L 7 BL 2488/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 BL 3541/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 BL 2488/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 8. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung einer Bewilligung von Landesblindengeld mit Wirkung ab 1. Juli 2018 und die darauf beruhende Erstattungsforderung in Höhe von 3.500,00 EUR.

Bei der am 20. November 1945 geborenen Klägerin ist seit 1995 ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, H, Bl und RF festgestellt (Bl. 134 f. d. Verwaltungsakte). Sie bezog, seinerzeit noch in L. lebend, Leistungen nach dem Gesetz über die Gewährung eines Landesblindengeldes und anderer Nachteilsausgleiche (Landesblindengeldgesetz - LBlindG SN) von der Beklagten. 2014 erteilte die Klägerin ihrem Sohn, dem Zeugen D.W. eine Generalvollmacht. Dieser regelt seitdem auch die behördlichen Angelegenheiten der Klägerin.

Mit Änderungsbescheid vom 23. März 2017 (Bl. 162 d. Verwaltungsakte) hob die Beklagte aufgrund einer Gesetzesänderung die bisherige Bewilligung auf und bewilligte der Klägerin für die Zeit ab dem 1. Januar 2017 Leistungen nach dem LBlindG SN in Höhe von 350,00 Euro. Dem Bescheid waren auf der letzten Seite Hinweise zur Mitteilungspflicht beigefügt, in denen u.a. aufgeführt wurde, dass die Verlegung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes innerhalb des Freistaates S, in ein anderes Bundesland oder ins Ausland unverzüglich mitzuteilen sei. Überzahlungen, die dadurch entstünden, dass eine Änderung nicht oder verspätet mitgeteilt werde, müssten zurückgezahlt werden.

Am 1. Juli 2018 verzog die Klägerin nach P.

Aufgrund des Rücklaufs eines an die L-Adresse gerichteten Schreibens am 11. April 2019 führte die Beklagte einen Adressabgleich mit dem Melderegister durch, welcher ergab, dass die Klägerin seit dem 1. Juli 2018 in P gemeldet ist.

Mit Bescheid vom 16. April 2019 (Bl. 224 f. d. Verwaltungsakte) hob die Beklagte daraufhin ohne vorherige Anhörung der Klägerin den Bescheid vom 23. März 2017 mit Wirkung ab dem 1. Juli 2018 auf und forderte die Erstattung der bewilligten Leistungen in Höhe von 3.500,00 EUR. Durch den Wegzug in ein anderes Bundesland, welcher der Beklagten nicht mitgeteilt worden sei, lägen die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem LBlindG SN nicht mehr vor, weil die Klägerin ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Freistaat S habe. Der Anspruch auf den Nachteilsausgleich für Blindheit entfalle somit zum 1. Juli 2018. Die festgestellte Überzahlung für den Zeitraum Juli 2018 bis April 2019 in Höhe von 3.500,00 EUR sei zu erstatten.

Hiergegen legte die Klägerin am 9. Mai 2019 Widerspruch (Bl. 236/237 d. Verwaltungsakte) ein und führte zur Begründung an, ihr sei nicht bekannt gewesen, dass sie der Beklagten einen Umzug innerhalb Deutschlands habe mitteilen müssen. Sie sei davon ausgegangen, die Ummeldung beim Ordnungsamt reiche aus. Diese Ummeldung habe stattgefunden. Keinesfalls sei ihr vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Es sei zudem durch den Umzug keine Änderung zu ihren Gunsten eingetreten, auch in B-W stehe ihr Blindengeld zu, welches deutlich höher als in S sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2019 (Bl. 246 d. Verwaltungsakte) wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Bedingt durch den Wegzug der Klägerin nach B-W am 1. Juli 2018 ende der Anspruch auf die Zahlung des Blindengeldes nach dem LBlindG SN wegen des Wegfalls der Voraussetzungen – Wohnsitz/gewöhnlicher Aufenthalt in S – mit Ablauf des Monats Juni 2018. Sie – die Beklagte – habe die Bewilligung von Landesblindengeld auch rückwirkend aufheben dürfen, weil die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und Nr. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfüllt seien. Trotz des Hinweises im Änderungsbescheid vom 23. März 2017 habe die Klägerin ihr nicht den Umzug nach B-W mitgeteilt; hiervon habe sie, die Beklagte, erst durch die Anfrage bei der Meldebehörde erfahren. Darüber hinaus sei der Klägerin offenbar bewusst gewesen, dass ihr nach dem Umzug das gezahlte Landesblindengeld nicht mehr zustehe. Denn in ihrem Widerspruch habe sie angegeben, sie sei davon ausgegangen, ihre Mitteilungspflicht durch die Ummeldung beim Ordnungsamt erfüllt zu haben.

Hiergegen hat die Klägerin am 29. Oktober 2019 Klage bei dem Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und vorgetragen, sie habe ihrem Sohn eine Generalvollmacht erteilt. Anlässlich des Umzugs habe er ungefähr zehn Schreiben verfasst, um die neue Adresse den jeweils zuständigen Stellen anzuzeigen. Darunter sei auch ein Schreiben vom 23. Juni 2018 an die Beklagte gewesen; dieses Schreiben sei noch am selben Tag zur Post durch die Zeugin S.K. gegeben worden. Angesichts dessen habe sie der Beklagten ihren Umzug nach B-W rechtzeitig mitgeteilt. Aufgrund ihrer Sehbehinderung sei sie nicht in der Lage, an sie adressierte Bescheide selbst zu lesen; hierfür brauche sie die Hilfe ihres Ehemannes oder ihres Sohnes. Den Hinweis auf die Mitteilungspflicht im Bescheid vom 23. März 2017 habe ihr niemand vorgelesen. Sie selbst habe keine Kenntnis von der Mitteilungspflicht und deren Rechtsfolgen gehabt. Weiter sei sie davon ausgegangen, dass es sich bei den bewilligten Leistungen um Bundesleistungen handele, die ihr gewissermaßen „hinterher reisten“. Vor diesem Hintergrund habe sie nicht grob fahrlässig gehandelt. Im Übrigen bedeute die Rückforderung für sie eine besondere Härte; denn sie beziehe lediglich eine Rente in Höhe von etwa 1.100,00 EUR.

Mit Gerichtsbescheid vom 8. Juli 2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 S. 1 LBlindG SN i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X seien erfüllt. Nach Erlass des Bescheids vom 23. März 2017 – eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung – hätten sich die Verhältnisse wesentlich geändert, weil durch den Wegzug der Klägerin der Anspruch auf das bewilligte Landesblindengeld entfallen sei. Zwar habe die Klägerin möglicherweise nicht gewusst, dass ihr Anspruch auf das bewilligte Landesblindengeld ab dem 1. Juli 2018 weggefallen sei. Damit habe sie aber die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Der Bescheid vom 23. März 2017, welcher der Klägerin auch nach ihren eigenen Angaben durch ihren Ehemann oder Sohn vorgelesen worden sei, habe deutliche Hinweise auf die maßgebliche Rechtsgrundlage, also das Sächsische Landesblindengeldgesetz, enthalten. Schon vor diesem Hintergrund habe der Klägerin klar sein müssen, dass es sich um eine Leistung des Landes Sachsen gehandelt habe. Grobe Fahrlässigkeit sei zu bejahen.

Gegen den ihr am 29. Juli 2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 7. August 2020 Berufung bei dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihr Vorbringen im Klageverfahren. Bereits im Rahmen des Erörterungstermins vor dem SG habe sie mitgeteilt, dass D.W., der anwesend gewesen sei und als präsenter Zeuge hätte vernommen werden können, über eine Generalvollmacht verfüge und die Behördenangelegenheiten für sie regele. Er habe das von ihm verfasste Schreiben an die Beklagte vom 23. August 2018 (richtig: 23. Juni 2018), in welchem der Umzug mitgeteilt worden sei, gemeinsam mit S.K. am Erstellungstag zur Post gebracht. Die Klägerin sei daher ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen. Dies habe das SG völlig unzutreffend nicht berücksichtigt. Auf jeden Fall habe sie die erforderliche Sorgfalt nicht in besonders schwerem Maße verletzt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 8. Juli 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. Oktober 2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Am 28. November 2022 hat die Berichterstatterin einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes durchgeführt, in welchem der Sohn der Klägerin D.W. als Zeuge vernommen wurde. Dieser hat angegeben, er habe sich seit 2014 um die behördlichen Angelegenheiten seiner Mutter, der Klägerin, gekümmert und verfüge über eine Generalvollmacht. Jedes Schreiben sei von ihm zur Kenntnis genommen und der wesentliche Inhalt mit der Klägerin besprochen worden. Er habe auch den Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid verfasst und dabei nicht an das Schreiben vom 23. Juni 2018 gedacht. Er habe sich bis zum Aufhebungsbescheid keine Gedanken darüber gemacht, ob es sich bei dem Blindengeld um eine Landes- oder eine Bundesleistung handele. Er habe Kenntnis von den Kontobewegungen auf dem Konto der Klägerin gehabt und gewusst, dass das Blindengeld weitergezahlt worden sei. Wegen des weiteren Inhalts des Protokolls wird auf Bl. 86 ff. der Senatsakte verwiesen.

Mit Schreiben vom 31. März 2023 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, den – bereits mehrfach auf ihren Antrag verlegten – Termin wegen eines Termins vor dem Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe erneut zu verlegen. Mit Beschluss vom 5. April 2023 (zugegangen bei der Klägerbevollmächtigten am 6. April 2023) hat der Vorsitzende des Senats den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, die Bevollmächtigte habe keinen substantiierten Terminverlegungsgrund glaubhaft gemacht. Sie habe weder mitgeteilt, wann ihr die Terminsbestimmung bezüglich des Termins vor dem OLG Karlsruhe zugegangen sei, noch aus welchen Gründen eine Verlegung nicht möglich wäre. Auch sei weder das Aktenzeichen noch Beginn der Verhandlung vor dem (OLG) mitgeteilt worden.

In der mündlichen Verhandlung am 27. April 2023 ist die Zeugin S. K. vernommen worden. Wegen des Inhalts der Zeugenaussage wird auf das Protokoll (Bl. 148 ff. der Senatsakte) Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Der Senat konnte in der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2023 verhandeln und auf dieser Grundlage entscheiden, obwohl die Klägerin weder persönlich anwesend noch durch ihre anwaltliche Prozessbevollmächtigte (oder sonst) vertreten war. Der Sohn der Klägerin, D.W., der über eine Generalvollmacht verfügt, hat insoweit ausdrücklich erklärt, der Verhandlung nur als Zuschauer beiwohnen zu wollen. Die Prozessbevollmächtigte war durch Terminsverfügung vom 27. Februar 2023 (zugestellt mit Empfangsbekenntnis am 2. März 2023) ordnungsgemäß über den Termin informiert und darüber belehrt worden, dass auch im Falle ihres Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und entschieden werden könne.

Dem Verlegungsantrag der Prozessbevollmächtigten war nicht zu entsprechen. Auf den Beschluss des Vorsitzenden vom 5. April 2023 wird Bezug genommen.

2. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist auch im Übrigen zulässig. Die Berufung bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, weil zwischen den Beteiligten Leistungen nach dem LBlindG SN in Höhe von mehr als 750,00 EUR im Streit stehen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Gegenstand des Berufungsverfahren ist neben dem Gerichtsbescheid des SG vom 8. Juli 2020 der Bescheid der Beklagten vom 16. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheides (vgl. § 95 SGG) vom 17. Oktober 2019, mit welchem die Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem LBlindG SN für die Zeit ab dem 1. Juli 2018 aufgehoben und die Erstattung von überzahlten Leistungen in Höhe von 3.500,00 EUR festgesetzt hat. Hiergegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz SGG).

3. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 16. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

a.) Der angegriffene Bescheid ist zunächst trotz der unterbliebenen Anhörung der Klägerin nach § 8 LBlindG SN i.V.m. § 24 Abs. 1 S. 1 SGB X formell rechtmäßig. Denn dieser Verfahrensmangel ist durch Nachholung im Widerspruchsverfahren gemäß § 8 LBlindG SN i.V.m. § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X geheilt worden, da der Klägerin im Widerspruchsverfahren hinreichend Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, von der sie auch mit Widerspruchsschreiben vom 6. Mai 2019 Gebrauch gemacht hat. Zwar erfordert die Nachholung der Anhörung, dass der Verwaltungsträger dem Betroffenen die entscheidungserheblichen Tatsachen so unterbreitet, dass er sie als solche erkennen und sich zu ihnen sachgerecht äußern kann (Steinwedel in BeckOK Sozialrecht, § 41 SGB X Rdnr. 16). Die Beklagte hat im Bescheid vom 16. April 2019 keine Subsumtion unter den Begriff der groben Fahrlässigkeit vorgenommen, sie hat aber die Voraussetzungen einer Aufhebung nach § 48 SGB X einschließlich des Vorsatzes bzw. der groben Fahrlässigkeit durch Zitierung des Gesetzeswortlauts dargestellt. Entsprechend hat die Klägerin im Schreiben vom 6. Mai 2019 auch ausgeführt, dass kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten in Bezug auf die Mitteilungspflichten vorliege. Mit diesen Einwänden der Klägerin zur groben Fahrlässigkeit hat sich die Beklagte im Widerspruchsbescheid dann auch ersichtlich auseinandergesetzt (vgl. zur Möglichkeit der Heilung des Anhörungsmangels im Widerspruchsverfahren: BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 4 AS 37/09 R – juris Rdnr. 17).

b.) Der Bescheid vom 16. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 17. Oktober 2019 ist auch materiell rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der mit Bescheid vom 23. März 2017 bewilligten Leistungen nach dem LBlindG SN für die Zeit ab dem 1. Juli 2018 ist § 8 Abs. 1 LBlindG SN i.V.m. § 48 SGB X.

Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Nach Erlass des Bescheids vom 23. März 2017 – eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung – haben sich die Verhältnisse wesentlich geändert. Eine Änderung ist „wesentlich“, wenn der Verwaltungsakt unter Berücksichtigung der geänderten Verhältnisse nun (so) nicht mehr erlassen werden dürfte. Danach muss sich die Änderung nach dem zu Grunde liegenden materiellen Recht auf den Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes auswirken, bei tatsächlichen Änderungen müssen diese so erheblich sein, dass sie rechtlich zu einer anderen Bewertung führen (Schütze in ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rdnr. 15).

So verhält es sich hier. Denn ab dem 1. Juli 2018 war der Anspruch der Klägerin auf das bewilligte Landesblindengeld entfallen.

Nach §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 S. 1 LBlindG SN jeweils in der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Fassung erhalten Blinde ein monatliches Blindengeld in Höhe von 350,00 EUR, sofern sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Freistaat S haben oder nach der VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit anspruchsberechtigt sind.

Diese Voraussetzungen sind jedoch zum 1. Juli 2018 entfallen. Denn ab diesem Zeitpunkt wohnte die Klägerin nicht mehr in S, sondern in B-W.

Die Klägerin hat auch ihre Pflicht verletzt, ihren Umzug unverzüglich anzuzeigen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war nicht mit der erforderlichen Sicherheit festzustellen, dass das erstmals im Klageverfahren vorgelegte Schreiben vom 23. Juni 2018, mit welchem die Beklagte über den Umzug der Klägerin informiert werden sollte, tatsächlich an die Beklagte versandt worden ist. Die Zeugin S. K. hat insoweit angegeben, dass sie mit ihrem damaligen Mann, dem Zeugen D.W., darüber gesprochen habe, welche Stellen angeschrieben werden müssten. Sie hat weiter angegeben, dass man dabei auch über die Stadt L und das Blindengeld gesprochen habe. Nachdem zuvor ihre Eltern ebenfalls umgezogen seien, könne sie sich an das Gespräch über das Blindengeld sicher erinnern, weil es sich dabei um eine Besonderheit gehandelt habe, die bei ihren Eltern nicht vorgekommen sei. Die Schreiben seien von ihrem Ex-Mann verfasst worden. An wen die Schreiben adressiert waren bzw. an die einzelnen Schreiben selbst, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie vermochte ebenfalls nicht mehr zu sagen, ob die Schreiben zur Post gegeben worden sind bzw. durch wen dies erfolgt ist. Insbesondere konnte sie nicht bestätigen, dass tatsächlich ein Schreiben an die Stadt L gesandt worden ist.

Die Klägerin hat hingegen widersprüchliche Angaben gemacht. Erstmals im Klageverfahren wurde das Schreiben vom 23. Juni 2018 erwähnt und eine Mehrfertigung vorgelegt. Weder in der Widerspruchsbegründung noch in einer weiteren E-Mail vom 4. Juni 2019 hat die Klägerin, jeweils vertreten durch ihren Sohn D.W., der sich um alle behördlichen Angelegenheiten gekümmert hat, auf ein entsprechendes Schreiben Bezug genommen. In der Widerspruchsbegründung hat die Klägerin noch ausgeführt, dass ihr eine Mitteilungspflicht nicht bekannt gewesen sei und sie davon ausgegangen sei, die Ummeldung beim Ordnungsamt reiche aus. In der E-Mail vom 4. Juni 2018 hat D.W. sodann ausgeführt, seine Mutter sei umgezogen und habe die neue Anschrift mitgeteilt. Ein Verweis auf eine vermeintlich bereits erfolgte Umzugsmitteilung erfolgte hingegen nicht.

Der Senat konnte sich insoweit nicht davon überzeugen, dass die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht nachgekommen ist. Nach den allgemeinen Regeln zur objektiven Beweislast gilt der Grundsatz, dass die Unerweislichkeit einer Tatsache im Zweifel zu Lasten desjenigen Beteiligten geht, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleitet (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 1957 – 10 RV 945/55 – juris Rdnr. 18f.). Für belastende Aufhebungsentscheidungen trägt damit grundsätzlich die Behörde die Beweislast (BSG, Urteil vom 13. September 2006 – B 11a AL 13/06 R –juris Rdnr. 18; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2005 – B 7a/7 AL 102/04 R – juris Rdnr. 15). Eine Umkehr der Beweislast ist jedoch anzunehmen, wenn es um Tatsachen geht, die sich ausschließlich in der Sphäre eines Beteiligten befinden (sog. besondere Beweisnähe, BSG, Urteil vom 13. September 2006 – B 11a AL 13/06 R – juris Rdnr. 18). Damit geht die Nichterweislichkeit des Zugangs von Änderungsmitteilungen bei der zuständigen Behörde zu Lasten des Mitteilungspflichtigen, hier der Klägerin (vgl. LSG Sachsen, Urteil vom 4. Dezember 2014 – L 3 AS 430/12 – juris Rdnr. 58; Padé in jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017 [Stand 17. April 2023], § 45 SGB X, Rdnr. 121).

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X ist eine Aufhebung ab Änderung der Verhältnisse regelmäßig dann vorzunehmen, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.

Grobe Fahrlässigkeit ist dann anzunehmen, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Hierfür genügt es nicht, dass er mit der Rechtswidrigkeit rechnen musste. Verlangt wird vielmehr eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem besonders hohen Ausmaß, die dann zu bejahen ist, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Dabei ist jedoch nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (BSG, Urteil vom 27. Juli 2000 – B 7 AL 88/99 R – juris Rdnr. 24). Für die grobe Fahrlässigkeit ist insbesondere auch bedeutsam, in welchem Umfang bei Bewilligung der Dauerleistung auf eine Mitteilungspflicht hingewiesen worden ist. Ist jemand unmissverständlich darüber belehrt worden, dass er bestimmte für den Leistungsempfang wesentliche Umstände mitzuteilen hat und unterlässt er dies, liegt in aller Regel grobe Fahrlässigkeit vor (Schütze in ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rdnr. 28; Verwaltungsgericht [VG] Münster, Urteil vom 17. April 2012 – 6 K 2129/10 – juris Rdnr. 20 f.).

Die Beklagte hat die Klägerin mit Bescheid vom 23. März 2017 darüber belehrt, dass sie „verpflichtet [sei], erhebliche Änderungen der persönlichen Verhältnisse unverzüglich der o.g. Behörde [Stadt L – Sozialamt] unter Angabe des Aktenzeichens mitzuteilen (…). Mitteilungspflichtige erhebliche Änderungen der persönlichen Verhältnisse [seien] insbesondere: (…) die Verlegung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb des Freistaates S, in ein anderes Bundesland oder ins Ausland“.

Auch wenn sich der Anspruchswegfall aus diesen Hinweisen nicht unmittelbar ableiten lässt, ergibt sich jedoch ohne Weiteres die Pflicht der Klägerin, der Beklagten einen Umzug unverzüglich anzuzeigen. Dass hierfür die bloße Ummeldung nicht ausreichend ist, lässt sich den Hinweisen ebenfalls klar und eindeutig entnehmen.

Es kommt hier allerdings nicht darauf an, ob die Klägerin die Hinweise auf die Anzeigepflicht trotz ihrer Blindheit auch zur Kenntnis genommen hat oder zumindest hätte nehmen müssen. Der Senat kann es dahinstehen lassen, ob es eine allgemeine Verpflichtung eines blinden Menschen gibt, sich alle leistungsrelevanten Unterlagen von Dritten ausdrücklich und vollständig vorlesen zu lassen (dagegen: Oberverwaltungsgericht [OVG] Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. Juni 2012 – 7 A 10286/12 – juris Rdnr. 35), oder ob eine blinde Person Vorkehrungen treffen muss, dass sie der an sie gerichtete Schriftverkehr erreicht und sie Schriftstücke inhaltlich zur Kenntnis nehmen kann (VG Münster, Urteil vom 17. April 2012 – 6 K 2129/10 – juris, Rdnr. 23; VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 4. Juli 2007 – 6 K 471/03 – juris Rdnr. 27 m.w.N.).

Denn jedenfalls muss sie sich die grob fahrlässige Verletzung der Mitteilungspflichten durch den D.W. zurechnen lassen.

Wissen und Verschulden eines Dritten können im Rahmen des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X nach den §§ 166, 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) analog zugerechnet werden. Die Vorschriften des § 278 Satz 1 BGB, wonach der Schuldner ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang wie eigenes Verschulden zu vertreten hat, und des § 166 Abs. 1 BGB, wonach nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht kommt, soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflusst werden, wonach also das Verhalten bzw. die Kenntnis oder das Kennenmüssen einer dritten Person als eigenes Verhalten bzw. eigene Kenntnis oder eigenes Kennenmüssen zugerechnet wird, finden jedenfalls im Fall einer gesetzlichen Vertretung oder rechtsgeschäftlichen Bevollmächtigung entsprechende Anwendung im öffentlichen Recht. Eine entsprechende Anwendung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist zulässig, da die Interessenlage, aus der die Verpflichtung des Vertretenen hergeleitet wird, sich von der entsprechenden Sachlage im bürgerlichen Recht nicht wesentlich unterscheidet. Demjenigen, der sich eines Dritten bedient (oder kraft Gesetzes eines Dritten bedienen muss), soll es gerade bei rechtsgeschäftlicher Bevollmächtigung nicht gestattet werden, einerseits die tatsächlich oder vermeintlich besseren Fähigkeiten und Kenntnisse dieses Dritten zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen, ohne die möglicherweise gleichzeitig daraus resultierenden Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Wer zur Erledigung eigener Angelegenheiten einen Dritten einschaltet, übernimmt damit zugleich die Verantwortung für dessen Verhalten bzw. dessen Kenntnis oder Kennenmüssen, ohne dass es darauf ankommt, ob ihm selbst dieses Verhalten bzw. dessen Kenntnis oder Kennenmüssen bekannt ist (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. April 2017 – L 8 R 1083/14 – juris Rdnr. 50; allgemein BSG, Urteil vom 18. August 2005 – B 7a AL 4/05 R – juris Rdnr. 19; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. März 2019 – L 7 BL 1/17 – juris Rdnr. 37).

Mit der Erteilung der Generalvollmacht im Jahr 2014 und der tatsächlichen Übernahme der daraus resultierenden Verantwortung durch D. W. lagen auch die Voraussetzungen einer solchen Zurechnung vor. D. W. wusste vom Bezug der Leistungen und war diesbezüglich – nach eigenen Angaben – hilfeleistend tätig, auch wenn er im Verwaltungsverfahren nicht nach außen aufgetreten ist. Der Zeuge hat insoweit im Erörterungstermin mitgeteilt, dass er die an die Klägerin gerichteten Bescheide in der Regel vollständig zur Kenntnis genommen, mit seiner Mutter, der Klägerin, im Kern besprochen und entsprechend der Mitteilungspflichten gehandelt hat, so dass ihm mithin nach eigenen Angaben die entsprechenden Pflichten bekannt waren. Grobe Fahrlässigkeit liegt damit in der Person des D.W. vor, diese ist der Klägerin zuzurechnen.

Die rückwirkende Leistungsaufhebung lässt sich zudem auch auf § 8 Abs. 1 LBlindG SN i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X stützen.

Nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die Klägerin hätte insoweit erkennen können und müssen, dass es sich bei den Leistungen nach dem LBlindG SN um Leistungen des Bundeslandes S an im Bundesland lebende Personen handelt. In mehreren von der Beklagten an die Klägerin gerichteten Schreiben wird auf das LBlindG SN Bezug genommen. Insbesondere im Bewilligungsbescheid vom 23. März 2017 wird unter der Überschrift „Leistungen nach dem Gesetz über die Gewährung eines Landesblindengeldes und anderer Nachteilsausgleiche nach dem Sächsischen Landesblindengeldgesetz (LBlindG)“ verfügt, dass der Anspruch „nach dem Sächsischen Landesblindengeldgesetz“ mit Wirkung ab dem 1. Januar 2017 abgeändert und Leistungen in Höhe von 350 EUR bewilligt werden. Die Klägerin hat im Erörterungstermin angegeben, der Bescheid sei ihr vermutlich durch ihren Mann vorgelesen worden. Der Zeuge D.W. hat insoweit ergänzend angegeben, dass er sich seit 2014 um die behördlichen Angelegenheiten kümmere, sich auch 2017 gekümmert habe und alle Schreiben von ihm zur Kenntnis genommen, durchgelesen, der Klägerin vorgelesen, besprochen und abgeheftet worden seien. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass im Hinblick auf die Klägerin selbst keine grobe Fahrlässigkeit vorliegt, so hätte doch jedenfalls der D.W., welcher nach eigener Auskunft die Bescheide umfänglich zur Kenntnis genommen hat, erkennen können und müssen, dass es sich um Landesleistungen handelte, deren Voraussetzungen durch den Wegzug entfallen sind.

Eine atypische Härte, die in Bezug auf die Klägerin der Anwendung des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 4 SGB X entgegenstehen könnte, ist nicht auszumachen. Ein solcher atypischer Fall ist nicht allein deshalb gegeben, weil nach erfolgter rückwirkender Aufhebung die Überzahlung zurückzuerstatten ist. Die mit der Erstattung verbundene Härte mutet das Gesetz jedem Betroffenen zu. Dies gilt auch hier. Einen atypischen Fall begründet die Erstattungspflicht selbst bei schlechter Einkommens- und Vermögenslage nicht, wenn die Überzahlung - wie nach dem oben Ausgeführten - durch eine grobe Pflichtwidrigkeit verursacht worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. Februar 1988 – 7 RAr 55/86 – juris Rdnr. 22).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved