuführende Gesundheitsstörung lasse sich nicht wahrscheinlich machen.

Die Klägerin hat Entlassungsbriefe des Klinikums Koblenz vom 03.05.2016 und vom 09.06.2016 sowie weitere medizinische Befundunterlagen vorgelegt, welche der Beklagte mit versorgungsärztlicher Stellungnahme des Herrn G. vom 16.12.2016 ausgewertet hat. Ein Impfschaden sei demnach unverändert nicht wahrscheinlich.

Die Kammer hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte eingeholt bei dem Facharzt für Innere Medizin Herrn Dr. D. vom 29.10.2017, dem Orthopäden und Unfallchirurgen Herrn M. vom Polio-Zentrum des Katholischen Klinikums Koblenz vom 06.11.2017 sowie dem Neurologen und Psychiater Herrn Dr. H. vom 22.12.2017.

Der Beklagte hat hierzu eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme des Herrn G. vom 30.01.2018 vorgelegt.

Mit Schreiben vom 06.12.2018 hat der damalige Kammervorsitzende die Klägerseite darauf hingewiesen, dass die unter den Aktenzeichen L 1 VE 3/18 und L 1 VE 2/18 geführten Berufungen des Sohnes und der Tochter vom Hessischen Landessozialgericht zurückgewiesen worden seien. Es seien keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen beabsichtigt.

Mit Schreiben vom 08.08.2019 machte die Klägerseite geltend, es sei eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung der Klägerin von Amts wegen erforderlich und beantragte sodann mit Schreiben vom 14.08.2019 die Einholung eines neurologischen Gutachtens des Herrn Dr. S. gemäß § 109 SGG. Auf das Ersuchen der Kammer vom 30.10.2019, ein Gutachten über die Klägerin zu erstatten, erklärte Herr Dr. S., er kenne die Klägerin seit Jahren und halte sich für befangen. Die Kammer hob daraufhin die Beweisanordnung vom 30.10.2019 auf und forderte die Klägerin auf, Herrn Dr. S. zwecks Einholung von Befundberichten von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Eine entsprechende Erklärung legte die Klägerin auf vielfache Anforderung der Kammer nicht vor.

Mit Schreiben vom 15.12.2020 beantragte die Klägerin die Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 109 SGG des Herrn Prof. Dr. E.

Auf entsprechende Anordnung der Kammer erstattete der Internist Herr Prof. Dr. E. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 22.11.2021 ein Sachverständigengutachten vom 29.11.2021. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitsstörungen der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit nicht auf die Polio-Impfung zurückzuführen sind. Bei der Klägerin lägen zwar vielfältige – zum Teil nicht gesichert diagnostizierte Gesundheitsstörungen – vor. Paresen seien jedoch bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesichert nachgewiesen. Angesichts fehlender Hinweise auf neurologische und/oder vegetative Symptome in den ersten 10 Jahren nach der oralen Polio-Impfung könne nicht von einer impfassoziierten Poliomyelitis ausgegangen werden. Auch ein Post-Polio-Syndrom sei äußerst unwahrscheinlich.

Der Beklagte hat mit versorgungsärztlicher Stellungnahme des Herrn Dr. K. Stellung bezogen, mit dem Ergebnis, dass ein Impfschaden nicht vorliege.

Die Klägerin hat eine schriftliche Stellungnahme zu dem Gutachten vorgelegt und ist mit dem Gutachten in verschiedenen Punkten nicht einverstanden. Das Gericht müsse weitere Ermittlungen von Amts wegen vornehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten, auch die der Verfahren S 7 VI 526/02, L 4 VJ 2/06, S 7 VE 2/11, L 1 VE 3/18, S 7 VE 3/11 und L 1 VE 2/18 sowie auf die beigezogenen IfSG-Akten des Beklagten Bezug genommen. 


Entscheidungsgründe

Die als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässige Klage ist nicht begründet.

Streitgegenständlich ist ein Anspruch der Klägerin auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem IfSG.

Der Klageantrag ist gerichtet auf Aufhebung sowohl des Bescheides vom 07.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.10.2010 als auch des Bescheides vom 03.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2016 und Leistungsgewährung nach § 60 IfSG in Verbindung mit dem BVG.

Mit diesem Begehren hat die Klägerin keinen Erfolg, weil der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden eine Beschädigtenrente zu Recht abgelehnt hat und bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch kein Anspruch auf Beschädigtenrente entstanden ist.

Gegenstand der vorliegenden Klage ist nicht nur die Überprüfung der angefochtenen Bescheide nach dem eingeschränkten Überprüfungsmaßstab des § 44 SGB X. Die Klägerin hat ihren Antrag vom 09.06.2015 nicht auf eine solche Überprüfung beschränkt. Sie hat in dem Antragsvordruck vom 29.11.2015 gegenüber dem vorherigen Antragsvordruck vom 11.04.2008 neue Gesundheitsstörungen benannt (Polioencephalitis, Multiple Sklerose), die noch nicht Gegenstand der angefochtenen Bescheide waren. Der Beklagte hätte sich daher aus Sicht der Kammer in dem Bescheid vom 03.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2016 nicht auf eine Prüfung beschränken dürfen, ob im Sinne von § 44 SGB X bei Erlass der Bescheide aus den Jahren 2009/2010 das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, vielmehr hätte auch erwägen müssen, ob seit Erlass der bestandskräftigen Bescheide eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist. In einem solchen Fall gebietet nämlich § 48 SGB X eine Aufhebung der bestandskräftigen Bescheide mit Wirkung für die Zukunft bzw. ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Dementsprechend waren im Rahmen der vorliegenden Anfechtungs- und Verpflichtungsklage alle Änderungen in den Verhältnissen zu beachten, die bis zum Tag der mündlichen Verhandlung eingetreten sind. Auch diesen weiten Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt, steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch allerdings nicht zu.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 60 Abs. 1 IfSG, der zum 01.01.2001 den weitgehend inhaltsgleichen § 51 Abs. 1 Bundesseuchengesetz abgelöst hat. Nach § 60 Abs. 1 IfSG erhält derjenige, welcher durch eine empfohlene oder angeordnete Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. 

Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann, § 61 Satz 2, 3 IfSG.

Die Entstehung eines Anspruchs auf Anerkennung eines Impfschadens und auf Versorgung verlangt demnach die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen (vgl. nur BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 36). Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation (Primärschaden im Sinne eines "Gesundheitserstschadens"), sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden (Sekundärschaden), vorliegen. Die Schutzimpfung (1. Glied), die Impfkomplikation (2. Glied) und der Impfschaden (3. Glied) bilden dabei vorliegend die einzelnen Elemente der sog. - dem Versorgungsrecht generell zugrundeliegenden (vgl. etwa BSG, Urteil vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, juris; BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R, juris) - dreigliedrigen Kausalkette. Die Schutzimpfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung im Sinne des Impfschadens müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, d.h. im sog. Vollbeweis, feststehen. Dagegen genügt für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit, vgl. § 61 Satz 1 IfSG (vgl. nur BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, juris Rn. 38).

Nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung lässt sich für die Kammer ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Polio-Impfung im Jahr 1995 und den von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere einer Polioencephalitis, auf welche die Klägerin ihren Klageantrag zuletzt beschränkt hat, nicht herleiten.

Dabei stützt sich die Kammer auf die im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren vorgelegten und eingeholten medizinischen Unterlagen und insbesondere auch auf das Gutachten des von der Klägerin benannten Sachverständigen Herrn Dr. E. Dieser hat alle über die Klägerin seit dem Jahr 2005 vorliegenden Befundberichte ausgewertet und die Klägerin am 22.11.2021 persönlich ambulant untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die von ihm festgestellten Gesundheitsstörungen mit Wahrscheinlichkeit nicht auf die Polio-Impfung zurückzuführen sind. Dieses Ergebnis ist zur Überzeugung der Kammer unter Berücksichtigung der gesamten Aktenlage plausibel und nachvollziehbar.

Der Sachverständige hat anhand der Aktenlage und aufgrund seiner Untersuchung bei der Klägerin keine Gesundheitsstörung feststellen können, welche als Impfschäden zugrunde gelegt werden können.

Bei der vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind im vorliegenden Fall die bis zum Jahr 2008 gültigen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) handelt es sich bei den von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um ein sog. antizipiertes Sachverständigengutachten (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 9). Die AHP enthielten zuletzt 2005 unter Nr. 57 detaillierte Angaben zu Impfschäden bei Schutzimpfungen (unter 2. Poliomyelitis-Schutzimpfung). Die detaillierten Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden waren in der letzten gültigen Fassung der AHP (2008) nicht mehr enthalten. Die seit dem 1. Januar 2009 an die Stelle der AHP getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) enthält anders als die AHP keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern, sodass insoweit die AHP als aktueller Stand der Wissenschaft zugrunde gelegt werden kann (vgl. hierzu mit ausführlicher Begründung: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Dezember 2020 – L 11 VJ 26/17 –, Rn. 44 - 54, juris).

In Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1996, 2004 und 2005 (jeweils Seite 194 f.) sind als übliche Impfreaktionen einer Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff aufgeführt:

•    Übliche Impfreaktionen: einige Tage nach der Schluckimpfung gelegentlich - nur wenige Tage anhaltend – Durchfälle, Erbrechen, erhöhte Temperaturen, Exantheme, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit. 

•    Impfschäden: Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. – Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten).

•    Beim Guillain-Barre´-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

•    Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

Die Ermittlungen haben im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines derartigen dauernden Impfschadens ergeben. Aktenkundig ist, dass die Klägerin wenige Tage nach der Impfung über Durchfall, Fieber, Kopfweh, Nackensteifigkeit, Schmerzen an der Wirbelsäule, den Schultern sowie an den Gliedern, Haut- und Nervenempfindlichkeitsstörungen u. a. klagte. Insoweit handelt es sich jedoch um übliche Impfreaktionen nach einer Impfung mit Polio-Lebendimpfstoff.

Die im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie die Untersuchung durch den Sachverständigen Herrn Dr. E. haben keinen Nachweis einer poliomyelitisähnlichen Erkrankung mit schlaffen Lähmungen nach der Inkubationszeit von maximal 30 Tagen nach der Impfung erbracht. Vielmehr sind bei der Klägerin bei den zahlreichen Kontakten zu verschiedenen Ärzten bis zur jetzigen Zeit Paresen nicht gesichert nachgewiesen worden. Anzeichen für das Auftreten des Guillain-Barré-Syndroms innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung bzw. eine Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eine hirnorganischen Anfallsleidens haben sich nicht ergeben. 

Auch das von dem Sachverständigen zusätzlich zu den in der AHP aufgeführten Impfschäden in Erwägung gezogene und bei der Klägerin aus Sicht des Sachverständigen nicht auszuschließende Post-Polio-Syndrom ist jedenfalls nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung im Jahr 2995 zurückzuführen.

Auch wenn die Klägerin subjektiv davon überzeugt sein mag, dass es ihr und ihren geimpften Familienangehörigen aus voller Gesundheit heraus seit dem Tag der Impfung gesundheitlich schlecht geht und dass die gesundheitlichen Probleme nur auf die Impfung zurückzuführen sein können, wird dies durch die umfangreichen dem Gericht vorliegenden Befundberichte nicht belegt. Vielmehr geben die Äußerungen verschiedener behandelnder Ärzte Anlass zum Zweifel an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Polio-Impfung und den Beschwerden der Klägerin. Dem Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Herrn Dr. H. vom 22.12.2017 zufolge, bei dem sich die Klägerin seit 13.02.2015 in Behandlung befand, ist die Klägerin in ihrer eigenen hypochondrischen Welt gefangen. Sie leide unter einer schweren Depression mit psychotischen Inhalten, die unabhängig von der Neurologie sei. Nach dem Entlassungsbericht des Katholischen Klinikums Koblenz vom 09.06.2016, wo eine umfassende stationäre Post-Polio-Diagnostik stattgefunden hat, sind viele Anteile der von der Klägerin geäußerten Beschwerden nicht durch eine Post-Polio-Symptomatik zu erklären.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen hat die Kammer nicht für erforderlich gehalten.

Insbesondere war es nicht notwendig, eine Untersuchung des verwendeten Oral-Virelon-Impfstoffs aus dem Jahr 1995 auf Kontaminationen, insbesondere auf SV 40, in die Wege zu leiten. Bereits in dem Verfahren der Klägerin S 7 VI 526/02 betreffend eine Hinterbliebenenversorgung, hat der Sachverständige Herr Prof. Dr. T. dargelegt, dass er es nach wissenschaftlichen Maßstäben für ausgeschlossen halte, dass die verwendete Impfcharge, welche vom Paul-Ehrlich-Institut untersucht und freigegeben worden ist, verunreinigt war. Hinsichtlich des SV 40-Virus ist eine Untersuchung auch deswegen nicht zielführend, weil selbst bei einer solchen Kontamination nicht davon ausgegangen werden könnte, dass diese mit Wahrscheinlichkeit zu einer Schädigung der Klägerin geführt hat. Wie der Sachverständige Herr Dr. E. darlegt, waren anders als im Jahr 1995 in der Zeit von 1955 bis 1963 erhebliche Teile des Polio-Impfstoffe mit SV 40 kontaminiert, so dass sich ein großer Teil der Bevölkerung damit infiziert hat. Trotz dieser sehr vielen Infektionen wurde kein Zusammenhang zwischen früheren SV40-Infektionen und anderen Erkrankungen nachgewiesen. Die Kammer sieht keinen Anlass an diesen Darstellungen des Sachverständigen zu zweifeln.

Auch statistische Erhebungen hinsichtlich einer Häufung von Impfungsnebenwirkungen nach Oral-Virelon-Impfungen, die um das Jahr 1995 in der Region durchgeführt wurden, hat die Kammer nicht für notwendig erachtet. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es andere Fälle von Impfnebenwirkungen gab, ändert dies nichts daran, dass bei der Klägerin aus den dargestellten Gründen kein Impfschaden nachgewiesen ist und ein ursächlicher Zusammenhang ihrer Beschwerden mit der Impfung unwahrscheinlich ist. 

Die Kammer hat es auch nicht für erforderlich erachtet, der Klägerin Gelegenheit zu geben, medizinische Befunde aus den Jahren unmittelbar nach der Impfung vorzulegen. Zwar sind für die Zeit zwischen 1995 und 2005 anders als für die Folgejahre keine Befunde aktenkundig. Falls die anwaltlich vertretene Klägerin diese Befunde für entscheidungserheblich halten sollte, ist aber in keiner Weise nachvollziehbar, warum diese in den über 13 Jahren seit der Antragstellung bei dem Beklagten nicht vorgelegt oder benannt wurden bzw. warum die Klägerin die betreffenden Ärzte im Klageverfahren nicht von der Schweigepflicht entbunden hat. Die Kammer erwartet von weiterem Abwarten bzw. weiteren Ermittlungen keine Ergebnisse, welche zu einer anderen Beurteilung des Falles führen würden.

Nach alledem war die Klage abzuweisen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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