S 1 SB 311/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1 SB 311/19
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 SB 51/22
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 4/23 AR
Datum
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung und dem Entzug der Merkzeichen „G“ und „B“.

Die 1977 geborene Klägerin erlitt 2015 einen Verkehrsunfall mit Polytrauma und schwerem Schädel-Hirn-Trauma (Arbeitsunfall). Mit Bescheid vom 16.12.2016 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 60 sowie das Vorliegen der Merkzeichen „G“ und „B“ wegen der Hirnschädigung mit kognitiver Leistungsstörung fest. Die Berufsgenossenschaft erkannte nach durchgeführtem Klageverfahren eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 an und erkannte einen Neglect (Störung der Aufmerksamkeit) mit hierdurch bedingter Vernachlässigung der linken Körperseite nach Abriss von Nervenfasern im Gehirn als Unfallfolge an. 

Aufgrund der eingetretenen gesundheitlichen Besserungen änderte der Beklagte mit Bescheid vom 09.07.2019 den bisherigen Bescheid und stellte bei der Klägerin einen GdB von 40 fest und entzog ihr die Merkzeichen „G“ und „B“ ab dem 01.08.2019. Im Widerspruchsverfahren half der Beklagte insoweit ab als er mit Widerspruchsbescheid vom 15.10.2019 bei der Klägerin einen GdB von 50 feststellte.

Die Klägerin hat am 13.10.2019 vor dem Sozialgericht Kassel gegen die Herabsetzung des GdB und dem Entzug der Merkzeichen Klage erhoben.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 09.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen

Das Gericht hat Befundberichte eingeholt. Aus dem Befundbericht des Hausarztes Herr D. vom 30.12.2019 ergeben sich die Diagnosen eines Meteroismus, V.a. Gastritis, Zystitis, Hyperthyreose und Wirbelsäulenbeschwerden. Aus dem beigefügten Facharztberichten ergeben sich eine chronische Bandscheibenprotrusion LWK 5/6 (Radiologische Praxis 19.11.2018), Fibromyalgie (Kreisklinik Wolfhagen 01.11.2019, Neurologische Gemeinschaftspraxis Kassel/Vellmar 27.09.2019). Aus dem Befundbericht der Werner Wicker Klinik vom 03.01.2020 ergibt sich die Diagnose eines breitbasigen Bandscheibenvorfalls mit neuroforaminaler Stenose in Höhe HWK 6/7 und fraglicher Arachnoidalzyste in Höhe BWK 2 bis BWK 3. In dem Befundbericht vom 15.01.2020 gab der Schmerzmediziner Dr. E. die Diagnosen eines myofaszialen Schmerzsyndroms beidseitig, Fibromyalgiesyndrom beidseitig, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Zustand nach Polytrauma und Schilddrüsenunterfunktion an. Aus dem Befundbericht der neurologischen Gemeinschaftspraxis Kassel/Vellmar vom 05.03.2020 ergeben sich die Diagnosen chronischer Kopfschmerz, hirnorganisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma und chronisches Schmerzsyndrom. Des Weiteren wurden die Unterlagen des Durchgangsarztes Dr. G. eingeholt (Unfallchirurgie).

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von medizinischen Sachverständigengutachten. Der orthopädische Gutachter Dr. S. kommt in seinem Gutachten vom 24.06.2020 zu den Diagnosen eines LWS-Syndroms und HWS-Syndroms jeweils ohne radikuläre Defizite, Zustand nach Rippenserienfraktur rechts, Fibromyalgiesyndrom, Beinverkürzung links 1 cm, hirnorganisches Psychosyndrom nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Er geht davon aus, dass die Beschwerden an der HWS und LWS zusammen einen GdB von 20 ergeben, daneben nimmt er unter Annahme eines GdB von 40 für die Hirn-Störungen und 20 für das Fibromyalgiesyndrom einen Gesamt-GdB von 50 an. Eine höhere Bewertung empfiehlt er nicht, da sich Anteile des Fibromyalgiesyndrom mit denen der Hirnstörung und des Wirbelsäulen-Syndroms überschneiden würden. Die Voraussetzungen der Merkzeichen „G“ und „B“ seien nicht erfüllt, da es an einem Einzel-GdB von mindestens 50 fehle. Auch das Gangbild sei nicht nachhaltig gestört. Ein höheres Ausmaß der Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit könne er nicht feststellen.

Dr. H. kommt in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 09.11.2021 im Ergebnis zu derselben Einschätzung. Im Einzelnen diagnostiziert er auf seinem Fachgebiet ein hirnorganisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma, chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren, Verschleißerkrankung der LWS inkl. gesichertem Bandscheibenvorfall L5/S1 sowie Rückenschmerzen und rezidivierenden Lumboischialgien bds. S1, neurophysiologisch objektivierte S1-Radiculopathie, Verschleißerkrankung der HWS inkl. gesichertem Bandscheibenvorfall C6/C7 mit rezidivierenden nackenbetonten Kopfschmerzen und Karpaltunnelsyndrom rechts. Durch das hirnorganische Psychosyndrom seien anhaltende Beeinträchtigungen neuropsychologischen Leistungsvermögens insb. Durchhaltefähigkeit bzw. schnelle Ermüdbarkeit begründet, darüber hinaus Verlangsamung in Denkabläufen und weiterer höherwertiger neuropsychologischer Funktionen, die zu klinisch auffälliger Weitschweifigkeit im Vortrag führten. Da sich die Funktionseinschränkungen seit dem Schädel-Hirn-Trauma deutlich verbessert haben, sei jedoch nur noch von geringen Leistungsbeeinträchtigungen auszugehen und das Krankheitsbild mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Das chronische Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, so auch die Verschleißerkrankung der Wirbelsäule mit belastungsabhängigen Schmerzen inkl. neurophysiologisch objektivierter S1-Radiculopathie links. Weder durch das organische Psychosyndrom, die vom Rücken in die Beine ausstrahlenden Schmerzen noch der nur noch residual vorhandene Hemineglect würden die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ begründen. Die Klägerin sei uneingeschränkt in der Lage, eine ortsübliche Wegstrecke (2 km) in etwa einer halben Stunde zurückzulegen. Aus diesen Gründen sei auch das Merkzeichen „B“ nicht anzuerkennen. Insbesondere die residuale Vernachlässigung des linken Außenraumes (Hemineglect) sei nicht so schwerwiegend, dass eine ständige Begleitung erforderlich sei.

Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 04.03.2022 über die beabsichtigte Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört, woraufhin diese ihre Zustimmung schriftsätzlich erklärt haben.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und den Einzelheiten der Gutachten wird auf die Gerichtsakte, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.08.2021 sowie auf die beigezogene Schwerbehindertenakte des Beklagten Bezug genommen.
 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet, da der angefochtene Neufeststellungsbescheid in Gestalt des Widerspruchbescheides rechtmäßig ist und die Klägerin durch diesen nicht in ihren Rechten verletzt. 

I. Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 SGG durch Gerichtsbescheid entscheiden, nachdem die Beteiligten zuvor entsprechend angehört worden sind, ihnen eine angemessene Frist zur Stellungnahme eingeräumt worden ist und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt darüber hinaus so, wie er für die Entscheidung allein rechtlich relevant ist, geklärt ist. Der Gerichtsbescheid wirkt insofern als Urteil (§ 105 Abs. 3, 1. HS SGG).

II. Die Klage ist als reine Anfechtungsklage zulässig (vgl. Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 12.02.1997 - 9 RVs 12/95 = juris). 

III. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht in ihren Rechten verletzt, da diese rechtmäßig sind. Der Klägerin stand zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, d.h. zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides, (st. Rspr. BSG Urteil vom 17.04.1991 - 1 RR 2/89 = juris Rn. 17; BSG Urteil vom 20.04.1993 - 2 RU 52/92 = juris Rn. 15; BSG Urteil vom 24.11.1993 - 6 RKa 70/91 = juris Rn. 20; BSG Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 = juris Rn. 14; BSG - Urteil vom 10.09-1997 - 9 RVs 15/96 = juris Rn. 11; vgl. auch Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 54 Rn. 33 m.w.N) kein höherer GdB als 50 zu. Auch die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ lagen nicht (mehr) vor. Der Beklagte hat zu Recht die frühere Feststellung aufgehoben, den GdB auf 50 herabgesetzt und die Merkzeichen entzogen. 
1. Rechtsgrundlage des Bescheides vom 09.07.2019 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – 10. Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Bei den Feststellungsbescheiden nach § 69 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch – 9. Buch (SGB IX) handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSG Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 = juris; BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 6/12 R = juris Rn. 30; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 = juris Rn. 20 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000 - B 9 SB 3/00 R = juris). Eine Aufhebung ist dabei nur "insoweit" zulässig, als eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.01.2011, a.a.O.; BSG Urteil vom 19.09.2000, a.a.O.). 
Ob eine Änderung der Verhältnisse vorliegt und ob diese als wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X anzusehen ist, ist anhand der Vorschriften des SGB IX zu prüfen. 
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX definiert Behinderung als Abweichung der körperlichen Funktion, der geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Die Feststellung des Grades der Behinderung beruht auf § 152 SGB IX (§ 69 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung) i. V. m. § 153 Abs. 2 SGB IX. Aufgrund der Übergangsvorschrift des § 241 Abs. 5 SGB IX gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der auf Grund des § 30 Abs. 16 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung entsprechend, solange noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, so dass die Versorgungsmedizin-Verordnung und deren Anlage 1 zu § 2 (AnlVersMedV) weiterhin als Grundlage für die Bewertung des Grades der Behinderung heranzuziehen sind. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für den GdB die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG für den Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) festgelegten Grundsätze entsprechend. Zu beachten ist insofern jedoch, dass der Begriff des GdB ebenso wie der der MdE (abweichend von seinem Wortlaut) das Maß der gesundheitlichen Beeinträchtigung bezeichnet und nichts über die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz besagt. Eine Feststellung ist allerdings nur zu treffen, wenn ein GdB von mindestens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX).
Eine wesentliche Änderung ist anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung oder Verschlechterung des Behinderungszustandes eine Herabsetzung oder Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 ergibt, Teil A 7. der AnlVersMedV. Die Änderung der Bezeichnung der Funktionsbeeinträchtigungen oder das Hinzutreten weiterer Funktionsbeeinträchtigungen allein ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB stellen keine wesentliche Änderung dar (LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011, a.a.O. unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 24.06.1998 - B 9 SB 18/97 R = juris).
Ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen einen Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des letzten bindend gewordenen Bescheides mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Beklagten ermittelt werden. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheid festgestellten GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (so zutreffend LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 05.01.2011- L 6 (7) SB 135/06 = juris Rn. 21 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 19.09.2000, - B 9 SB 3/00 R - = juris; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 18.06.2002, - L 6 SB 142/00 = juris).

2. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Klägerin im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 16.12.2016 zugrunde gelegen haben, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten ist und der Gesamt-GdB aufgrund dessen mit 50 zu bewerten und die Merkzeichen „G“ und „B“ zu entziehen sind.

a. Der GdB ist mit 50 in der Gesamtschau angemessen beurteilt.

aa. Die Hirnschädigung mit kognitiven Leistungsstörungen ist nur noch mit einem GdB von 40 zu bewerten.

Nach Teil B Nr. 3.1.1. der AnlVersMedV sind Hirnschäden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Bestimmend für die Beurteilung des GdB ist das Ausmaß der bleibenden Ausfallserscheinungen. Dabei sind der neurologische Befund, die Ausfallserscheinungen im psychischen Bereich unter Würdigung der prämorbiden Persönlichkeit und ggf. das Auftreten von zerebralen Anfällen zu beachten (Teil B Nr. 3.1. der AnlVersMedV). Der Sachverständige Dr. H. erläutert nachvollziehbar, dass hier nur noch eine leichtgradige Leistungsbeeinträchtigung aufgrund der Hirnschäden vorliegt. Diese äußern sich vor allem in einem verminderten Leistungsvermögen und einer Verlangsamung in Denkabläufen und anderer neuropsychologischen Funktionen. Die Alltagsbewältigung ist jedoch nach wie vor erhalten und die Klägerin hat einen funktionalen Umgang mit ihren Einschränkungen gefunden.

bb. Das chronische Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren ist mit einem GdB von 20 zu bewerten, da es noch als eine leichtere Störung anzusehen ist.
Nach Teil B Nr. 3.7 der AnlVersMedV sind leichtere psychovegetative und psychische Störungen mit einem Grad der Behinderung von 0 bis 20 zu bewerten. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (zB ausgeprägter depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit einem Grad der Behinderung von 30-40 zu bewerten. Im Mittelpunkt stehen die Schmerzen der Klägerin (nackenbetonter Kopfschmerz, Rückenschmerzen in der Gesäß-Muskulatur, vom Rücken in beide Beine einstrahlende Schmerzen). Sie ist zudem schneller ermüdbar und kann sich nicht mehr so lange konzentrieren, was dann auch mit einer Reizbarkeit einhergeht. Hinzu kommen Schlafstörungen, v.a. wegen der Schmerzen. Gleichwohl verfügt die Klägerin weiterhin über eine erhaltene Alltags- und Tagesstruktur: Sie geht vor allem der Wahrnehmung von Heilmittelanwendungen nach, um sich nach dem stattgehabten Unfall gesundheitlich zu rehabilitieren, daneben kümmert sie sich um ihre Familie, den Haushalt und den Garten. Sie ist weiterhin sozial eingebunden, indem sie regelmäßigen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie in der Dominikanischen Republik hat, zwei Freundinnen in Deutschland hat und kirchlich engagiert ist. Dr. H. beschreibt in seinem Gutachten zudem eine durchgehende affektive Schwingungsfähigkeit der Klägerin. Eine Psychotherapie findet nicht statt, sie nimmt jedoch Amitriptylin als Antidepressivum und gegen die chronischen Schmerzen. Hierunter ist jedoch der beschriebene Zustand stabil. 

cc. Die Wirbelsäulenbeschwerden sind mit einem GdB von 20 zu bewerten.
Nach Teil B Nr. 18.9 der AnlVersMedV sind Wirbelsäulenschäden

  •     ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität mit 0
  •     mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) mit 10
  •     mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit 20
  •     mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) mit 30.

Die Klägerin hat Beschwerden in der LWS und HWS. So ist nach einer Fraktur der Querfortsätze der L1-S1 sowie Protrusion im Segment L5/6 die Rückbeugung der der LWS um ein Viertel eingeschränkt, die Vorbeugung gelingt uneingeschränkt. Die Klägerin hat daneben bei diagnostizierter Protrusion im Bereich C6/7 auch Schmerzen im Schulternackenbereich mit geringfügiger Bewegungseinschränkung bei der Seitneigung des Kopfes nach rechts (30/0/40° statt 45/0/45°). Da es sich hier um leichtgradige Einschränkungen in zwei Abschnitten handelt, erscheint eine Bewertung mit 20, d.h. eine Gleichsetzung mit mittelgradigen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, als angemessen. 

dd. Die weiteren Gesundheitsschäden bedingen keinen eigenen Einzel-GdB.

ee. In der Gesamtschau ist der GdB der Klägerin insgesamt mit 50 zu bewerten.

Der Gesamt-GdB ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau zu bilden (BSG, Urteil vom 09.12.2010, Az.: B 9 SB 35/10 B – juris; BSG, Urteil vom 30.09.2009, Az.: B 9 SB 4/08 R – juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.06.2012, Az.: L 13 SB 127/11 – juris). Eine Ermittlung des Gesamt GdB durch Addition der Einzelgrade der Behinderung ist dabei nicht zulässig. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind vielmehr allein die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (vgl. Teil A Nr. 3 c der AnlVersMedV). Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder bedingungslos nebeneinanderstehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdS/GdB-Tabelle feste Grade angegeben sind (vgl. Teil A Nr. 3 b der AnlVersMedV; BSG, Urteil vom 09.12.2010, Az.: B 9 SB 4/10 R – juris).
Ausgehend von einem GdB von 40 für die Hirnschädigung als höchster Einzel-GdB ist dieser auf 50 zu erhöhen, um in angemessener Weise die zusätzlichen Beeinträchtigungen durch das Schmerzsyndrom und die Wirbelsäulenschäden zu berücksichtigen. Hier ist jedoch auch zu beachten, dass sich die Beschwerden teilweise überschneiden, insb. hinsichtlich der Schmerzen und den orthopädischen Beeinträchtigungen. Ein Gesamt-GdB von 60 wäre vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen. Auch im Vergleich mit anderen Beeinträchtigungen, die für sich einen GdB von 50 bedingen würden, wie etwa die Hirnschädigung mit mittelgradigen, d.h. im Alltag sich deutlich auswirkenden Störungen, erscheint der Gesamt-GdB von 50 als angemessen, da die Auswirkungen der Hirnschädigung für sich diesen nicht begründen, in der Zusammenschau mit der Schmerzkrankheit und den orthopädischen Einschränkungen die Schwerbehinderteneigenschaft gleichwohl begründet wird. Eine höhere Bewertung kommt hingegen nicht in Betracht, da die Einschränkungen in der sozialen Teilhabe nicht so einschneidend sind.

b. Das Merkzeichen „G“ liegt nicht mehr vor.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ ist § 69 Abs. 4 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Nach § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. In Teil D, Nr. 1 d der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind Regelfälle normiert, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind. Danach sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens (u. a.) als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. 
Dies ist hier nicht der Fall, da auf orthopädischem Gebiet der GdB bei 20 liegt. Auch die verbliebenen Auswirkungen des Hirnschadens – v.a. der residuale Hemineglect – sind nicht so schwerwiegend, dass sie die Klägerin in einem solchen Ausmaß in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigen, dass die Voraussetzung für das Merkzeichen gegeben wäre. Bezeichnend ist hier, dass die Klägerin regelmäßig spazieren geht und den öffentlichen Nahverkehr nutzt.  

c. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ sind nicht mehr erfüllt.
Nach Teil 2 Nr. 2 der AnlVersMedV ist eine Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind.
Zum einen liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ nicht vor. Zum anderen ist insbesondere die Orientierungsfähigkeit der Klägerin nicht derart eingeschränkt, dass sie regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen wäre. So kann sie alleine mit dem öffentlichen Nahverkehr zu ihren Terminen fahren. Auch weiß sie sich zu helfen, wenn sie doch einmal aufgrund ihres Hemineglect ein Ziel auf der linken Seite nicht erreicht. Fremde Hilfe ist hierfür nicht erforderlich.

d. Die Herabsetzung des Grades der Behinderung auf 50 und der Entzug der Merkzeichen „G“ und „B“ ab dem 01.08.2019 war rechtmäßig, da eine wesentliche Verbesserung der gesundheitlichen Beeinträchtigung eingetreten ist. Der Bescheid 09.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019 ist rechtmäßig.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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