S 3 KR 559/17

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Osnabrück (NSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Osnabrück (NSB)
Aktenzeichen
S 3 KR 559/17
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
 

Der Bescheid der Beklagten vom 04.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2017 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Bildschirmlesegerät mit Vorlesefunktion Merlin Elite pro 24 Zoll zu versorgen.

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind von der Beklagten zu tragen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Versorgung mit einem kombinierten elektronischen Lese- und Vorlesegerät.

 

Der am B.. B..1943 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankversichert. Unter Vorlage eines Kostenvoranschlags für ein „Merlin Elite pro 24 Zoll“ Bildschirmlesegerät inklusive Vorlesefunktion wandte sich die Firma C. GmbH mit Schreiben vom 10.03.2017 im Namen des Klägers an die Beklagte unter Beifügung einer entsprechenden augenärztlichen Verordnung vom 16.02.2017 und beantragte dafür die Kostenübernahme. Die Beklagte wandte sich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zwecks Prüfung. In seinem/ihrem Gutachten vom 23.03.2017 erklärte der/die Sachverständige, der Kläger leide an einer funktionellen Erblindung. Der Visus sei mit Lichtschein für das rechte Auge und Handbewegungen für das linke Auge angegeben. Es seien auch schon vor mehr als fünf Jahren Blindenhilfsmittel erforderlich geworden. Aus den vorgelegten Unterlagen erschließe sich die Notwendigkeit einer elektronisch vergrößernden Sehhilfe nicht. Denn es sei nicht erkennbar, dass der Visus hierfür noch ausreiche. Zur Herstellung einer ausreichenden Lesefähigkeit reiche die Versorgung mit einem Vorlesegerät aus. Dies sei deutlich wirtschaftlicher als das beantragte kombinierte Gerät.

Mit Bescheid vom 04.04.2017 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag ab und erklärte, dass für die Herstellung der Lesefähigkeit die Versorgung mit einem Vorlesegerät ausreiche. Hiergegen erhoben die Prozessbevollmächtigten des Klägers Widerspruch. Zur Begründung machten die Prozessbevollmächtigten zum einen geltend, dass das vorhandene geschlossene Vorlesegerät nicht mehr funktionsfähig sei. Der Kläger wolle ein solches auch nicht, selbst wenn es noch repariert werden könne, behalten. Denn das Bildschirmlesegerät mit Vorlesefunktion sei gerade deswegen beantragt worden, weil der Bedarf des Klägers durch das geschlossene Vorlesegerät nicht gedeckt werden könne. Die geschlossenen Systeme erlaubten allein das Einscannen von Texten ohne weitere Bearbeitungsmöglichkeiten. Gerade längere und komplexe Texte seien mittels eines geschlossenen Vorlesesystems nicht adäquat und bedarfsdeckend erfassbar. Die eingescannten Texte könnten nicht bearbeitet werden. Dies führe dazu, dass sie vollkommen unstrukturiert wiedergegeben würden. Besonders bedeutsam werde dieser Umstand zum Beispiel bei der Lektüre von Lexika oder Zeitschriften, die zudem wegen ihres Formats im Spaltendruck mit integrierten Werbeflächen und Fotos ohnehin nur in unzureichender Qualität von dem Kläger selbständig eingescannt werden könnten. Außerdem gehe auch aus der Stellungnahme des MVZ für Augenheilkunde im Klinikum A-Stadt vom 09.05.2017 eindeutig hervor, dass der Kläger noch kurze Texte so lesen könne. Er brauche für längere Texte die Vorlesefunktion, da wegen der minimalen Restsehschärfe hier das Lesen mit einem reinen Lesegerät zu schwierig sei. Der Kläger benötige das beantragte kombinierte Bildschirmvorlesegerät für die Nutzung zu Hause. Die Vorlesefunktion diene dem Erfassen von längeren Texten. Die Vergrößerungsfunktion sei unerlässlich, um auch handgeschriebene Texte lesen und Bilder ansehen zu können bzw. sich in umfangreichen Texten zur Auswahl der eigentlichen Lektüre orientieren und die wesentlichen Passagen auffinden zu können. Der Kläger sei auch auf das Gerät insbesondere für das Ausfüllen von Formularen, Anfertigen von Notizen und Schreiben von Briefen angewiesen. Auch für einige Tätigkeiten im Haushalt wie zum Beispiel das Lesen von Aufschriften auf Lebensmitteln oder Putzmitteln sei die Vergrößerungsfunktion unverzichtbar. Das beantragte Gerät sei daher notwendig zur Deckung seines Grundbedürfnisses nach informationeller und kommunikativer Selbstbestimmung. Zudem sei auch bezüglich der Vergrößerungsfunktion des Hilfsmittels der unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen. Insoweit gelte das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits.

Die Beklagten schaltete daraufhin erneut den MDK ein. Die Sachverständige Dr. D., Augenärztin, führte in ihrem Gutachten vom 08.06.2017 dazu aus, es sei bei einem Visus von Lichtschein und Fingerzählen nicht glaubhaft nachvollziehbar, dass mit einem elektronischen Lesegerät sinnerfassendes Lesen möglich sei. Aus diesem Grund sei der Versicherte mit einem geschlossenen Vorlesesystem versorgt worden. Er habe somit Zugang zu gedruckten Texten im Rahmen des Basisausgleichs. Damit sei die Krankenkasse ihren Versorgungsauftrag nachgekommen. Die zusätzliche Versorgung mit einer elektronisch vergrößernden Sehhilfe überschreite das Maß des medizinisch Notwendigen und sei somit unwirtschaftlich. Da im Vergleich zu einem geschlossenen System mit einem offenen Vorlesegerät der Zugang zu gedruckten Medien barrierefreier sei, sei der Krankenkasse zu empfehlen, aus Kulanzgründen einen Austausch des geschlossenen gegen ein offenes Vorlesesystem in Erwägung zu ziehen.

Das Ergebnis der Begutachtung teilte die Beklagte dem Kläger mit und bat mitzuteilen, ob er seinen Widerspruch aufrechterhalten wolle. Zugleich erklärte sie, dass die Versorgung mit einem Standard-Bildschirmlesegerät möglich sei. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers teilten dazu mit, dass der Widerspruch aufrecht erhalten bleibe: Es sei anscheinend so, dass der MDK-Sachverständigen bei Erstellung des Gutachtens die Widerspruchsbegründung nicht vorgelegen habe. Außerdem sei darauf hinzuweisen, dass es vor acht Jahren Bildschirmlesegeräte mit Vorlesefunktion noch nicht gegeben habe. Für den Kläger habe daher nur die Möglichkeit bestanden, sein Grundbedürfnis nach Information mit dem damals beantragten geschlossenen Vorlesesystem zu erfüllen. Hätte bereits zum damaligen Zeitpunkt die Möglichkeit bestanden, ein Bildschirmlesegerät mit Vorlesefunktion zu erhalten, so hätte der Kläger die Versorgung mit einem geschlossenen Vorlesesystem nicht beantragt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, es sei nicht nachvollziehbar belegt, dass mit dem zusätzlich beantragten elektronischen Lesegerät ein sinnerfassendes Lesen möglich sein könne.

 

Hiergegen richtet sich die am 08.12.2017 erhobene Klage. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers wiederholen dazu ihre Begründung aus dem Widerspruchsverfahren.

 

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 04.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Bildschirmlesegerät mit Vorlesefunktion „Merlin Elite pro 24 Zoll“ zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

              die Klage abzuweisen.

 

Das Gericht hat zur weiteren medizinischen Sachaufklärung einen Befundbericht vom Augenarzt Dr. D. eingeholt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Klage ist zulässig und auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 04.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2017 ist rechtswidrig und daher aufzuheben.

Versicherte haben gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach Satz 2 dieser Vorschrift umfasst die Krankenbehandlung unter anderem die Versorgung mit Hilfsmitteln. Hierzu regelt § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V konkret, dass Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Bei dem beantragten elektronischen Lese- und Vorlesegerät handelt es sich weder um ein nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossenes Mittel noch handelt es sich um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Von den in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten drei Tatbestandsalternativen ist vorliegend die dritte Alternative betroffen; das beantragte Gerät soll dem Behinderungsausgleich dienen. Es wird dabei danach unterschieden, ob es sich um Hilfsmittel zum mittelbaren oder unmittelbaren Behinderungsausgleich handelt. Während es bei dem unmittelbaren Behinderungsausgleich darum geht, die ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion durch das Hilfsmittel zu ermöglichen oder weitestgehend zu ersetzen, geht es im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs darum, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung angemessen auszugleichen, wobei von der gesetzlichen Krankenversicherung nur eine Basisversorgung geschuldet wird. Insoweit ist erforderlich, dass ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist. Hierzu gehören neben dem Sehen und Hören auch das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.

Das beantragte kombinierte elektronische Lese- und Vorlesegerät setzt nicht unmittelbar an der Behinderung selbst an wie zum Beispiel ein Körperersatzstück. Nach Auffassung des Gerichts ist es daher dem Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs zuzuordnen. Denn es kann das eingeschränkte Sehvermögen des Klägers nicht wiederherstellen. Ob eine Aufspaltung des Kombigeräts vorzunehmen ist, um im Hinblick auf die Lesefunktion des Geräts die Zuordnung zum Bereich unmittelbarer Behinderungsausgleich vornehmen zu können, kann vorliegend aber auch dahinstehen. Denn nach Auffassung des Gerichts hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Kombigerät auch dann, wenn man dieses Hilfsmittel komplett dem Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs zuordnet. Betroffen sind das allgemeine Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens sowie das Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen geistigen Freiraums. „Zu dem für das selbständige Wohnen erforderlichen geistigen Freiraum zählt unter anderem die Fähigkeit, die für eine selbständige Lebens- und Haushaltsführung notwendigen Informationen erhalten bzw. aufnehmen zu können. (…) Die für das selbständige Wohnen elementaren hauswirtschaftlichen Verrichtungen setzen eine uneingeschränkte visuelle Wahrnehmung voraus.“ (BSG, Urteil vom 10.03.2011, B 3 KR 9/10 R, Rn. 15, 17). Diese Grundbedürfnisse werden durch das vom Kläger beantragte kombinierte Vorlese- und Lesegerät befriedigt. Es erleichtert dem Kläger ein selbstbestimmtes Leben. Es ermöglicht ihm, wie auch von den Prozessbevollmächtigten des Klägers vorgetragen, alle möglichen Arten und Formen von Texten – handgeschriebene Texte, Bücher, Zeitschriften, Formulare, Notizen oder auch z.B. Aufschriften auf Lebensmitteln oder Putzmitteln – zu lesen bzw. sich längere Texte vorlesen zu lassen. Dass dem Kläger ein sinnerfassendes Lesen nicht mehr möglich sein könnte, wie der MDK nach Aktenlage annimmt, ist für das Gericht nicht überzeugend. Dem steht entgegen, dass eine erfolgreiche Erprobung stattgefunden hat und vor allem auch der behandelnde Augenarzt in seinem Befundbericht für das Gericht vom 20.03.2018 dazu erklärt hat, dass der Kläger ein solches Lese- und Vorlesegerät ausprobiert, als hilfreich bewertet habe und er keinen Grund habe, dies anzuzweifeln. Der Umstand, dass der Kläger bislang nur mit einem geschlossenen System versorgt worden ist, lässt ebenfalls keine negativen Schlussfolgerungen zu. Denn zu Recht ist insoweit vorgetragen worden, dass zum damaligen Zeitpunkt ein solches Kombinationsgerät noch nicht zur Verfügung gestanden hat. Mit den Erklärungen zur Begründung der Klage sowie aufgrund des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung hat das Gericht deshalb keine Zweifel daran, dass die beantragte Versorgung für den Kläger eine gute Möglichkeit bietet, die sehr stark eingeschränkte Sehfähigkeit jedenfalls teilweise auszugleichen. Dieses Hilfsmittel ist auch nicht unwirtschaftlich. Im Hinblick auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten kann unterstellt werden, dass das Hilfsmittel täglich benutzt wird. Es bietet daher auch bezüglich der Lesefunktion erhebliche Gebrauchsvorteile. Der Kläger brauchte sich daher nicht mit einem reinen Vorlesegerät zufriedengeben.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Rechtskraft
Aus
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