L 4 AS 339/23 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 27 AS 1718/22 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 339/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Die Vorschrift des § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG findet auf die Abänderung bzw. Aufhebung eines Beschlusses, mit dem eine einstweilige Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG getroffen wurde, keine analoge Anwendung, wenn eine Änderung der Sach- und Rechtlage nicht festzustellen ist.

  1. Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 9. Mai 2023 aufgehoben.

 

  1. Der Abänderungsantrag des Antragstellers wird abgelehnt.

 

  1. Der Antragsteller hat dem Antragsgegner seine außergerichtlichen Kosten im Abänderungs- und im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

 

Gründe

 

I.

 

 

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Regelungsanordnung im Beschlusses des Sozialgerichts Dresden vom 25.01.2023 nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für die Zeit ab 01.05.2023.

 

Der 1966 geborene Antragsgegner steht seit Dezember 2018 beim Antragsteller im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Er steht unter Betreuung. Die Betreuung umfasst u.a. den Umgang mit Post sowie die Vertretung gegenüber Behörden und Sozialleistungsträgern. Nachdem der Antragsteller bis zum 30.06.2022 Kosten für Unterkunft und Heizung für eine Wohnung in Y....  OT X....  getragen hatte, stellte er bei einem Vororttermin am 02.06.2022 fest, dass der Antragsgegner dort seit langem nicht wohnte.

 

Am 26.08.2022 stellte der Antragsgegner Fortbewilligungsantrag, wobei er wiederum die ursprüngliche Wohnanschrift in Y....  OT X....  angab. Anhand der beigefügten Kontounterlagen wurde ersichtlich, dass der Antragsgegner überwiegend außerhalb des Landkreises W....  Gelder von seinem Konto abhob, weshalb ihn der Antragsteller über die gerichtlich bestellte Betreuerin erfolglos aufforderte, zur Klärung der Zuständigkeit seinen tatsächlichen Aufenthaltsort mitzuteilen.

 

Mit Bescheid vom 28.09.2022, der der Betreuerin mit Postzustellungsurkunde zugestellt wurde, lehnte der Antragsteller den Folgebewilligungsantrag mit folgendem Verfügungssatz ab:

 

„(..) Sehr geehrter Herr B....,

 

das Landratsamt W...., Jobcenter, erlässt folgenden

 

Bescheid

 

  1. Ihr Antrag wird für den Zeitraum vom 1. September 2022 bis 28. Februar 2023 abgelehnt.
  2. Für diesen Bescheid werden keine Kosten erhoben. (..)“

 

Mit Schreiben vom 28.10.2022 erhob der damalige Bevollmächtigte des Antragsgegners, welcher am selben Tag von der Betreuerin beauftragt worden war, gegen den Bescheid Widerspruch und führte aus, der Antragsgegner wohne zwar tatsächlich nicht mehr unter der angegebenen Anschrift. Er halte sich aber weiterhin im Zuständigkeitsbereich des Antragstellers auf. Eine neue Wohnung habe er bisher nicht gefunden. Er sei bei seiner Tante, Frau Dr. U...., unter der im Rubrum ersichtlichen Adresse untergekommen.

 

Mit Schreiben vom 11.11.2022 forderte der Antragsteller bei der Betreuerin weitere Unterlagen an, die in der Folgezeit vorgelegt wurden. Mit Schreiben vom 28.11.2022 betonte der Bevollmächtigte des Antragsgegners unter Vorlage einer Erklärung der Frau Dr. U…. nochmals, dass sich der Antragsgegner unter der bereits benannten Adresse tatsächlich aufhalte. Im Übrigen seien alle notwendigen Unterlagen vorgelegt. Da der Antragsgegner nachgewiesen mittellos sei, habe nunmehr umgehend zur Vermeidung der Einleitung gerichtlichen Eilrechtsschutzes eine Bewilligung zu erfolgen.

 

Nachdem der Antragsteller stattdessen weitere Unterlagen und Erklärungen angefordert und Hausbesuche veranlasst hatte, hat der Antragsgegner am 21.12.2022 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Dresden beantragt mit dem Ziel, einstweilig anzuordnen, dem Antragsgegner bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache – auch rückwirkend für die Zeit ab September 2022 – den Regelsatz gemäß SGB II und die Krankenversicherungskosten auszuzahlen.

 

Mit Beschluss vom 25.02.2023 hat das Sozialgericht Dresden den Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsgegner vorläufig ab 21.12.2022 anteilige Regelleistungen der Grundsicherung nach dem SGB II i.H.v. 449,00 EUR und ab dem 01.01.2023 Bürgergeld i.H.v. 502,00 EUR monatlich, längstens jedoch bis zum 30.06.2023 zu gewähren. Im Übrigen hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Zur Begründung der Befristung hat das Sozialgericht insbesondere ausgeführt, es habe im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorläufig Leistungen bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes (30.06.2023) gewährt. Aufgrund des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung sei der Bewilligungszeitraum auf sechs Monate zu verkürzen. Rechtsmittel wurden gegen diesen Beschluss nicht erhoben.

 

In Ausführung des Beschlusses übersandte der Antragsteller mit Schreiben vom 30.01.2023 der Betreuerin des Antragsgegners ein Schreiben, in dem er über die ausgesprochene vorläufige Verpflichtung informierte und Berechnungsbögen beifügte. Mit Schreiben vom 22.02.2023 informierte der Bevollmächtigte über den Tod der Betreuerin des Antragsgegners und ersuchte darum, die weitere Korrespondenz unter anderem im laufenden Widerspruchsverfahren um die streitigen laufenden Leistungen mit ihm zu führen.

 

Auch im März 2023 forderte der Antragsteller den Antragsgegner auf, eine Meldebescheinigung vorzulegen. Am 14.03.2023 wandte sich dessen Bevollmächtigter an den Antragsteller mit einem Antrag, die Notwendigkeit eines Umzuges festzustellen. Der Antragsgegner wurde ferner zu einem weiteren Meldetermin am 16.03.2023 geladen, der stattfand. Am 24.03.2023 forderte der Antragsteller im Ergebnis dieses Gesprächs den Antragsgegner schriftlich auf, zu etwaigen Umzugsabsichten in das Haus der verstorbenen Schwester in C.... sowie zu einer vermuteten Erbschaft Stellung zu nehmen.

 

Mit einem an den Antragsgegner persönlich adressierten Schreiben vom 28.03.2023 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, dass ihm zwar im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen bis zum 30.06.2023 zugesprochen worden seien, der Bewilligungszeitraum jedoch am 28.02.2023 geendet habe. Ein Folgeantrag ab 01.03.2023 liege nicht vor. Es werde darauf hingewiesen, dass er den beiliegenden Folgeantrag bis 31.03.2023 ausgefüllt vorlegen müsse. Für die Zeit ab 01.03.2023 könne ohne Antrag kein Hauptsacheverfahren anhängig werden und die gezahlten Mittel ab 01.03.2023 würden vom Antragsgegner zurückgefordert. Zugleich wurde der Antragsgegner nochmals aufgefordert, die im Schreiben vom 24.03.2023 aufgeworfenen Frage zu beantworten.

 

Mit Schreiben vom 06.04.2023 teilte der Antragsgegner mit, er sei nicht Erbe seiner Schwester. Umzugstermin sei der 30.04.2023.

 

Mit Schreiben vom 21.04.2023, das per Postzustellungsurkunde an die Adresse des Antragsgegners übersandt wurde, wies der Antragsteller nochmals auf den fehlenden Antrag hin. Die Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sei fehlerhaft gewesen. Der Antragsteller werde die Aufhebung ab 01.03.2023 beantragen. Da der Antragsgegner zum 30.04.2023 nach C.... umgezogen sei, sei die Zuständigkeit des Antragstellers entfallen.

 

Am 21.04.2023 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dresden beantragt, die (vorläufige) Bewilligung im Beschluss vom 25.01.2023 für die Zeit ab 01.05.2023 aufzuheben. Zum einen habe der Antragsgegner keinen Folgeantrag eingereicht. Es existiere nur eine Verwaltungsentscheidung bis zum 28.02.2023. Zum anderen sei der Antragssteller infolge des anstehenden Umzuges am 01.05.2023 nicht mehr leistungsverpflichtet. Der Antragsgegner sei darauf hingewiesen worden, rechtzeitig Grundsicherungsleistungen beim Jobcenter in C.... zu beantragen.

 

Dieser hat sich durch seinen nunmehrigen Prozessbevollmächtigten zum einen gegen die Zulässigkeit des Antrages gewandt. Zum anderen hat er bestritten, dass der Antrag befristet abgelehnt worden sei. Der Antragsgegner habe seinen ursprünglichen Antrag ohne Einschränkungen gestellt. Insofern sei gemäß § 41 Abs. 3 SGB II in der Regel für ein Jahr zu entscheiden. Der Antragsteller trage nicht einmal vor, dass Umstände vorgelegen hätten, die eine Verkürzung rechtfertigten. Der Bewilligungszeitraum ende damit erst im August 2023. Schon der Beginn des Bewilligungszeitraumes sei unklar, da dem Antragsgegner bisher keine Leistungen bewilligt worden seien. Der Antragsteller habe die Leistungen ohne weitere Regelung aufgrund des Gerichtsbeschlusses erbracht. Es gebe insoweit keinen Bewilligungsbescheid, der die Ablehnungswirkung zeitlich begrenze, auch keine Widerspruchsentscheidung. Stattdessen versuche der Antragsteller durch Anforderungen von Unterlagen etc. einen neuen Vorwand zu schaffen, dem Antragsgegner die Leistungen erneut zu entziehen. Das Schreiben vom 28.03.2023 liege dem Antragsgegner nicht vor. Im Übrigen sei es nicht richtig, dass der Antragsgegner am 01.05.2023 nach C.... umgezogen sei. Der vorherige Mieter sei nicht rechtzeitig ausgezogen, weshalb zeitigstens im Juni ein Umzug erfolgen könne. Weiter hat der Antragsgegner auf das Schreiben des Antragstellers vom 30.01.2023 mit den dortigen Berechnungsbögen verwiesen. Mit diesem habe der Antragsteller den Gewährungszeitraum bis zum 30.06.2023 festgesetzt.

 

Mit Beschluss vom 09.05.2023 hat das Sozialgericht Dresden seinen Beschluss vom 25.01.2023 aufgehoben. Der Antrag sei gemäß § 86 Abs. 1 Satz 4 SGG analog zulässig. Danach könne das Gericht der Hauptsache auf Antrag die Maßnahmen jederzeit ändern oder auch aufheben. Letztere sei jedoch nur für die Zukunft möglich. Der Antrag sei begründet. Der Antragsgegner habe es bislang unterlassen, einen Folgeantrag zu stellen. Einer Ummeldung von seiner vorherigen Anschrift in die aktuelle Wohnung sei er nicht nachgekommen. Postalisch sei er nur schwer erreichbar. Nachweise zur Feststellung der Bedürftigkeit für den Zeitraum ab Gewährung der Leistungen fehlten weiterhin. Kontoauszüge seien nicht vorgelegt worden. Der Antragsgegner komme offensichtlich seinen Mitwirkungspflichten nicht nach.

 

Gegen den dem Antragsgegner am 11.05.2023 zugestellten Beschluss hat dieser am 22.05.2023 Beschwerde erhoben und unter anderem ausgeführt, der Antrag des Antragsgegners auf Bewilligung von Leistungen, der seine Wirkung ab 01.09.2022 entfalte, habe keinen vorläufigen Charakter gehabt. Zwar habe das Sozialgericht zutreffend den Bewilligungszeitraum auf sechs Monate begrenzt. Demgegenüber habe weder der ursprüngliche Leistungsantrag des Antragsgegners auf Leistungen nach dem SGB II noch eine hierüber ergehende (noch nicht bestandskräftig entschiedene) Verwaltungsentscheidung einen vorläufigen Charakter. Der Leistungsantrag sei mangels eines Sachverhalts, für den die entsprechenden Ausnahmekonstellationen zur Anwendung kämen, gemäß § 41 Abs. 3 SGB II für einen Bewilligungszeitraum von einen Jahr zu verbescheiden gewesen.

 

Es erscheine als eklatanter Widerspruch, dass sowohl das Sozialgericht Dresden in der Eilanordnung als auch der Antragsteller selbst in der Leistungsfestsetzung bzw. Leistungsberechnung vom 30.01.2023 den Bewilligungszeitraum ausdrücklich bis zum 30.06.2023 angeordnet bzw. festgesetzt habe und dann der Antragsteller mit der Behauptung, der Bewilligungszeitraum habe bereits im Februar 2023 geendet, die Aufhebung der Eilanordnung des Sozialgerichts beantrage und das Sozialgericht diese Aufhebung mit derselben Begründung auch noch beschließe. Der Bewilligungszeitraum sei erst gerichtlich und dann nochmals auch ausdrücklich und schriftlich vom Antragsteller für den Zeitraum 21.12.2022 bis 30.06.2023 festgesetzt worden.

 

Der Antragsgegner beantragt,

 

unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Dresden vom 09.05.2023 den Antrag des Antragstellers auf Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Dresden vom 25.01.2023 abzulehnen.

 

Der Antragsteller beantragt,

 

            die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen.

 

Der Antragsteller betont, der Bescheid vom 28.09.2022 habe den Leistungsantrag des Beschwerdeführers für den Bewilligungszeitraum 09/22 – 02/23 abgelehnt. Insofern begrenze schon die Verwaltungsentscheidung den Wirkungszeitraum der Ablehnung. Ein neuer Leistungsantrag sei trotz mehrfacher Aufforderung durch den Antragsteller und trotz anwaltlichen Beistandes des Antragsgegners nicht gestellt worden. Durch das Schreiben des Antragstellers vom 30.01.2023 sei auch kein Bewilligungszeitraum bis zum 30.06.2023 festgelegt, sondern lediglich der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 25.01.2023 umgesetzt worden. Ferner werde darauf hingewiesen, dass als der Beschluss des Sozialgerichts vom 25.01.2023 gefasst worden sei, eine Folgeantragstellung für Zeiträume nach 02/23 noch möglich gewesen sei. Von dieser habe der Antragsgegner aber abgesehen, sodass die Aufhebung des Beschlusses vom 25.01.2023 beantragt worden sei.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den elektronischen Verwaltungsvorgang des Antragsgegners sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

 

II.

 

Die vom Antragsgegner gemäß § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte und zudem gemäß § 172 Abs. 1 SGG statthafte, insbesondere wegen Erreichens des von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bestimmten Wertes des Beschwerdegegenstandes nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossene Beschwerde, ist begründet.

 

Das Sozialgericht hat zu Unrecht auf den Antrag des Antragstellers vom 21.04.2023 seinen ursprünglichen Beschluss vom 25.01.2023 aufgehoben. Für eine solche Aufhebung fehlt es im vorliegenden Fall an einer Rechtsgrundlage.

 

Das Sozialgericht hatte mit seinem ursprünglichen Beschluss vom 25.01.2023 den Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG verpflichtet, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II im Zeitraum vom 21.12.2022 bis 30.06.2023 zu erbringen. Diesen Beschluss hat es in analoger Anwendung von § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG – zumindest nach den Gründen – für die Zukunft aufgehoben.

 

Diese Vorschrift, die es dem Gericht der Hauptsache auf den Antrag eines Beteiligten ermöglicht, ohne Änderung der Sach- und Rechtslage seine ursprüngliche, einstweilige Anordnung abzuändern oder aufzuheben (vgl. BT-Drucks. 14/5943 S. 25), ist vorliegend weder direkt noch analog anwendbar. Sie ist sowohl nach ihrer systematischen Einordnung in Absatz 1 als auch ihrem Inhalt nach erkennbar auf die Fälle des § 86b Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGG zugeschnitten (vgl. Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.10.2013 – L 7 AS 1144/13 ER – juris Rn. 15, Bayerisches LSG, Beschluss vom 08.05.2019 – L 8 SO 31/19 B ER – juris Rn. 21). In § 86b Abs. 2 SGG wie auch in § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) fehlt dagegen eine solche ausdrückliche Bestimmung. Dennoch besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass auch bei einstweiligen Anordnungen, die der formellen und materiellen Rechtskraft fähig sind, einem bestehenden Bedürfnis nach Aufhebung oder Abänderung aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz [GG]) Rechnung zu tragen ist und ein Abänderungsverfahren statthaft sein müsse. Unter welchen Voraussetzungen dies möglich sein soll und wie die Statthaftigkeit des Abänderungsverfahren dogmatisch herzuleiten ist, ist in der Rechtsprechung und in der Literatur streitig. Eine gesetzgeberische Klarstellung steht sowohl hinsichtlich der VwGO als auch dem SGG seit Jahren aus (vgl. zur Untätigkeit im Bereich der VwGO kritisch Schoch bereits in NVwZ 1991, 1121, 1123 und in Schneider/Schoch, VwGO, 43. EL August 2022, § 123 Rn. 174, wonach von einem „offenbar desinteressierten“ Gesetzgeber des 4. VwGOÄndG auszugehen sei).

 

Der Senat teilt nicht die in der Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertretene Auffassung (vgl. u.a. die Meinungsübersichten in Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. Stand 2020, § 86b Rn. 45 zum SGG und in BeckOK VwGO/Kuhla, 65. Ed., 01.07.2022, VwGO § 123 Rn. 181 zur VwGO), dass die Änderung oder Aufhebung einer nach § 86b Abs. 2 SGG ergangenen einstweiligen Anordnung durch entsprechende Anwendung des § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG erfolgen kann und dass es damit insbesondere einer relevanten Änderung der Sach- und Rechtslage nicht bedarf.

 

§ 86b Abs. 1 Satz 4 SGG ermöglicht es, nur abhängig vom Antrag eines Prozessbeteiligten, eine gerichtliche Entscheidung nach § 86 Abs. 1 SGG jederzeit frei abzuändern. Damit berechtigt die Norm zu einer weitgehenden Durchbrechung der materiellen Rechtskraft der Beschlüsse im gerichtlichen Eilrechtschutz (vgl. zur Rechtskraft dieser Entscheidungen Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. Stand 2020, § 141 Rn. 5 m.w.N. und § 142 Rn. 3b m.w.N.).

 

Die jederzeitige, freie Abänderbarkeit ist das Korrelat dazu, dass die Entscheidungen nach § 86b Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGG lediglich nach einer Interessenabwägung getroffen werden. Denn wenn die zuvor getroffene Entscheidung auf einer Interessenabwägung beruht, dann erscheint es sachgerecht, auch die Abänderung der Entscheidung bereits aufgrund einer Interessenabwägung zuzulassen. Die einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG setzt dagegen das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs sowie -grundes voraus und hat eine konkrete Regelung zum Gegenstand. Die Entscheidung ergeht nach einer summarischen Prüfung. Drohen dem Rechtsuchenden – wie häufig im Bereich der Grundsicherung – ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist die Sach- und Rechtslage sogar nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, wenn eine vollständige Aufklärung im Eilverfahren möglich ist. Ist dies nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen (vgl. zu allem Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 08.07.2020 – 1 BvR 932/20 – juris LS 1 sowie 2 und vom 10.03.2022 – 1 BvR 484/22 – juris), die sich in selber Weise von einer Interessenabwägung unterscheidet. Dies spricht dagegen, die Abänderung oder Aufhebung der rechtskräftigen einstweiligen Anordnung ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage unabhängig von einer Änderung der Sach- und Rechtslage und lediglich von einer geänderten Interessenabwägung abhängig zu machen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.10.2013 – L 7 AS 1144/13 ER – juris Rn. 15 f. unter Hinweis auf Sozialgericht [SG] Frankfurt, Beschluss vom 07.11.2009 – S 7 SO 75/09 ER).

 

Vor allem spricht gegen eine uneingeschränkte analoge Anwendung des § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG, dass eine Heranziehung der Vorschrift im klaren Widerspruch zu § 939 Zivilprozessordnung (ZPO) stehen würde, auf den § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG indes ausdrücklich verweist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.10.2013 – L 7 AS 1144/13 ER – juris Rn. 16). § 939 ZPO besagt, dass die Aufhebung einer einstweiligen Verfügung nur unter besonderen Umständen gegen Sicherheitsleistung gestattet werden darf. Diese (wenn auch eng gefassten) gesetzlichen Vorgaben würden außer Kraft gesetzt, wenn die analoge Anwendung von § 86b Abs. 1 SGG ohne weiteres zugelassen würde. Wenn sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat, verbietet sich daher nach Ansicht des Senats eine analoge Anwendung der Vorschrift.

 

Zwingend anderes ergibt sich auch nicht aus der häufig dazu zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23.03.1995 – 2 BvR 492/95 – juris Rn. 67). Denn dort wird ohne weitere Begründung von einer Anwendung des „§ 123 i.V.m. § 80 Abs. 7 VwGO“ ausgegangen (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl, Stand: 28.03.2022, § 86b SGG Rn. 457, Fn. 768).

 

Ob es für eine analoge Anwendung anderer Vorschriften grundsätzlich an einer Regelungslücke fehlt und somit gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG allein § 939 ZPO Anwendung findet (so Bayerisches LSG, Beschluss vom 08.05.2019 – L 8 SO 31/19 B ER – juris Rn. 21 unter Hinweis auf Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. (jetzt: Stand 2022), § 86b SGG, Rn. 457 ff.) oder ob vielmehr – entweder über § 202 Abs. 1 Satz 1 SGG oder in analoger Anwendung – §§ 323, 767, 769 ZPO (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.10.2013 – L 7 AS 1144/13 ER – juris Rn. 19 ff.) bzw. § 927 Abs. 1 ZPO (vgl. u.a. Sächsisches Landessozialgericht [SächsLSG], Beschluss vom 24.01.2008 – L 3 B 610/07 AS-ER – juris Rn. 2 m.w.N.) als Rechtsgrundlage einer (vom Antragsteller beantragten) Abänderung oder Aufhebung dienen kann, muss nicht abschließend entschieden werden, da die Voraussetzungen nicht vorliegen.

 

Besondere Umstände, bei denen der Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes ausnahmsweise auch durch Leistung einer Sicherheit vollständig verwirklicht werden kann, liegen weder vor noch werden solche vom Antragsteller behauptet (§ 86b Abs. 2 SGG; § 939 ZPO). Es ergeben sich auch gegenüber dem Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Anordnung keine veränderten Umstände i.S.d. § 927 Abs. 1 ZPO bzw. keine wesentliche Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse i.S.d. §§ 323, 767, 769 ZPO.

 

Zwar hat der Ablehnungsbescheid vom 28.09.2022 seine zeitliche Wirkung unzweideutig auf den Zeitraum vom 01.09.2022 bis 28.02.2023 beschränkt. Grundsätzlich bestimmt die Verwaltung durch den Tenor des Bescheids die Rechtswirkungen und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Bewilligungs-, Änderungs- oder eben um einen Ablehnungsbescheid handelt. Insofern kann auch eine Ablehnung von Leistungen durch das Jobcenter zeitlich beschränkt ausgesprochen werden. Daraus folgt sowohl im Klage- als auch im laufenden Widerspruchsverfahren eine Begrenzung des Streitgegenstandes, wenn sich die Wirkungsdauer des Verwaltungsaktes ausdrücklich – wie hier – oder konkludent aus dem Bescheid ergibt (vgl. Löcken in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. Stand 2021, § 41 Rn. 22; vgl. hinsichtlich eines, allein durch die Berechnungsbögen zeitlich begrenzten Ablehnungsbescheides BSG, Urteil vom 08.12.2020 – B 4 AS 30/20 R – juris, insbesondere Rn. 11). Ist die Wirkungsdauer des Ablehnungsbescheids durch die Behörde zeitlich bestimmt, muss der Betroffene, will er über das Ende des Zeitraums hinaus Leistungen beziehen, rechtzeitig einen neuen Antrag auf Leistungen nach § 37 Abs. 1 SGB II stellen (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 09.06.2023, § 41 Rn. 73). Eine Erweiterung der begrenzten Wirkungsdauer eines Bescheides kommt auch im Widerspruchsverfahren durch eine Abhilfe oder zusprechende Widerspruchsentscheidung nicht in Betracht.

 

Die Wirkungen der Verwaltungsentscheidung können auch nicht durch das Gericht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ausgedehnt werden. Das Sozialgericht hat den Antragssteller mit der einstweiligen Anordnung vielmehr in unzulässiger Weise verpflichtet, dem Antragsgegner über den 28.02.2023 hinaus bis zum 30.06.2023 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu erbringen. Denn für die Zeit ab 01.03.2023 lag mangels eines Weiterbewilligungsantrages nach § 37 Abs. 1 SGB II kein Anordnungsanspruch vor.

 

An den Wirkungen des Ablehnungsbescheides hat auch das Schreiben des Antragstellers vom 30.01.2023 nichts geändert. Auch wenn im Schreiben dargelegt ist, dass „die Leistungen bis zur Entscheidung im Hauptsachverfahren, längstens jedoch bis zum 30.06.2023 zu zahlen sind“, hat der Antragsteller nach den eindeutigen Ausführungen im Schreiben nur die vom Gericht getroffenen Regelungen in Berechnungsbögen dokumentiert, also allenfalls einen vorläufigen Ausführungsbescheid erlassen. Denn das Schreiben ist zum einen mit „Umsetzung der Entscheidung im Einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht Dresden unter dem Aktenzeichen S 27 AS 1718/22 ER vom 25.01.2023“ überschrieben. Zum anderen wird ausgeführt: „in o.g. einstweiligen Rechtsschutzverfahren wurde der Landkreise W....  verpflichtet ab 21.12.2022 vorläufig Leistungen zu gewähren.“

 

Eine relevante Änderung der Sach- und Rechtslage lag aber weder bei Eingang des Änderungsantrages noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts vor. Dieses hatte lediglich übersehen, dass der streitige Bewilligungszeitraum nicht bis zum 30.06.2023 dauerte. Insofern ist die fehlende Antragstellung i.S.d. § 37 Abs. 1 SGB II ab 01.03.2023 kein „neuer“ Umstand, den das Sozialgericht bei seiner ursprünglichen Entscheidung zugrunde gelegt hätte. Denn es hat nicht unterstellt, dass der Antragsgegner einen neuen Antrag stellen würde.

 

Folglich hätte der Antragsteller den Beschluss des Sozialgerichts mit dem zulässigen Rechtsmittel angreifen müssen, um den schon damals erkennbaren Fehler zu korrigieren. Eine Abänderung durch das Sozialgericht war unter den gegebenen Umständen zum Zeitpunkt der Antragstellung aus den o.g. Gründen nicht möglich.

 

Es ist zudem weder glaubhaft gemacht, geschweige denn nachgewiesen, dass der Antragsgegner inzwischen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Antragstellers seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Vielmehr verbleibt es bei den bisherigen Feststellungen, dass der Antragsgegner bei seiner Tante unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse lebt.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Das Abänderungsverfahren ist ein eigenständiges Verfahren für das eine entsprechende Kostenentscheidung zu treffen ist.

 

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

 

 

Rechtskraft
Aus
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