L 18 AS 512/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 197 AS 1455/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 512/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2023 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Mietschulden des Antragstellers in Höhe von 9.681,83 € als Darlehen zu übernehmen. Die Verpflichtung des Antragsgegners ergeht mit der Auflage, dass die Geldleistungen zur Schuldentilgung und auch die laufenden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung direkt an die Vermieterin W F überwiesen werden.

Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Instanzen.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist im Hilfsantrag begründet. Der Antragsteller kann vom Antragsgegner ein Darlehen zur Deckung der aufgelaufenen Rückstände auf Miete, Heiz- und Nebenkosten beanspruchen. Eine Übernahme als Zuschuss, wie im Hauptantrag begehrt, scheidet schon deshalb aus, weil § 22 Abs. 8 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende, Bürgergeld – (SGB II) regelt, dass Geldleistungen zur Mietschuldentilgung als Darlehen erbracht werden sollen. Ein für eine Zuschussgewährung erforderlicher atypischer Fall, also eine signifikant vom (typischen) Regelfall abweichende Fallgestaltung (vgl Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 18. November 2014 – B 4 AS 3/14 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 80 – Rn 18 mwN), liegt ersichtlich nicht vor. Die Beschwerde war daher insoweit zurückzuweisen.

Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers ist gegeben. Er ergibt sich aus § 22 Abs. 8 SGB II. Danach gilt: Sofern Bürgergeld für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird, können auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vermögen nach § 12 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 ist vorrangig einzusetzen. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden.

Bei den streitgegenständlichen Verbindlichkeiten des Antragstellers handelt es sich um Mietschulden. Der Antragsgegner hat Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) in zutreffender Höhe bewilligt. Die Rückstände wurden allein durch die (teilweise) Nichtzahlung der dem Vermieter geschuldeten Miete und der Abschläge auf Heiz- und Nebenkosten für die von dem Antragsteller genutzte Wohnung verursacht. Der Antragsgegner hat bei dem Antragsteller stets die mietvertraglich geschuldete Gesamtmiete von mtl 683,18 € berücksichtigt und die Leistungen ab 1. Januar 2023 – für die Zeit bis Juni 2023 unter Anrechnung von Einkommen des Antragstellers aus Arbeitslosengeld und ab Juli 2023 in voller Höhe – an den Vermieter ausgezahlt. Die an die Vermieterin zu leistende Nachzahlung wegen aufgelaufener Nichtzahlung des geschuldeten Mietzinses ist daher nicht durch eine Minderleistung des Antragsgegners verursacht worden. Handelt es sich bei den von dem Antragsteller verfolgten Geldleistungen somit – wie hier – nicht um Minderleistungen des Antragsgegners, sondern um Schulden, richtet sich deren Übernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II.

§ 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II schützt nach seinem Wortlaut die Wohnung dann, wenn ihr Erhalt durch die Übernahme von Schulden gerechtfertigt ist. Grundsätzlich ist für eine Übernahme der Schulden zu fordern, dass die laufenden KdUH abstrakt angemessen iS des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind. Der mit der Übernahme der Schulden bezweckte langfristige Erhalt einer Wohnung erscheint nämlich nur dann gerechtfertigt, wenn die (künftigen) laufenden Kosten dem entsprechen, was innerhalb des nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Bezug zu nehmenden Vergleichsraumes von dem Träger der Grundsicherung zu übernehmen ist. Drohende Wohnungslosigkeit, die einen Anspruch auf Übernahme von Schulden nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II auslöst, bedeutet grundsätzlich den drohenden Verlust der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung bei fehlender Möglichkeit, ebenfalls angemessenen Ersatzwohnraum zu erhalten. Eine den Angemessenheitskriterien entsprechende Wohnung muss dabei konkret für den Hilfebedürftigen anmietbar sein (vgl zum Ganzen: BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 41).

Liegt – wie hier nach Auffassung des Senats – ein behördliches schlüssiges Konzept zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft nicht vor und ist auch der Senat selbst nicht imstande, abstrakte Angemessenheitswerte unter Wahrung der in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aufgestellten Anforderungen festzulegen, so sind mangels eines in rechtlich zulässiger Weise bestimmten Angemessenheitswerts die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft zugrunde zu legen, begrenzt durch die Werte nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von 10 % (vgl zB BSG, Urteil vom 20. August 2009 – B 14 AS 65/08 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 26 – Rn 21; BSG, Urteil vom 30. Januar 2019 – B 14 AS 24/18 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 101 – Rn 30). Dadurch soll den Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarkts zumindest ansatzweise gemäß gesetzgeberischer Entscheidung – wenn auch für einen anderen Personenkreis – durch eine „Angemessenheitsobergrenze“ Rechnung getragen werden, die die Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert. Zwar überschreitet der Bruttokaltmietzins des Antragstellers iHv mtl 618,13 € selbst die Angemessenheitsgrenze des § 12 Abs. 1 WoGG iVm Anlage 1 zzgl eines Sicherheitszuschlags von 10 % (478,- € zzgl 10  = 525,80) auch bei Berücksichtigung der Klimakomponente des § 12 Abs. 7 WoGG (19,20 €) deutlich.

Allerdings ist im vorliegenden Einzelfall zu beachten, dass der Antragsgegner bislang die tatsächlichen unangemessenen KdUH in voller Höhe auch nach dem Auszug des Sohnes und der Freundin übernimmt (vgl Bewilligungsbescheid vom 4. April 2023), und zwar im Hinblick auf die in § 22 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II geregelte Karenzzeit bis einschließlich Dezember 2023 (sh Bescheid vom 4. April 2023; vgl auch interne Angemessenheitsprüfung nach dem Auszug des Sohnes vom 22. September 2020: „Miete angemessen“). Zeiten eines Leistungsbezugs bis zum 31. Dezember 2022 bleiben bei der Karenzzeit nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II unberücksichtigt (§ 65 Abs. 3 SGB II), so dass diese auch für Hilfebedürftige gilt, die – wie der Antragsteller – schon einmal in der Vergangenheit vor dem 1. Januar 2023 SGB II-Leistungen bezogen haben.

Die seit 1. Januar 2023 geregelte (letztlich auf Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses <BT-Drucks 20/4600> vom 23. November 2022 auf ein Jahr verkürzte) Karenzzeit soll dem Hilfebedürftigen ermöglichen, sich auf die Arbeitssuche zu konzentrieren, statt zeitgleich mit dem Leistungsbezug eine neue Wohnung suchen zu müssen. Zugleich soll sie als Anreiz dienen, die Hilfebedürftigkeit innerhalb des Karenzzeitraums zu überwinden, und der Rechtssicherheit dienen, weil die Beurteilung der Angemessenheit der KdUH „in der Praxis noch immer mit nicht unerheblicher Rechtsunsicherheit behaftet“ ist (vgl Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zum Bürgergeld-Gesetz BT-Drucks 20/3873 S 3, 51, 89).

Hier ist Folgendes zu berücksichtigen: Der Antragsgegner hatte in den zurückliegenden Bewilligungszeiträumen zu keiner Zeit auf die Unangemessenheit der KdUH hingewiesen, auch nicht nach dem Auszug des Sohnes des Antragstellers im Februar 2019 und dem der Freundin H M. Ein Kostensenkungsverfahren nach § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II ist bislang nicht eingeleitet worden. Schuldet der Antragsgegner danach aber für einen letztlich nicht absehbaren Zeitraum auch weiterhin Leistungen für unangemessene KdUH, so kann er dem Hilfebedürftigen nicht entgegen halten, die Schuldenübernahme (unangemessener) KdUH sei nicht geeignet, die Unterkunft iSv § 22 Abs. 8 SGB II zu sichern. Denn derzeit ist nicht absehbar, ob dem Antragsteller danach ein Wohnungswechsel zumutbar oder dieser ggf unter Berücksichtigung der bei einem Wohnungswechsel zu erbringenden Leistungen unwirtschaftlich wäre (vgl § 22 Abs. 1 Satz 10 SGB II; für diesen Fall sehen sogar die vom Antragsgegner zugrunde gelegten Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen nach § 22 SGB II und §§ 35 und 36 SGB XII <AV-Wohnen>, dort Nr 11.2 (1), die Übernahme von Mietschulden vor). Zwar dürfte ein langfristiger Erhalt unangemessen teurer Wohnungen vom Gesetzgeber aus nachvollziehbaren Gründen nicht erwünscht sein. Im Falle der Nichtübernahme der Schulden wäre indes aufgrund der fristlosen Kündigung eine Wohnungslosigkeit des Antragstellers imminent zu befürchten, ohne dass ihm im Rahmen eines – derzeit vom Antragsgegner noch gar nicht angestrengten – Kostensenkungsverfahrens die Möglichkeit bliebe, innerhalb der noch laufenden Karenzzeit und des sich (vgl § 22 Abs. 1 Satz 8 SGB II) anschließenden Sechs-Monats-Zeitraums nach § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II (der dann bis zum 30. Juni 2024 liefe) Kostensenkungsmöglichkeiten, zB durch Untervermietung, zu realisieren bzw aus dem Leistungsbezug wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auszuscheiden. Die mit der Karenzzeit verbundene gesetzgeberische Zielsetzung würde damit konterkariert. Auch das BSG hat in seiner Entscheidung vom 17. Juni 2010 (– B 14 AS 58/09 R – aaO) zumindest angedeutet, dass eine Schuldenübernahme auch bei unangemessenen KdUH in Betracht kommen kann, solange keine Pflicht zur Kostensenkung besteht (vgl aaO Rn 26: „Ob in Einzelfällen auch für abstrakt unangemessen teure Wohnungen, deren laufende Kosten etwa auf Grundlage des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II übernahmefähig sein mögen, die Übernahme der Schulden gerechtfertigt sein kann, kann nach dem derzeitigen Stand des Verfahrens dahinstehen“; vgl auch Landessozialgericht <LSG> Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Oktober 2006 – L 9 AS 529/06 R – juris; aA LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30. Oktober 2007 – L 8 AS 4481/07 ER-B – juris; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II § 22 Rn. 415).

Im Falle drohender Wohnungslosigkeit – wie hier nach Ausspruch einer Kündigung – besteht kein Ermessen, wenn die Übernahme der Schulden angesichts der drohenden Wohnungslosigkeit gerechtfertigt und notwendig ist (Abs. 8 Satz 2), weil der Vermieter die Forstsetzung des Mietverhältnisses von der Schuldenübernahme abhängig macht. Von Ausnahmefällen abgesehen muss die Mietschuldengewährung erfolgen. Die Gesichtspunkte, die im Anwendungsbereich des Satzes 1 in die Entscheidung mit einfließen können (etwa die Höhe der Schulden im Vergleich zu den im Falle eines Umzugs vom Träger aufzuwendenden Folgekosten), treten zurück, schon weil die Alternative einer konkreten Unterkunftsmöglichkeit in diesen Fällen nicht (mehr) besteht. Ein denkbarer atypischer Fall kann die gezielte und missbräuchliche Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit verbunden mit einem Antrag auf Mietschuldenübernahme sein, wofür vorliegend indes keine Anhaltspunkte bestehen (vgl zum Ganzen: Krauß in Hauck/Noftz, SGB II § 22 Rn 423). Nach der Rechtsprechung des BSG tritt bei der Gesamtabwägung nach § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II auch ein wirtschaftlich unvernünftiges und vorwerfbares Handeln des Hilfebedürftigen, das die drohende Wohnungslosigkeit mitverursacht haben kann, regelmäßig zurück (vgl BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R – Rn 31). Miet- oder Energieschulden entstehen in aller Regel durch ein – gegebenenfalls auch nicht nachvollziehbares – Fehlverhalten des Leistungsberechtigten. Die Regelung zur Schuldenübernahme würde im Wesentlichen leerlaufen, wenn darauf abgestellt werden würde, ob die Schulden vorwerfbar entstanden sind. Jedenfalls eine vorsätzliche Herbeiführung der Mietschulden durch den Antragsteller, der einen ersten Antrag auf Schuldenübernahme bereits im November 2019 gestellt hatte, ist nicht erkennbar (diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mangels Mitwirkung des Antragstellers mit Versagensbescheid vom 22. Januar 2020 ab). In der Vergangenheit sind keine Mietschuldenübernahmen erfolgt. Ein Selbsthilfewille des Antragstellers ist zudem erkennbar, der wiederholt größere Zahlungen auf seine Mietschulden geleistet hat, die teilweise auch aus Zeiten herrühren, in denen seine Freundin die Unterkunft mitbewohnte, ohne selbst anteilige Mietzahlungen zu leisten, während der Antragsgegner die KdUH – zutreffend – nur gequotelt berücksichtigte. Überdies erhellt aus seinen diversen Beschäftigungen als Taxifahrer bzw Chauffeur, dass der Antragsteller sich durchweg bemüht, seine Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verringern bzw zu beenden. Ggf stünde dem Antragsteller nach Einleitung eines Kostensenkungsverfahrens (frühestens ab 1. Januar 2024) auch noch die Möglichkeit offen, durch Untervermietung die Differenz zu den als angemessen anzusehenden KdUH aufzubringen. Bei einem sofortigen Wohnungsverlust würden sich indes seine Eingliederungschancen entgegen der gesetzlichen Zielsetzung erheblich mindern.

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der drohenden Wohnungslosigkeit des Antragstellers. Die Verpflichtung des Antragsgegners ergeht unter den tenorierten Auflagen. Weitere Mietschulden sind derzeit nicht zu besorgen, weil der Antragsgegner ab Juli 2023 die KdUH-Leistungen ohnehin direkt an die Vermieterin zahlt. Die konkrete Schuldenhöhe ergibt sich aus der mit Schriftsatz vom 6. Juni 2023 eingereichten aktualisierten Aufstellung der Vermieterin. Soweit der Antragsgegner darauf abhebt, es sei auch noch eine offene Miete für November 2020 aufgeführt, so findet sich diese auch in den früheren Aufstellungen der Vermieterin, erstmals in der vom 10. Februar 2022. Ein Abwarten auf eine Entscheidung des Sozialhilfeträgers war im Hinblick auf den bestehenden Anspruch gegen den Antragsgegner und die bereits ausgesprochene fristlose Kündigung untunlich.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil der Antragsteller im Hinblick auf den ausgeworfenen Kostenerstattungsanspruch insoweit nicht als bedürftig anzusehen ist (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das BSG angefochten werden (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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