L 4 AS 71/22

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 21 AS 2808/19
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 71/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 64/23 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zur Berücksichtigung der "Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII" vom 16.09.2020 bei der Prüfung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II in Bewilligungszeiträumen vor der Beschlussfassung.

 

2. Zur Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung bei chronischer Niereninsuffizienz und weiteren Krankheiten nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins und dem Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis aus dem Jahr 2019

I.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

II.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Bewilligung von Regelleistungen im Bescheid des Beklagten vom 04.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.11.2019 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23.11.2019 für den Zeitraum vom 01.11.2019 bis 31.10.2020. Der Beklagte lehnte der Klägerin damit die Zuerkennung eines Mehrbedarfs aus medizinischen Gründen wegen der Notwendigkeit kostenaufwändiger Ernährung ab.

 

Die 1965 geborene Klägerin und ihr 1970 geborener Ehemann sind deutsche Staatsbürger und leben zusammen. Sie hatten in den Jahren 2018 bis 2020 keine anrechenbaren Einkünfte und bezogen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klägerin leidet ausweislich des im Verfahren S 31 AS 3407/17 des Sozialgerichts Chemnitz vorgelegten Allergiepasses und des Bescheides des Landratsamtes des Vogtlandkreises vom 07.10.2015 im Feststellungsverfahren über das Vorliegen einer Behinderung und des Grades des Behinderung (vgl. Blätter 26 bis 28 der Gerichtsakte S 31 AS 3407/17) an einer arteriellen Verschlusskrankheit des linken Beines, einer Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule, einer nicht dialysepflichtigen Niereninsuffizienz, an Allergien gegen Kolophonium, Kaliumdichromat, (Chlor)-Methylisodhiazolon, Cetylstearylalkohol sowie Nickel-(II)-Sulfat, Schilddrüsenvergrößerung und Bluthochdruck. Das Landratsamt des Vogtlandkreises erkannte der Klägerin mit dem vorgenannten Bescheid unbefristet einen Grad der Behinderung von 30 zu. Merkzeichen wurden jedoch ebenso wenig zuerkannt wie Parkerleichterungen.

 

Die Klägerin wandte sich unter anderem am 13.12.2018 klageweise gegen die Leistungsbewilligung des Beklagten für die Zeit vom 01.11.2018 bis 31.10.2019, nachdem dieser ihr keinen medizinisch bedingten Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bewilligt hatte (Verfahren S 31 AS 3850/18 des Sozialgerichts Chemnitz). Im vorbenannten weiteren Klageverfahren vor dem Sozialgericht (S 31 AS 3407/17) legte die Klägerin zunächst eine ärztliche Bescheinigung ihrer Hausarztpraxis vom 25.02.2016 vor, auf der zwar eine Niereninsuffizienz bestätigt wurde, aber keine Angaben zur medizinisch notwendigen Krankenkost gemacht wurden (vgl. Blatt 30 der Gerichtsakte S 31 AS 3407/17). Ein von der Klägerin im weiteren Verfahrensverlauf vorgelegtes Rezept der Hausarztpraxis vom 31.05.2018 erklärte sodann: „Eine eiweißdefinierte Kost erfolgte bisher, ein entsprechender Mehrbedarf sollte überprüft werden.“ (Blatt 40 der Gerichtsakte S 31 AS 3407/17 sowie Blatt 26 der Gerichtsakte).

 

Im Rahmen des Erörterungstermins vor dem Sozialgericht Chemnitz am 02.12.2019 anerkannte der Beklagte auf richterlichen Hinweis, dass die zu diesem Zeitpunkt aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen bei Niereninsuffizienz im Rahmen einer eiweißdefinierten Kost einen Mehrbedarf bejahten, für den Zeitraum vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 einen Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen i.H.v. monatlich 10% der jeweiligen Regelbedarfsstufe, mithin insgesamt 456,80 EUR.

 

Am 16.09.2019 beantragten die Klägerin und ihr Ehemann die Fortzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit streitigem Bescheid vom 04.10.2019 für die Zeit vom 01.11.2019 bis 31.10.2020 Regelleistungen i.H.v. monatlich 382,00 EUR. Einen medizinisch bedingten Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung lehnte der Beklagte ab.

 

Den dagegen vom Prozessbevollmächtigten erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.11.2019 zurück. Die Gewährung eines Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 5 SGB II setze einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer drohenden oder bestehenden Erkrankung und der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung voraus. Die Krankheiten, bei denen die Notwendigkeit einer solchen Ernährung bestehe, definierten in der Regel die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV). Nach dessen Stellungnahme komme ernährungsbedingt ein Mehrbedarf nur bei schweren Verläufen der Niereninsuffizienz in Betracht, die eine eiweißdefinierte Kost oder Dialyse erforderten. Umstände, die dafürsprächen, dass die Klägerin sich kostenaufwändig ernähren müsse, seien nicht ersichtlich. Der Beklagte habe am 01.07.2016 eine sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage (vgl. Blätter 23 bis 25 der Gerichtsakte) zur Klärung angefertigt, ob bei der Klägerin ein Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung notwendig sei. Ausweislich derer leide die Klägerin nicht an einer schwerwiegenden, sondern nur an einer gering eingeschränkten Nierenfunktion sowie an Durchblutungsstörungen der Beine, Bluthochdruck und Jodmangelstruma.

 

Mit Änderungsbescheid vom 23.11.2019 gewährte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.01.2020 bis 31.10.2020 Regelleistungen i.H.v. nunmehr 389,00 EUR.

 

Am 16.12.2019 hat die Klägerin erneut Klage zum Sozialgericht Chemnitz erhoben und sich auf den Ausgang des Verfahrens S 31 AS 3407/17 berufen. Nachdem sich an den gesundheitlichen Problemen der Klägerin keine Änderung ergeben habe, sei nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte nunmehr für den nachfolgenden Zeitraum den Mehrbedarf erneut verweigere. Der Beklagte hat auf die Stellungnahme des Vertragsarztes der Bundesagentur für Arbeit sowie auf die Empfehlungen des DV verwiesen. Wegen der eingeschränkten Nierenfunktion sei aufgrund ärztlicher Stellungnahme eine eiweißarme Kost zwar empfehlenswert. Deren Art und Umfang sollte unter Beratung und Anleitung des Hausarztes erfolgen. Aus den Empfehlungen leite sich aus diesem Umstand aber kein Mehrbedarf ab. Besonderheiten des Einzelfalles seien nicht ersichtlich, folgten insbesondere nicht aus den eingegangenen medizinischen Unterlagen, namentlich den Laborbefunden. Die Klägerin hat hierauf unter anderem erwidert, die Empfehlungen des DV in der geänderten Fassung seien erst am 16.09.2020 verabschiedet worden. Insofern sei bereits zeitlich gesehen der streitige Zeitraum jedenfalls nicht vollumfänglich von den neuen Richtlinien umfasst. Die vorhergehende Empfehlung des DV habe einen Mehraufwand für kostenaufwändige Ernährung im Fall der Klägerin bejaht. Dies sei im Übrigen durch das Anerkenntnis des Beklagten im Streitverfahren betreffend den vorherigen Zeitraum bekräftigt. Die geänderte Auffassung des DV sei auch nicht nachvollziehbar. Ohne, dass es für die hier zugrundeliegende Erkrankung neue Behandlungsmöglichkeiten gebe, werde nunmehr ein Mehrbedarf wegen aufwändiger Ernährung plötzlich nicht mehr anerkannt. Die Klägerin hat auf richterlichen Hinweis, es stehe ihr offen, abweichend von den Empfehlungen des DV einen erhöhten, medizinisch verursachten Bedarf für Ernährung konkret darzulegen, einen von ihr gefertigten „Preisvergleich“ von sieben Lebensmitteln in Normal- und eiweißreduzierter Form (Nudeln, Brot, Brötchen, Semmeln, Baguette, Bockwurst im Glas, Kartoffelknödel) vorgelegt (Blatt 47 der Gerichtsakte).

 

Mit Urteil vom 08.06.2021 hat das Sozialgericht Chemnitz mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung die auf Änderung der Bewilligungsentscheidung gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung wurde nicht zugelassen. Die Klägerin leide zwar nach Mitteilung ihrer Hausarztpraxis vom 05.11.2020 (Blatt 40 der Gerichtsakte) unter chronischer Niereninsuffizienz II. Grades und damit neben weiteren Erkrankungen an einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Diese führe aber nicht zu einer aus medizinischen Gründen kostenaufwändigeren Ernährung. Denn nach den aktuellen Empfehlungen des DV zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zum Stand des 16.09.2020 werde bei der chronischen Niereninsuffizienz ohne Dialysetherapie, zu der auch chronische Niereninsuffizienz II. Grades gehöre, ernährungswissenschaftlich eine Beschränkung der Eiweiß- und Kochsalzzufuhr empfohlen. Die Mengenempfehlungen für die Proteinzufuhr entsprächen dem allgemein für Erwachsene empfohlenen Wert der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Es bestehe daher kein ernährungsbedingter Mehrbedarf. Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, dass der Beklagte ihr in der Vergangenheit einen entsprechenden Mehrbedarf bewilligt habe. Eine von § 21 Abs. 5 SGB II abweichende Bestandsschutzregelung des Inhalts, dass ein einmal bewilligter Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bei unveränderter gesundheitlicher Beeinträchtigung unabhängig vom aktuellen – gegebenenfalls gegenüber einem früheren veränderten – wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu gewähren wäre, gebe es nicht. Bei einem besonderen Anspruch im Gesamtkomplex der Gewährleistung des Existenzminimums, bei dem es auf das Vorliegen von Voraussetzungen aus einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin – wie vorliegend der Medizin – ankomme, sei auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abzustellen. Dieser beruhe auf Daten, die in einem zurückliegenden Zeitraum erhoben wurden. Die Klägerin könne daher auch nicht mit der Argumentation, die aktuelle Empfehlung habe den Stand 16.09.2020, der Mehrbedarf werde jedoch ab 01.11.2019 geltend gemacht, durchdringen, da sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand immer in einer Entwicklung befinde und nicht an einem bestimmten Stichtag festgemacht werden könne. Die Klägerin sei auch nicht auf eine besondere Zusammensetzung der von ihr angeführten Lebensmittel Nudeln, Brot, Brötchen, Baguette und Kartoffelknödel angewiesen. Hierzu sei auf die Internetseite www.igdialyse.de (https://usercontent.one/wp/www.igdialyse.de/wp-content/uploads/2018/06/ohne_Dialyse.pdf?media=1674921099) und die dort aufgeführte Liste zur Auswahl der Lebensmittel für eine eiweißarme Ernährung bei Nierenerkrankung ohne Dialysebehandlung zu verweisen. Besonderer Bockwürste bedürfe sie ebenfalls nicht. Denn sollte sie an einem Tag mehr tierisches Eiweiß gegessen haben, sei diese Menge in den nächsten Tagen wieder anzupassen. Es müsse dann weniger tierisches Eiweiß verzehrt werden.

 

Gegen das der Klägerin am 07.07.2021 zugestellte Urteil hat sich deren Nichtzulassungsbeschwerde vom 04.08.2021 gerichtet (L 8 AS 823/21 NZB). Der 8. Senat hat mit Beschluss vom 20.01.2022 die Berufung zugelassen.

 

Im Rahmen des Berufungsverfahrens hat der Senat einen aktualisierten Befundbericht des Hausarztes Dr. D.... vom 06.04.2022 beigezogen. Hiernach befindet sich die Klägerin seit dem 27.10.2014 bei ihm in ärztlicher Behandlung. Als Diagnosen hat der Hausarzt zuletzt Diabetes mellitus (Zuckererkrankung), Hypertonie (Bluthochdruck), Hyperurikämie (Erhöhung des Harnsäurespiegels im Blut), Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion), chronisch vertebragene Beschwerden (chronische Erkrankung der Wirbelsäule mit vertebragenen Schmerzen), Arthrose (Gelenkverschleiß), Anpassungsstörung sowie Niereninsuffizienz mitgeteilt. Die Befunde hätten sich seit Sommer 2019 zeitweise verbessert, es sei aber zu anderer Zeit auch eine Verschlechterung aller Leiden festzustellen gewesen. Im Wesentlichen ergebe sich ein stabiler Verlauf. Auf Nachfrage des Gerichts teilte Herr Dr. D.... des Weiteren am 13.05.2022 mit, eine nephrologische Behandlung habe nicht stattgefunden. Eine besondere Ernährung sei aktuell nicht erforderlich.

 

Der beigefügte Laborbefund vom 17.03.2022 weist eine glomeruläre Filtrationsrate (GFR MDRD-Formel) von 51 bei einem Normalwert von >90, einen gegenüber dem Grenzwert von 5,7 leicht erhöhten – für den Diabetes mellitus relevanten – HbA1c-Wert von 6,2 (HbA1c (IFCC): 44; Grenzwert 39) sowie einen LDL-Cholesterin-Wert von 2,32 auf. Unter der Rubrik Stadium Niereninsuff./ CKD Staging ist der Wert „G3a“ vermerkt. Dazu wird im Befund erklärt: „Stadium G3a nach KDIGO. Leicht bis mittelmäßig erniedrigte Glomuläre Filtrationsrate (GFR). Wenn dieser Zustand >3 Monate besteht, liegt eine chronische Nierenerkrankung (CKD) vor. Zur weiteren Risikoeinschätzung wird die Bestimmung von Albumin/Kreatinin im Urin empfohlen.“ Der weiter beigezogene Laborbefund vom 27.06.2022 weist eine glomeruläre Filtrationsrate (GFR MDRD-Formel) von 44 sowie einen HbA1c-Wert von erneut 6,2 (HbA1c (IFCC): 44) auf.

 

Das Gericht hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens des Chefarztes der Klinik für Innere Medizin II des Z.... -Klinikums Y...., Herr PD Dr. med. E..... Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 21.08.2022 verwiesen.

 

Die Klägerin hält im Wesentlichen an ihrem Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren fest.

 

Sie beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 08.06.2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung seines Bescheides vom 04.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2019 und in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23.11.2019 für den Zeitraum vom 01.11.2019 bis 31.10.2020 weitere monatliche Leistungen im Umfang eines angemessenen Mehrbedarfes für kostenaufwändige Ernährung aus medizinischen Gründen zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er bekräftigt, bei der Prüfung, ob und in welchem Umfang gemäß § 21 Abs. 5 SGB II ein ernährungsbedingter Mehrbedarf anzuerkennen ist, seien die Empfehlungen des DV für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe heranzuziehen. Der Klägerin werde auch im Ergebnis der letzten sachverständigen Begutachtung eine kochsalz-, eiweiß- und kohlenhydratarme Ernährung empfohlen. In Anlehnung an die Empfehlungen des DV sei eine lipidsenkende (= fettarme) und natriumdefinierte (= salzarme) Kost nicht als kostenaufwändig anzuerkennen. Der Beklagte halte dieses Ergebnis auch für mit der allgemeinen Lebenserfahrung vereinbar, da sich fett- und salzarme Kost nicht nur durch sog. Diätlebensmittel, sondern gerade auch durch die Auswahl solcher Lebensmittel sicherstellen lasse, die nicht mehr Kosten verursachten als vergleichbare Lebensmittel mit höherem Gehalt an Fett etc. (z.B. Magerquark anstelle fettreicherem Quark). Erhöhte Aufwendungen für besonders magere Fleischprodukte könne die Klägerin vermeiden, indem sie verstärkt auf Obst und Gemüse zurückgreife, zumal der Verzehr von Fleisch den bestehenden Erkrankungen ohnehin nicht förderlich erscheine. Die Anerkennung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II setze ein medizinisch begründetes besonderes Ernährungsbedürfnis voraus, welches nicht schon dann gegeben sei, wenn der Betroffene krankheitsbedingt auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten müsse. Ein Mehrbedarf komme erst in Betracht, wenn ohne teure Ersatzprodukte gesundheitliche Einschränkungen drohten oder aber keine ausreichende Auswahl an Alternativprodukten zur Verfügung stehe. Dies werde durch das ärztliche Gutachten vom 21.08.2022 jedoch gerade nicht bestätigt. Auch sei grundsätzlich unschädlich, dass der Klägerin im vorangegangenen Zeitraum vom 01.11.2018 bis 31.10.2019 ein Mehrbedarf gewährt worden sei. Eine von § 21 Abs. 5 SGB II abweichende Bestandsschutzregelung gebe es nach der Rechtsprechung des Sächsischen Landessozialgerichts (SächsLSG) nicht.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 136 Abs. 2 Satz 1 SGG auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Gerichtsakten S 31 AS 3407/17 sowie S 31 AS 3850/18 und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten (7 Papierbände + 1 elektronische Verwaltungsakte), die Gegenstand der Entscheidung waren, sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

 

Die mit Beschluss vom 20.01.2022 zugelassene Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

 

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der vorinstanzlichen Entscheidung der Bescheid des Beklagten vom 04.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2019, soweit der Beklagte der Klägerin Regelleistungen für die Zeit vom 01.11.2019 bis 31.10.2020 bewilligt hat. Der Änderungsbescheid vom 23.11.2019 ist hinsichtlich der Bewilligung von Regelleistungen für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 31.10.2020 gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens und mit Klageerhebung des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens geworden, auch wenn er erst nach Erlass des Widerspruchsbescheides und vor Erhebung der Klage vor dem Sozialgericht ergangen ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 12.05.1993 – 7 RAr 56/92 – juris Rn. 13 und vom 29.11.1990 – 7 RAr 10/89 – juris Rn. 26, Jüttner in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 86 Rn. 2 unter weiterem Hinweis auf Behrend in: Hauck/Behrend, § 86 Rn. 5).

 

Die Klägerin verlangt mit ihrem Klageantrag zutreffend im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) höhere Regelleistungen für den Bewilligungszeitraum vom 01.11.2019 bis 30.10.2020 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung. Die ablehnende Entscheidung hinsichtlich eines bestimmten Bedarfs kann wegen der in § 41 Abs. 3 SGB II (i.d.F. des Neunten Gesetzes zur Änderung des SGB II – Rechtvereinfachung – und zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26.07.2016 [BGBl. I S. 1824]) vorgeschriebenen abschnittsweisen Bewilligung von Leistungen grundsätzlich keine Bindungswirkung für zukünftige Bewilligungsabschnitte entfalten (vgl. BSG, Urteile vom 14.02.2013 – B 14 AS 48/12 R – juris Rn. 9 und vom 26.05.2011 – B 14 AS 146/10 R – juris Rn. 14 f. m.w.N.), sodass sich der Klageanspruch auf den zugrundeliegenden Bewilligungszeitraum begrenzen muss. Die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen einer kostenaufwändigen Ernährung kann außerdem nicht allein zulässiger Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein. Die Regelungen der Beklagten über die laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lassen sich in rechtlich zulässiger Weise nur hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung und Regelleistungen (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 30.06.2021 – B 4 AS 76/20 R – juris Rn. 11 m.w.N.), nicht jedoch in weitere isolierte Streitgegenstände aufspalten (vgl. BSG, Urteile vom 14.02.2013 – B 14 AS 48/12 R – Rn. 9 und vom 24.02.2011 – B 14 AS 49/10 R – juris Rn. 13).

 

Die Klägerin hat im streitigen Zeitraum keinen weitergehenden Anspruch auf Regelleistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung.

 

Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig und hilfebedürftig sind (Nr. 2 und 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4).

 

Die Klägerin bewegte sich im gesamten streitigen Zeitraum innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB II. Sie hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war zudem erwerbsfähig i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf (nicht) absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anhaltspunkte dafür, dass dies bei der Klägerin trotz ihrer Krankheiten nicht der Fall gewesen wäre, wurden weder vorgetragen noch sind solche sonst ersichtlich. Die Klägerin war zudem im streitigen Bewilligungsabschnitt gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II i.V.m §§ 911 ff. SGB II hilfebedürftig. Weder sie noch der mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebende Ehemann (§ 7 Abs. 4 Nr. 3 Buchstabe a SGB II) bezogen Einkünfte, sodass die begehrte Zuerkennung eines Mehrbedarfs auch alleinig Auswirkungen auf den Leistungsanspruch der Klägerin hätte.

 

Der Klägerin stand als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft aus zwei Partnern, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, im Jahr 2019 Regelleistungen i.H.v. 382,00 EUR monatlich (vgl. § 20 Abs. 4 SGB II i.V.m. § 2 Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a des SGB XII maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlage zu § 28 SGB XII für das Jahr 2019 vom 19.10.2018 (BGBl. I S. 1766) (Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2019) und ab 01.01.2020 i.H.v. 389,00 EUR monatlich zu (vgl. vorgenannte Verordnung vom 15.10.2019 für das Jahr 2020, BGBl. I S. 1452). Die Regelleistungen wurden mit den streitigen Bescheiden bewilligt und auch ausgezahlt.

 

Der Klägerin stehen darüber hinaus keine höheren Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II zu.

 

Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt. Kostenaufwändiger i.S.d § 21 Abs. 5 SGB II ist eine Ernährung, die von dem im Regelbedarf umfassten typisierten Bedarf abweicht und von diesem nicht gedeckt wird (vgl. BSG Urteile vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R – juris Rm. 19 und vom 20.01.2016 – B 14 AS 8/15 R – juris Rn. 15). Voraussetzung ist zudem ein medizinisch begründetes, besonderes Ernährungsbedürfnis. Ein solches liegt vor, wenn mit der Regelernährung bestimmte Inhaltsstoffe nicht vermieden werden können, sodass aus physiologischen Gründen ein objektiver Bedarf an einer besonderen Ernährung bedingt ist, die auf einer spezifischen Ernährungsempfehlung beruht (vgl. BSG, Urteile vom 14.02.2013 – B 14 AS 48/12 R – juris Rn. 12, vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R – juris Rn. 19 und vom 20.01.2016 – B 14 AS 8/15 R –juris Rn. 15). Dasselbe gilt, wenn aus medizinischen Gründen zur Abwehr einer Mangelernährung ein besonderer Nährstoffbedarf besteht, der wiederum nur über besondere oder zusätzliche Nahrungsmittel gedeckt werden kann. Die Prüfung des Anspruches auf Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung erfolgt demnach in mehreren Schritten (vgl. BSG, Urteil vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R – juris Rn. 16 m. w. N.). Anspruchsvoraussetzungen sind, dass beim erwerbsfähigen und hilfebedürftigen Leistungsberechtigten

 

  1. medizinische Gründe im Sinne von gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen
  2. die Ernährung kostenaufwändig(er) ist,
  3. ein Ursachenzusammenhang zwischen den medizinischen Gründen und der kostenaufwändigen Ernährung besteht, ohne dass es auf die Einhaltung dieser Ernährung ankommt, und
  4. die betreffende Person Kenntnis von dem medizinisch bedingten besonderen Ernährungsbedürfnis hat.

 

(vgl. zum Ganzen auch SächsLSG, Urteil vom 11.08.2016 – L 3 AS 10/12 – Rn. 38 bis 43). Hierbei dienen die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe, nunmehr in aktueller Version zum Stand des 16.09.2020 benannt als „Empfehlungen des DV zur Gewährung des Mehrbedarfs bei kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII“ (vgl. https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv-12-20_kostenaufwaendige-ernaehrung.pdf), die in selber Weise aber auch für die Bemessung des Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 5 SGB II herangezogen werden können, als Orientierungshilfe. Sie können zu einem Abgleich mit den Ergebnissen der Einzelfallermittlungen herangezogen werden. Weitere Ermittlungen medizinischer und gegebenenfalls ernährungswissenschaftlicher Art sind entbehrlich, wenn die Ergebnisse der individuellen behördlichen und gerichtlichen Amtsermittlung keine Abweichungen von den Empfehlungen des DV erkennen lassen (vgl. BSG, Urteil vom 22.11.2011 – B 4 AS 138/10 R – juris Rn. 23 m.w.N.). Besonderheiten, die Anlass zu weiteren Ermittlungen geben können, sind substantiiert geltend zu machen (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R – juris Rn. 23 m.w.N.).

 

Da die Empfehlungen des DV keine Rechtsnormqualität aufweisen (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R – juris Rn. 23 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 27.02.2008 – B 14/7b AS 32/06 R – und – B 14/7b AS 64/06 R – jeweils juris), gibt es keine Hinderungsgründe, die in einer Aktualisierung enthaltenen medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse auch mit den Ergebnissen der Amtsermittlung zu vergleichen bzw. in diese einfließen zu lassen, wenn diese Zeiträume betreffen, die vor der Veröffentlichung der neuen Empfehlungen lagen (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 AS 100/10 R – juris Rn. 23 unter Hinweis auf SächsLSG, Urteil vom 26.02.2009 – L 2 AS 152/07 – juris und Landessozialgericht [LSG] Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 09.03.2009 – L 8 AS 68/08 – juris zur Überarbeitung der Empfehlungen in Bezug auf einen Mehrbedarf bei Diabetes Mellitus vom 01.10.2008).

 

Zwischen den Beteiligten unstreitig leidet die Klägerin seit etwa dem Jahr 2013 an einer chronischen Niereninsuffizienz, die in der gesamten Zeit und insbesondere im streitigen Bewilligungszeitraum nicht dialysepflichtig war. Im Jahr 2022 sind zudem weitere Erkrankungen, namentlich Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Hyperurikämie, Hypothyreose, chronische vertebragene Beschwerden, Arthrose, Anpassungsstörungen, Hypercholesterinämie, peripher arterielle Gefäßkrankheit sowie multiple Polyknospen aus dem Kolon, allesamt Adenome bis 6mm, von den behandelnden Ärzten diagnostiziert, wobei große Teile der benannten Erkrankungen bereits seit dem Jahr 2015 belegt sind. Der gerichtlich bestellte Sachverständige, Dr. med. E.... bestätigt in seinem Sachverständigengutachten weiter, dass die Niereninsuffizienz aufgrund der in den vorhandenen Laborbefunden festgestellten GFR im Jahr 2022 das Stadium 3 A aufwies. Entsprechende Werte für den streitigen Zeitraum liegen demgegenüber nicht vor. Zugleich hat der Sachverständige nachvollziehbar die Annahme geäußert, dass es sich um eine Nierenschädigung im Rahmen der ebenfalls vorliegenden Bluthochdruckerkrankung handelt. Die vorgelegten Laborbefunde aus dem Jahr 2022 und insbesondere die dort vermerkten HbA1C-Werte belegen das Vorliegen eines gut eingestellten Diabetes mellitus, wobei der Sachverständige kein Aussagen dazu treffen konnte, ob diese Einstellung auf eine entsprechende Diät oder auf eine medikamentöse Therapie zurückzuführen ist und auch die Klägerin selbst keine Angaben dazu gemacht hat, ob sie eine Diät einhält, im Rahmen derer sie schnell resorbierbare Kohlenhydrate vermeidet. Eine diabetische Nephropathie, also eine Nierenerkrankung, die als Komplikation des Diabetes mellitus auftritt, ist nicht belegt. Die vorgenannten Erkrankungen sowie die peripher arterielle Verschlusskrankheit und die diagnostizierte Hypercholesterinämie haben nach der nachvollziehbaren Einschätzung des Sachverständigen, der der Senat folgt, maßgeblichen Einfluss auf die empfohlene Ernährungsweise der Klägerin.

 

Der Senat entnimmt dem gerichtlichen Sachverständigengutachten und den Äußerungen des Hausarztes nicht, dass die Erkrankungen im streitigen Bewilligungszeitraum schwerwiegender waren, mithin im Jahr 2022 gegenüber dem streitigen Zeitraum eine Besserung des Gesundheitszustandes eingetreten ist. Vielmehr erscheint dem Senat im Einklang mit der Einschätzung des Sachverständigen eine kontinuierliche Verschlechterung wahrscheinlicher. Ob die Krankheitsstadien wie sie für das Jahr 2022 festgestellt sind, somit tatsächlich auch bereits im streitigen Zeitraum vorgelegen haben, ist anhand der vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht abschließend geklärt, muss aber auch nicht weiter aufgeklärt werden. Denn der für das Jahr 2022 festgestellte Gesundheitszustand rechtfertigt bereits keinen medizinischen bedingten Ernährungsmehrbedarf.

 

Ausgehend von den o.g. Ausführungen zur Rechtsqualität hat der Senat – wie auch bereits das Sozialgericht – die Empfehlungen des DV zum Stand der Verabschiedung am 16.09.2020 als Orientierungshilfe herangezogen. Zu Menschen mit einer Niereninsuffizienz ohne die Notwendigkeit der Dialysetherapie führen die Empfehlungen Folgendes aus (Seite 13 f.):

 

„Bei der chronischen Niereninsuffizienz ohne Dialysetherapie wird ernährungswissenschaftlich eine Beschränkung der Eiweiß- und Kochsalzzufuhr empfohlen. Die Mengenempfehlungen für die Proteinzufuhr entsprechen dem allgemein für Erwachsene empfohlenen Wert der Deutschen Gesellschaft für Ernährung DGE. Es besteht daher kein ernährungsbedingter Mehrbedarf.“

 

In selber Weise weisen die Empfehlungen des DV für die Erkrankung an Diabetes mellitus Typ I und II (Zuckerkrankheit), Hypertonie (Bluthochdruck), Hyperurikämie (Erhöhung der Harnsäure) darauf hin, dass nach dem aktuellen Stand der Ernährungsmedizin bei diesen Erkrankungen diätetisch eine Vollkost bzw. individuell angepasste Vollkost angezeigt ist, die regelhaft nicht zu einem Mehrbedarf führt (vgl. Seite 10). Letzteres spiegelt die Empfehlungen des DV bereits zum Stand des 10.12.2014 (siehe https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2014/dv-28-14-krankenkostzulagen.pdf) und des 01.10.2008 wider (vgl. zu Diabetes mellitus sowie (arterieller) Hypertonie bereits BSG, Urteile vom 20.02.2014 – B 14 AS 53/12 R – juris Rn. 17).

 

Die aktuellen Erkenntnisse entsprechen dem Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis (LEKuP) aus dem Jahr 2019 (vgl. https://www.dgem.de/sites/default/files/PDFs/Hauner%20H_2019_Leitfaden%20Ern%C3%A4hrungstherapie%20in%20Klinik%20und%20P raxis_LEKuP.PDF), der eine grundlegende Überarbeitung des zuletzt im Jahr 2004 von der Deutschen Akademie für Ernährungsmedizin e.V. (DAEM) herausgegebenen Rationalisierungsschemas darstellt. Der LEKuP wurde in enger Zusammenarbeit der verschiedenen Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) und die Deutsche Akademie für Ernährungsmedizin e.V. (DAEM) mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM), dem Berufsverband Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM), der Deutschen Adipositas-Gesellschaft e. V. (DAG), dem Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e. V. (VDD) und dem Berufsverband Oecotrophologie e. V. (VDOE) erstellt. Gemeinsames Ziel der beteiligten Fachgesellschaften und -verbände war es dabei, auf Grundlage evidenzbasierter Leitlinien einen aktuellen und konsensbasierten Leitfaden für die praktische Ernährungstherapie in Klinik und Praxis zu verfassen. Weiteres Ziel der Überarbeitung des Rationalisierungsschemas war es, damit eine Vorlage zu schaffen, aus der ein Kostformenkatalog für stationäre und ambulante medizinische Einrichtungen nach den lokalen Bedürfnissen abgeleitet werden kann. Die dem LEKuP zugrundeliegenden Empfehlungen basieren auf den D-A-CH-Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) für Erwachsene und entsprechen einer vollwertigen und gesundheitsförderlichen Ernährung. Abhängig von krankheitsspezifischen Erfordernissen werden in dem Leitfaden Abweichungen und Ergänzungen vorgenommen, sodass eine Ernährungstherapie umgesetzt werden kann, die alle ernährungsbezogenen Maßnahmen zur Wiederherstellung von Gesundheit und Wiedererlangung des Handlungsvermögens von Patienten darstellt (vgl. S. 384 LEKuP).

 

Für Erkrankte an Diabetes mellitus, Hyperurikämie, Herz-Kreislauf-Krankheiten und arterielle Hypertonie (vgl. S. 392 ff. LEKuP) wird danach Vollkost empfohlen (vgl. zum Begriff der Vollkost SächsLSG, Urteil vom 11.08.2016 – L 3 AS 10/12 – juris Rn. 48 bis 66, zudem S. 387 f. LEKuP). Nichts Anderes gilt im Grundsatz für die chronische Niereninsuffizienz der Klägerin in dem im Jahr 2022 ermittelten Stadium 3 A. Bei Nierenkrankheiten sind alle Vollkostformen geeignet, die lediglich an das jeweilige Stadium der Erkrankung adaptiert werden. Die Ernährungstherapie muss stadienabhängig erfolgen und neben einer adäquaten Energiezufuhr insbesondere die Proteinzufuhr abgestuft anpassen. Für die bei der Klägerin im Jahr 2022 festgestellte CKD 3a sieht der LEKuP vor, auf biologisch hochwertige Proteinkombinationen zu achten, ggf. mediterane Kost zu sich zu nehmen (vgl. zu allem S. 403 f. LEKuP). Mediterane Kost zeichnet sich dabei durch einen hohen Gehalt an Gemüse, Hülsenfrüchten, Obst, fermentierten Milchprodukten, Nüssen und Samen, Fisch und Olivenöl aus. Gleichzeit ist diese Kost durch einen geringen Verzehr von Fleisch und Wurstwaren, Milch und Milchprodukten sowie Fertigprodukten mit verborgenen Fetten charakterisiert (vgl. S. 388 LEKuP). Darüber hinaus wird Gewichtssenkung bei Übergewicht bzw. Adipositas, ausreichende Energiezufuhr zur Vermeidung einer negativen Stickstoffbilanz und eine Begrenzung der Natriumzufuhr empfohlen. Eine Einschränkung der Flüssigkeits- und Kaliumzufuhr ist in der Regel nicht notwendig.

 

Anderes folgt weder aus den Stellungnahmen des Hausarztes noch aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, der den Umstand ausdrücklich berücksichtigt hat, dass die Klägerin an mehreren Krankheiten leidet, die sich gegenseitig beeinflussen können und Anpassungen in der Ernährung erfordern.

 

Der Hausarzt Dr. D.... hat in seiner letzten Stellungnahme vom 13.05.2022 ausdrücklich mitgeteilt, dass eine besondere Ernährung(sform) bei der Klägerin nicht notwendig sei. Dies stellt eine scheinbare Abweichung gegenüber seinen Äußerungen vom 31.05.2018 dar. Dabei ist jedoch offengeblieben, was der Hausarzt danach mit eiweißdefinierter Kost tatsächlich gemeint hat. Kann der Leistungsempfänger nicht darlegen, dass sich eine notwendige „eiweißdefinierte Kost“ von einer vollwertigen Ernährung unterscheidet, so besteht kein Anspruch auf Bewilligung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.02.2022 – L 21 AS 33/22 B ER – juris Rn. 6).

 

Der gerichtliche Sachverständige Dr. E.... hat darauf hingewiesen, dass bei der hier vorliegenden chronischen Niereninsuffizienz und gleichzeitig bestehendem Diabetes mellitus eine Eiweißreduktion auf 0,55 – 0,6 mg je kg Körpergewicht pro Tag empfohlen wird. Zugleich wird von ihm mitgeteilt, dass im „Konzert der Maßnahmen“, die zur Verhinderung eines Fortschreitens einer chronischen Niereninsuffizienz beitragen können, proteinarme Diät eher einen niederen Stellenwert aufweist. Proteinrestriktion hat nur bei Nierenerkrankungen, die mit einer großen Eiweißausscheidung einhergehen, höheren Stellenwert. Dies ist nach den Feststellungen des Sachverständigen bei der Klägerin aber nicht der Fall. Auch der Hausarzt hat sich dahingehend nicht geäußert. Bedeutsamste Maßnahme zur Progressionshemmung der Niereninsuffizienz ist demnach nach Auffassung des Sachverständigen die medikamentöse Behandlung, die von der Krankenversicherung der Klägerin sicherzustellen ist. Zugleich entnimmt der Senat den sachverständigen Äußerungen, dass die Optimierung des arteriellen Hypertonus, mithin des Bluthochdruckes, und die stabile Einstellung des Diabetes mellitus die Progression der Niereninsuffizienz hemmen. Zur Optimierung des Blutdruckes ist eine kochsalzarme Ernährung, beim Diabetes mellitus die Einschränkung der Einnahme von schnell resorbierbaren Kohlenhydraten empfohlen. Nicht zuletzt hat der Senat zur Kenntnis genommen, dass die Klägerin an einer peripher arteriellen Verschlusskrankheit leidet und eine Hypercholesterinämie diagnostiziert ist, weshalb der Cholesterinstoffwechsel ebenfalls zu optimieren ist.

 

All dies führt jedoch nicht zu einem Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. Der gerichtlich bestellte Sachverständige führt dazu ausdrücklich aus, dass nicht die Verwendung spezifisch hergestellter Nahrungsmittel, sondern vielmehr eine Ernährungsberatung empfohlen wird, die auf eine gezielte Auswahl von Lebensmitteln aus dem Angebot der allgemeinen Supermärkte hinwirkt. Schon deshalb hat der von der Klägerin vorgelegte Vergleich zwischen normalen Lebensmitteln und besonders proteinreduzierten Waren keine streitentscheidende Bedeutung. Die Klägerin ist auf eine Auswahl von üblichen Nahrungsmitteln zu verweisen, die eiweiß-, kochsalz-, cholesterin- und kohlenhydratarm, mithin lediglich reduziert ist. Dies entspricht im Ganzen den Nahrungsempfehlungen des LEKuP. Völlig zurecht weist der Beklagte insofern darauf hin, dass sich fett- und salzarme Kost nicht nur durch besondere Diätlebensmittel, sondern durch die sachgerechte Auswahl solcher Produkte sicherstellen lässt, die nicht mehr Kosten verursachen als vergleichbare Lebensmittel mit höherem Gehalt an Fett etc. (z.B. Magerquark anstelle fettreicherem Quark). Erhöhte Aufwendungen für besonders magere Fleischprodukte kann die Klägerin zudem schlicht vermeiden, indem sie verstärkt auf frisches Gemüse zurückgreift. Dabei wird auch dem Umstand genüge getan, auf schnell resorbierbare Kohlenhydrate, wie sie beim Obst auftreten, zu verzichten. Die Klägerin muss, anders als bei Dialysepatienten, auch nicht vor einer Mangelernährung bewahrt werden.

 

Geht es demnach bei der medizinisch notwendigen Ernährung der Klägerin nur um eine gezielte Auswahl innerhalb des allgemeinen Lebensmittelangebotes, um eine angepasste Vollkostform ggf. unter Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel sicherzustellen, ist ein Mehrbedarf i.S.d. § 21 Abs. 5 SGB II nicht begründet (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.12.2016 – L 7 AS 578/15 – juris Rn. 29). Denn der notwendige Bedarf für Ernährung ist als ein Teil des Regelbedarfs typisierend zuerkannt worden, wobei von der Deckung der laufenden Kosten eines typischen Leistungsberechtigten im Rahmen eines soziokulturellen Existenzminimums für eine ausreichende ausgewogene Ernährung im Sinne einer ausreichenden Zufuhr von Proteinen, Fetten, Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen ausgegangen wurde. Damit gilt im Ergebnis eine Vollkosternährung als vom Regelbedarf gedeckt, weil es sich hierbei um eine ausgewogene Ernährungsweise handelt, die auf das Leitbild des gesunden Menschen Bezug nimmt (vgl. BSG, Urteil vom 20.02.2014 – B 14 AS 65/12 R – juris Rn. 13 m.w.N.). Soweit der gerichtlich bestellte Sachverständige in diesem Zusammenhang eigene Auffassungen zu vermeintlichen Mehrkosten wiedergeben hat, folgt der Senat dem nicht, weil Feststellungen zu einem finanziellen Mehraufwand nicht Gegenstand der ausschließlich medizinischen Begutachtung waren, durch den Sachverständigen waren.

 

Die Klägerin kann einen Anspruch auf Mehrbedarf auch nicht daraus ableiten, dass ihr im vorherigen Bewilligungszeitraum im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens auf das Anerkenntnis des Beklagten ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 21 Abs. 5 SGB II noch zuerkannt worden ist. Eine von § 21 Abs. 5 SGB II abweichende Bestandsschutzregelung des Inhalts, dass ein einmal bewilligter Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bei unveränderter gesundheitlicher Beeinträchtigung unabhängig vom aktuellen – gegebenenfalls gegenüber einem früheren veränderten – wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu gewähren wäre, gibt es nicht. Ein Anspruch auf Bestandsschutz besteht nur im Rahmen der jeweiligen Bewilligung nach Maßgabe der §§ 45, 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Ein weitergehender Anspruch auf Bestandsschutz besteht auch nicht aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben, insbesondere denen aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Denn das Grundgesetz enthält nur ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 [Hartz IV-Regelsatz, Hartz IV-Gesetz] –juris Rn. 133 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BVerfG kann der Umfang dieses Anspruchs nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden, sondern hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab. Bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu, der die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs umfasst (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, a. a. O., Rn. 138, m. w. N.). Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn bei einem besonderen Anspruch im Gesamtkomplex der Gewährleistung des Existenzminimums, bei dem es auf das Vorliegen von Voraussetzungen aus einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin – wie vorliegend der Medizin – ankommt, gefordert wird, dass auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abzustellen ist (so schon SächsLSG, Urteil vom 11.08.2016 – L 3 AS 10/12 – juris Rn. 84).

 

Nach alledem ist die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

 

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe i.S.d. § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
Saved