L 19 AS 417/23 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 135/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 417/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 13.03.2023 geändert und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten der Antragstellerin sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

Gründe:

 

Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen ist begründet.

 

Die Antragstellerin hat weder gegen den Antragsgegner einen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (dazu 1.) noch einen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII gegen die Beigeladenen glaubhaft gemacht (dazu 2.).

 

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer solchen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Eine Tatsache ist dann glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloße Möglichkeit des Bestehens einer Tatsache reicht noch nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Es genügt jedoch, dass diese Möglichkeit unter mehreren relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R – und Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B).

 

1. Zutreffend hat das Sozialgericht entschieden, dass die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner keinen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht hat, da sie gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von diesen Leistungen ausgeschlossen ist. Denn die Antragstellerin verfügt allenfalls nur über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU. Ein anderes Aufenthaltsrecht aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU oder nach den Bestimmungen der RL 2004/38/EG besteht für sie nicht. Die Antragstellerin übt keine (abhängige oder selbständige) Tätigkeit aus (§ 2 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FreizügG/EU, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/38/EG). Sie hält sich auch nicht zu dem Zwecke in Deutschland auf, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 FreizügG/EU). Sie verfügte nicht über ausreichende Existenzmittel, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4 FreizügG/EU, Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/38/EG).

 

Auch die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a FreizügG/EU, Art. 16 RL 2004/38/EG) sowie für die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf die Ausführungen des LSG NRW im Beschluss vom 13.07.2022 – L 7 AS 585/22 B ER, die er sich nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu eigen macht. Die Antragstellerin konnte insbesondere auch im hiesigen Verfahren nicht glaubhaft machen, dass sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Es ist weiterhin völlig unklar, wo sich die Antragstellerin in der Zeit vom 01.09.2016 bis 24.07.2019 aufgehalten hat. Die hierzu bisher gemachten Angaben sind in sich widersprüchlich.

 

Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts der Antragstellerin aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. Bestimmungen des AufenthG sind nicht ersichtlich und ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Antragstellerin.

 

Die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind europarechtskonform (vgl. EuGH, Urteile vom 20.05.2014– C-333/13, vom 15.09.2015 – C-67/14 und vom 22.04.2015 - C-299/14) und verfassungsgemäß (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2022 – B 7/14 AS 27/21 R).

 

2. Die Antragstellerin hat auch gegenüber der Beigeladenen keinen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach dem SGB XII glaubhaft gemacht. Weder besteht ein Anordnungsanspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII (dazu a) noch auf Gewährung von Härtefallleistungen nach § 23 Abs. 6 SGB XII (dazu b).

 

a) Nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Denn die Antragstellerin ist von diesen Leistungen nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen und kann sich insoweit auch nicht auf die Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII berufen (s.o. zum Ausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II). Die Antragstellerin kann sich nicht auf den Gleichbehandlungsanspruch des Art. 1 EFA (BGBl 1956 II 564) berufen, da Bulgarien dem europäischen Fürsorgeabkommen nicht beigetreten ist.

 

b) Die Antragstellerin hat auch keinen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Härtefallleistungen nach § 23 Abs.1 S. 6 SGB XII glaubhaft gemacht.

 

Gemäß § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach S. 3. Gemäß § 23 Abs. 3 S. 5 SGB XII umfassen die Überbrückungsleistungen (1.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, (2.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, (3.) die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und (4.) Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII (Hilfen bei Schwangerschaft und Mutterschaft). Gemäß § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 1 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach S. 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt. Nach § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII sind ebenso Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Sie ist auf die Deckung solcher Bedarf gerichtet die bei Vorliegen besonderer Umstände entstehen, soweit im Einzelfall einer Ausreise binnen eines Monats nicht möglich oder zumutbar ist.

 

Der Leistungsausschluss in § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 1. Alt SGB XII beruht auf dem Gedanken, dass die betroffenen Personen - anders als Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG - in ihren Heimatstaaten ohne Gefahr für Leib und Leben wohnen und existenzsichernde Unterstützungsleistungen erlangen können, da in der Europäischen Union soziale Mindeststandards bestehen, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben (Bt-Drs. 18/10211 S. 14). Eine besondere Härte zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht für alle vom Leistungsausschluss betroffenen Personen typisch ist, also über die mit dem reduzierten Leistungsumfang typischerweise verbundenen Härten in der Person des Leistungsberechtigten individuelle Besonderheiten hinzutreten. Besondere Umstände, die der Gesetzgeber nur für die zeitliche Verlängerung der Überbrückungsleistungen verlangt, müssen folglich in der zeitlichen Befristung selbst begründet liegen (Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII (Stand: 05.12.2022), Rn. 106). Der Begriff der „besonderen Härte“ macht deutlich, dass nur ganz außergewöhnliche individuelle Situationen, etwa schwere, dauerhafte, eine Reiseunfähigkeit begründende Erkrankungen (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 17: „amtsärztlich festgestellte Reiseunfähigkeit“; i. d. R. dürfte jedoch auch ein aussagekräftiges fachärztliches Attest ausreichen), eine weitergehende Leistungsgewährung rechtfertigen können.

 

Eine Härtefallleistung nach Satz 6 begründende Situation liegt in der Regel vor, wenn Abschiebungsverbote nach dem AufenthG eingreifen würden (vgl. exemplarisch zu Mutterschutzfristen VG Würzburg, Beschl. v. 25.04. 2019, W 8 S 19.50295, mit näherer Begründung und m. w. N.). Es wäre verfassungsrechtlich inakzeptabel, wenn kein Leistungsanspruch zuerkannt würde, obwohl eine Ausreise nicht verlangt werden darf (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. 09. 2019 - L 31 AS 1627/19 B ER; vgl. in diesem Sinne, in ausländerrechtlichem Kontext, VGH München, Beschluss vom 08.03.2021 - 19 CE 21.233; OVG Sachsen, Beschluss vom 13.01.2021 - 3 B 397/20; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. 02. 2019 - OVG 11 S 7.19).

 

Vor diesem Hintergrund hat die Antragstellerin weder ihre Hilfebedürftigkeit noch einen Härtefall glaubhaft gemacht.

 

aa) Die Antragstellerin hat ihre Hilfebedürftigkeit nicht durch präsente Beweismittel glaubhaft gemacht. Sie hat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, aus der die Hilfebedürftigkeit abgeleitet werden könnte. Sie hat insoweit lediglich Bezug genommen auf vorangegangene einstweilige Rechtsschutzverfahren. Dies ist jedoch nicht ausreichend um eine aktuelle Hilfebedürftigkeit zu belegen, zumal bereits der 7. Senat des LSG NRW im Beschluss vom13.07.2022 Zweifel an der Hilfebedürftigkeit im Verfahren L 7 AS 585/ 22 B ER geäußert hat. Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass sie ihren Lebensunterhalt bisher durch Zuwendungen ihrer Tochter, die selbst Grundsicherungsleistungen bezieht, sowie dessen Lebensgefährten Herr J. bestritten hat, ist zu berücksichtigten, dass Härtefallleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII nach Satz 5 nur Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege umfassen. Diese Leistungen dürften mit den Zuwendungen abgedeckt sein. Leistungen für Unterkunft und Heizung macht die Antragstellerin nicht geltend, da sie mietfrei wohnt. Der Krankenversicherungsschutz ist bei ruhenden Krankenversicherungsverhältnissen nach § 16 Abs. 3a SGB V insoweit gewahrt, als akute Erkrankungen und Schmerzzustände behandelt werden.

 

bb) Die Antragstellerin hat auch einen besonderen Härtefall nicht glaubhaft gemacht. Zwar kann krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit generell geeignet sein, einen solchen Härtefall zu begründen (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04.05.2018 – L 6 AS 59/18 B ER). Eine aktuelle krankheitsbedingte Reisunfähigkeit, die eine Abschiebung i.S.d. § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG aussetzen würde, hat die Antragstellerin aber nicht glaubhaft gemacht.

 

Unter Berücksichtigung der sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebenden Schutzwirkungen kann sich aus einer Reiseunfähigkeit grundsätzlich ein inlandsbezogenes - und damit von der Ausländerbehörde selbständig zu prüfendes (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.04.2002 - 2 BvR 553/02; BVerwG, Urteil vom 11.11.1997 - BVerwG 9 C 13.96) - Abschiebungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergeben. Voraussetzung ist allerdings, dass die konkrete Gefahr besteht, der Gesundheitszustand des Ausländers werde sich durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern, und dass diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch den Transport als solchen wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstehen würde (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch dann, wenn sich durch die Abschiebung als solche - außerhalb des Transportvorganges und unabhängig vom Zielstaat - der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne, vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 07.09.2017 - 13 ME 157/17- m.w.N.).

 

Da nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG in der durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 390) mit Wirkung vom 17. März 2016 geänderten Fassung vermutet wird, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, muss der Ausländer, will er unter Berufung auf gesundheitliche Gründe eine Aussetzung der Abschiebung erwirken, die widerlegliche Vermutung entkräften (vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, BT-Drs. 18/7538, S. 19). Hierzu muss er der Ausländerbehörde gemäß § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG unverzüglich eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG genügt, vorlegen.

 

Nach diesen Maßgaben - und den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein zu berücksichtigenden präsenten Beweismitteln und glaubhaft gemachten Tatsachen – besteht derzeit keine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit der Antragstellerin.

 

Zwar hat die Antragstellerin ein ärztliches Attest vom 19.12.2022 vorgelegt, in welchem die behandelnde Ärztin der Antragstellerin wegen ihrer Erkrankungen eine Reise- und Transportunfähigkeit bescheinigt. Eine nachvollziehbare Begründung, insbesondere welche Erkrankungen aus welchen Gründen die Reisefähigkeit in welcher Art und Weise und in welchem Umfang beschränken, fehlt aber vollständig. Dieses Attest wird den Anforderungen an ein qualifiziertes Attest nach § 60a Abs. 2c AufenthG nicht ansatzweise gerecht.

 

Die Antragstellerin hat trotz Aufforderung des Senats auch nicht dargelegt, ob diese Reisunfähigkeit bis zum heutigen Tag andauert. Die Antragstellerin kann sich insoweit nicht darauf berufen, sie sei nicht krankenversichert. Denn mit Beschluss des Sozialgerichts vom 13.03.2023 ist die Beigeladenen verurteilt worden, Hilfen bei Krankheit dem Grunde nach zu gewähren. Trotzt sofortiger Vollziehbarkeit des Beschlusses ist es nicht erkennbar, dass die Antragstellerin einen Versuch unternommen hat, ein entsprechendes Attest zur aktuellen Reisefähigkeit beizubringen.

 

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Sozialgericht im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Befundbericht der behandelnden Ärztin P. vom 27.02.2023. Zwar werden der Antragstellerin verschieden Krankheiten, wie Diabetes Mellitus Typ II, COPD, Astma Bronchiale, Dyspnoe und eine mittelgradige depressive Episode attestiert. Die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, der Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, benennt der Befundbericht aber nicht und genügt damit auch nicht den in § 60a Abs. 2c AufenthG aufgestellten Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Eine nachvollziehbare Begründung, insbesondere welche der Erkrankungen aus welchen Gründen die Reisefähigkeit in welcher Art und Weise und in welchem Umfang beschränken, fehlt vollständig.

 

Schließlich ergibt sich ein Härtefall auch nicht aus dem Umstand, dass die erwachsenen Kinder der Antragstellerin sich in Deutschland aufhalten. Hierbei handelt es sich nicht um rechtliches Ausreisehindernis. Insbesondere die Schutzwirkungen des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK stünden einer Abschiebung der Antragstellerin nicht entgegen. In welchen Fällen Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ein rechtliches Abschiebungshindernis bildet, ergibt sich immer aus einer Gewichtung der familiären Bindungen des Ausländers an die Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten (Haedicke, HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - familiäre Gründe, Stand: 1. August 2018, Rdnr. 37 m.w.N.)

 

Dabei ist für die streitgegenständliche Fallgruppe der Trennung von erwachsenen Familienmitgliedern auch zu berücksichtigen, dass die Versagung eines Aufenthaltsrechts für Eltern Volljähriger im Bundesgebiet lebender Ausländer aus einwanderungspolitischen Gründen auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG (bzw. Art. 8 EMRK) regelmäßig unbedenklich ist. Allerdings können weitergehende Schutzwirkungen bestehen, wenn Lebensverhältnisse vorliegen, die einen über die Aufrechterhaltung der Familie als Begegnungsgemeinschaft hinausgehenden familienrechtlichen Schutz als erforderlich erscheinen lassen. Solche weitergehenden Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK können sich dann ergeben, wenn ein Familienmitglied auf die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe des oder der anderen Familienmitglieder in der Form einer Beistandsgemeinschaft dringend angewiesen ist, sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt und einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.05.2006 - 18 A 2463/05; Haedicke, HTK-AuslR / § 60a AufenthG / Abs. 2 Satz 1 - familiäre Gründe, Stand: 19. Dezember 2016, Rdnr. 1 ff.)

 

Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht substantiiert glaubhaft gemacht worden. Die Antragstellerin hat nicht substantiiert vorgetragen - geschweige denn glaubhaft gemacht -, dass sie auf die Lebenshilfe ihrer erwachsenen Tochter dringend angewiesen wäre. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Ehemann der Klägerin, zu dem nach eigenen Angaben weiterhin Kontakt besteht, in Bulgarien lebt und die Antragstellerin unterstützen kann.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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