Chronische Erschöpfung infolge einer Lebendnierenspende

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
S 11 U 40/15
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 3 U 233/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Der „Spätschaden“ i.S.d. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist dadurch gekennzeichnet, dass er zeitlich nach der Spende einschließlich der unmittelbar danach stattfindenden Behandlung eintritt. Auf den zeitlichen Abstand des Schadenseintritts zur Lebendorganspende kommt es nicht an. Der Begriff des Spätschadens schließt den des Erstschadens ein, er bezeichnet nicht nur Folgeschäden einer bereits eingetretenen Schädigung. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII kann entgegen seiner sprachlichen Fassung nicht dahin verstanden werden, dass die Anwendung der Vermutungsregelung die vorherige Feststellung eines ursächlichen Zusammenhangs des Gesundheitsschadens mit der Lebendorganspende voraussetzt.

Die Vermutungsregelung ist einschränkend dahin auszulegen, dass sie nur anwendbar ist, wenn die Spende nach aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Kenntnis generell geeignet ist, den in Rede stehenden Schaden zu verursachen. Es gilt der allgemeine beweisrechtliche Grundsatz, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, der nicht zwingend das Bestehen einer anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung voraussetzt, aufbauen muss.

Der aktuelle Kenntnisstand erlaubt die Feststellung der generellen Geeignetheit der Lebendnierenspende zur Verursachung länger andauernder Erschöpfungssyndrome.

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 8.10.2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheids vom 22.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.1.2015 verurteilt wird, der Klägerin ab dem 1.8.2012 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. zu gewähren.

2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin und Berufungsbeklagte als Folge einer Lebendnierenspende an einem chronischen Erschöpfungssyndrom bzw. einer Neurasthenie leidet und deswegen einen Anspruch auf eine Verletztenrente hat.

Die 1957 geborene Klägerin ließ sich am 23.11.2010 im Transplantationszentrum der Universitätsmedizin M        für ihren erwachsenen Sohn ihre linke Niere entnehmen. Während des laparoskopisch durchgeführten Eingriffs musste wegen Verwachsungen und anatomisch schwieriger Verhältnisse auf eine offene Nephrektomie übergegangen werden. Im weiteren Verlauf bildete sich eine Pankreasfistel. Vom 29.1.2011 bis zum 3.2.2011 befand sich die Klägerin erneut unter der Hauptdiagnose „Pankreasfistel“ in stationärer Krankenhausbehandlung.

Mit Schreiben vom 15.2.2011 zeigte die Krankenkasse der Klägerin bei der Beklagten das Vorliegen eines Arbeitsunfalles in Form von Komplikationen nach Nierenspende mit der Folge einer Pankreasfistel an. Der Chirurg Dr. W    bestätigte mit Schreiben vom 11.4.2011, dass die – komplett verheilte ‑ Pankreasfistel Folge der Nierenentnahme gewesen sei.

Die Klägerin berichtete in der Nachsorgesprechstunde am 2.3.2011 und seitdem regelmäßig über gelegentliche Müdigkeit und Kopfschmerzen. In einem Ambulanzbrief vom 24.8.2012 wurde mitgeteilt, am 16.8.2012 habe die Klägerin über ein insgesamt verschlechtertes Gesamtbefinden mit vermehrter Erschöpfbarkeit, Müdigkeit, Leistungsschwäche und Konzentrationsschwierigkeiten sowie über einen Schwächeanfall am 14.8.2012 berichtet. Das aktuelle unspezifische Beschwerdebild sei differentialdiagnostisch am ehesten funktionell bedingt und gut mit einem Erschöpfungssyndrom zu vereinbaren, welches möglicherweise mit der komplizierten Lebendnierenspende assoziiert sei. Als weitere psychosomatische Auslöser müssten differenzialdiagnostisch sowohl die langjährige, intensive Pflege des schwer körperlich behinderten und schwer nierenkranken Sohnes, als auch eine berufliche Stresssituation im Sinne einer psychosozialen und sozioemotionalen Belastungsreaktion bzw. einer Somatisierungsstörung diskutiert werden.

In einem von der Beklagten beigezogenen Bericht vom 19.3.2012 teilte der Psychotherapeut Dipl. Psych. Z     mit, dass sich bei der Klägerin infolge des Eingriffs ein Fatigue-Syndrom mit Leistungseinbußen, vermehrter Müdigkeit und gedrückter Stimmungslage ausgebildet habe. Nach stufenweiser Wiedereingliederung als Sachbearbeiterin in der Stadtverwaltung seit 11.4.2011 werde diese ihren Angaben zu Folge den beruflichen Anforderungen nur noch sehr eingeschränkt gerecht, so dass sie ihre Arbeitszeit auf halbtags habe reduzieren müssen.

Auf Anfrage der Beklagten führte der behandelnde Nephrologe Prof. Dr. H     in einem Schreiben vom 18.2.2013 aus, dass ein Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) nach Lebendnierenspende bestehe, wobei für eine psychiatrische Erkrankung kein Hinweis vorliege.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Internisten und Nephrologen Priv.-Doz. Dr. D     vom 23.10.2013 ein. Dieser sah als wesentliche Unfallfolgen eine chronische Niereninsuffizienz im Stadium einer kompensierten Retention, eine renoparenchymatöse Hypertonie, einen sekundären Hyperparathyreoidismus, eine Hyperuricämie und ein Fatigue-ähnliches Syndrom an. Es liege eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. vor.

Die Beklagte holte im Anschluss ein weiteres Gutachten bei dem Neurologen und Psychiater Dr. Wi        vom 7.3.2014 ein. Dieser sah bei der Klägerin ein CFS, das auf die Lebendnierenspende zurückzuführen sei. Es bestehe eine MdE von 50 v.H. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 28.3.2014 führte der Gutachter aus, die Diagnose laute nach ICD-10 (F 48.0) Neurasthenie. Aus dem nephrologischen Gutachten ergäben sich keine organischen Befunde, die das Erschöpfungssyndrom erklären könnten. Hinweise auf eine psychische Erkrankung lägen nicht vor. Seine Diagnose sei, wie alle psychiatrischen Diagnosen, auf die Beschwerdeschilderung gestützt. Hier dürfe davon ausgegangen werden, dass der Psychiater aufgrund seiner Erfahrung unterscheiden könne, ob ein Betroffener die Realität wiedergebe oder etwa übertreibe. Die Klägerin sei vor der Nierenspende körperlich und seelisch völlig gesund und beschwerdefrei gewesen. Eine Lebendspende sei ein gravierendes Verlusterlebnis, unfallunabhängige Faktoren seien nicht feststellbar. Die Einzel-MdE liege bei 30 v.H. für sein Fachgebiet, da das CFS aber nicht von den körperlichen Symptomen zu trennen sei, liege eine Gesamt-MdE von 50 v.H. vor.

In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 23.4.2014 bemängelte der Neurologe und Psychiater Dr. H         die fehlende Beschwerdevalidierung in dem Gutachten von Dr. Wi       . Die Diagnose Neurasthenie (F48.0) sei für die gesicherten subjektiven Beschwerden zutreffend, man müsse sich aber im Klaren sein, dass es sich dabei um nicht objektivierbare Angaben der Klägerin handele. Müdigkeit und Leistungsschwäche seien Symptome der chronischen Niereninsuffizienz, vorliegend komme somit der internistisch-nephrologischen Begutachtung der Vorrang zu.

Der daraufhin befragte Internist und Nephrologe Prof. Dr. H        führte in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 24.7.2014 aus, die Diagnose CFS falle in das psychiatrische Fachgebiet. Ihm seien keine Methoden zur Verifizierung der Angaben der Patienten über ihre Befindlichkeit bekannt. Bei der Klägerin seien die Veränderungen auf internistisch-nephrologischem Gebiet für Nierenspender typisch und erklärten nicht die Symptomatik. Trotz der Folgen der Nierenentnahme erhöhe sich im Allgemeinen die Lebensqualität der Spender sowohl in körperlicher als auch seelischer Hinsicht. In seltenen Fällen komme es zu einer erheblichen Abnahme der Lebensqualität. Diese Spender klagten dann zumeist über ein fatigueähnliches Syndrom oder chronische Schmerzzustände. Anhand der vorliegenden Literatur sei allerdings nicht sicher ein kausaler Zusammenhang nachzuweisen, wenn auch der zeitliche Zusammenhang bestechend sei. Die leichtgradige Nierenfunktionsstörung begründe keine MdE.

Mit Bescheid vom 22.10.2014 erkannte die Beklagte den „Unfall vom 23.11.2010“ als Versicherungsfall an und lehnte die Gewährung einer Rente ab. Als „wesentliche Folgen des Arbeitsunfalls“ wurden anerkannt: „Nach einer Lebendnierenspende links (...) mit im Verlauf aufgetretener und zwischenzeitlich folgenlos ausgeheilter Pankreasfistel (...) bestehende leichtgradige Nierenfunktionsstörung und eine milde Proteinurie (übermäßige Eiweißausscheidung über den Urin)“. Nicht anerkannt wurden: Müdigkeit und Erschöpfbarkeit, Überfunktion der Schilddrüse, arterielle Hypertonie, Asthma, Fettleber.

Mit ihrem Widerspruch vom 11.11.2014 machte die Klägerin geltend, dass die Unklarheit über die Pathogenese des CFS ihr nicht zum Nachteil gereichen könne. Die Beklagte habe die Beweislastumkehr für Organspender nach § 12a Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) nicht beachtet. Nachdem die Klägerin eine weitere Begutachtung und eine Wiedervorstellung bei Prof. Dr. H        abgelehnt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.1.2015 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, als Versicherungsfall gelte bei Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII auch der Gesundheitsschaden, der über die mit der Organentnahme regelmäßig verbundenen Beeinträchtigungen hinausgehe. Der Gesundheitsschaden müsse in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Organspende stehen und nach einem der üblichen und wissenschaftlich anerkannten Diagnosesysteme festgestellt und beschrieben sein. Insoweit seien die allgemeinen Beweisregeln anzuwenden, wonach der Gesundheitsschaden gesichert vorliegen müsse. Die Vermutungsregelung des § 12 a Abs. 1 S. 2 SGB VII gelte nur für den Kausalzusammenhang. Ein fatigueähnliches Syndrom bzw. Müdigkeit und Erschöpfbarkeit oder eine Neurasthenie seien nicht bewiesen, sondern nur aufgrund von Beschwerdeangaben diagnostiziert „und nicht objektiv festgestellt“ worden, eine organische Ursache sei ausgeschlossen worden. Zudem könne die Kausalität nur dann nach § 12a Abs. 1 S. 2 SGB VII fingiert werden, wenn eine gefestigte Lehrmeinung bzgl. der generellen Eignung des angeschuldigten Ereignisses für das Entstehen des Gesundheitsschadens bestehe. Es mangele jedoch in der Literatur an Studien, die einen derartigen Zusammenhang belegen könnten. Eine rentenberechtigende MdE liege in der Konsequenz nicht vor.

Am 27.2.2015 hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Speyer Klage erhoben und vorgetragen, eine ICD-10-Codierung einer auf der Spende beruhenden Beeinträchtigung sei für die Anerkennung als solche nicht erforderlich. Bei einem CFS handle es sich um eine schwere Erkrankung, die mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität einhergehe. Zudem habe das CFS seinen Niederschlag in der ICD-10-Codierung unter dem Code G 93.3 gefunden. Das CFS sei von Dr. Wil       auch objektiv festgestellt worden in Form einer Ausschlussdiagnose, da hierfür bislang keine diagnostischen Labortests oder objektivieren technische Untersuchungen möglich seien. Weder das Gesetz, die Gesetzesmaterialien noch Literaturmeinungen sähen vor, dass zum Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen Spende und Gesundheitsschaden eine „gefestigte Lehrmeinung“ oder „gesicherte Erfahrungssätze“ vorliegen müssten, wonach ein solcher Ursachenzusammenhang bestehen müsse. Wenn man diese Eingangsvoraussetzung aber unterstellen wolle, so wären diese vorliegend beim CFS in Zusammenhang mit der Lebendnierenspende bei Weitem erfüllt und tatsächlich sogar die von der Beklagten postulierte Behauptung, dass es eine gefestigte Lehrmeinung geben müsse, erfüllt. Die wissenschaftliche Literatur bis hin zum Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) erkenne diesen Zusammenhang zwischenzeitlich an, was durch mehrere Studien belegt werde. Die Klägerin hat hierzu mehrere Veröffentlichungen vorgelegt.

Das SG hat u. a. einen Arztbrief der Psychiaterin Dr. P    vom 23.6.2015 beigezogen. Darin wird u. a. über zwei depressive Episoden sowie über eine Psychotherapie berichtet, die beide vor der Nierenspende stattgefunden hatten.

Das SG hat weiterhin ein Gutachten des Facharztes für innere Medizin sowie Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Sc        vom 28.9.2017 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 26.1.2018 und 16.2.2018 eingeholt. Auf Befragen des Sachverständigen hat die Klägerin angegeben, sie habe sich vor ihrer Nierenspende zweimal in Psychotherapie begeben, einmal nach einem schweren Unfall ihres damals 13jährigen Sohnes und ein weiteres Mal um ihr 50. Lebensjahr wegen Prüfungsangst kurz vor dem Abschluss der Fachschule für Produkt-, Raum- und Kommunikationsgestaltung. Auch kurz vor der Nierenentnahme habe sie ihre Psychotherapeutin aufgesucht. Der Sachverständige fand auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet eine Neurasthenie (ICD-10: F 48.0), die er nicht als Folge der Nierenspende einschätzte. Für ein CFS organischer Genese ergebe sich bei der Klägerin kein Anhalt. Diese Diagnose werde z. B. bei Menschen mit einer ausgeprägten Gehirnmanifestation der Multiplen Sklerose, nach Gehirnbestrahlungen oder einer cerebralen Infektion gestellt. Bei dem CFS psychischer Genese handele es sich aus psychiatrischer Sicht um eine andere Bezeichnung für Neurasthenie, wobei kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse zu bedenken seien, die zu den jeweiligen Konzeptualisierungen beigetragen hätten. Die Neurasthenie gehöre zu den somatoformen bzw. neurotischen Störungen, habe also eine psychische Ursache. Es gebe keine biologischen Marker, bildgebenden Parameter oder testpsychologische Verfahren, die ein CFS bzw. generell eine Erschöpfung beweisen könnten. Die Diagnose beruhe allein auf der Beschwerdeschilderung der Klägerin. Dieses Leiden sei unabhängig von der Nierenspende zu sehen. Primär sei nach einer Nierenentnahme eine Erschöpfung nachvollziehbar, bei der Klägerin habe es sich zudem um die erste Operation ihres Lebens gehandelt, die auch noch zu einer seltenen Komplikation mit der Notwendigkeit intensivmedizinscher Versorgung und Opiatbehandlung geführt habe. Es seien psychodynamische Prozesse in Gang gesetzt worden und schon vor der Nierenentnahme habe eine erhöhte seelische Vulnerabilität vorgelegen. Die Klägerin sei seelisch belastet gewesen durch die Krankheitsgeschichte ihres Sohnes und habe ausweislich der ärztlichen Befunde schon vor dem Eingriff zwei depressive Episoden durchgemacht.

Die Neurasthenie oder ein CFS stellten keine typischen Folgeerkrankungen einer Nierenentnahme dar. Nach den aktuellen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft sei eine Lebendnierenspende nicht geeignet, ein CFS zu verursachen. Die ihm bekannten Studien seien federführend von Nephrologen oder Internisten konzipiert worden, differentialdiagnostische Überlegungen wie das Auftreten einer somatoformen Störung würden darin nicht ausreichend berücksichtigt. Nach seiner jahrelangen Erfahrung auch in der Nierenheilkunde werde dort psychosomatischen Aspekten zu wenig Beachtung geschenkt. Auch sei bei der Klägerin vor der Nierenentnahme keine psychische Evaluation vorgenommen worden. Nach dem Verlust einer Niere komme es meistens zu einer kompensatorischen Vergrößerung der verbliebenen Niere, vorübergehend seien oftmals die Nierenretentionsparameter erhöht. Die Lebendnierenentnahme stelle einen relevanten körperlichen Eingriff dar, der auch infolge der Behandlungsmaßnahmen zu einer vorübergehenden Erschöpfbarkeit führe. Ein chronisches Erschöpfungssyndrom entstehe aber dadurch nicht. Zu oft werde von internistischer Seite die Diagnose eines CFS gestellt, obwohl eine Somatisierungsstörung oder eine Neurasthenie vorliege. Einer Studie zufolge sei bei denjenigen Nierenspendern, die die Spende bereut hätten, die Rate an Fatigue-Symptomatik höher als bei den übrigen Spendern. Dies lasse eindeutig den Schluss auf eine psychische Ursache zu, weitere Forschungen seien aber erforderlich.

Verbliebene Folgen des Eingriffs seien eine leichtgradige Nierenfunktionsstörung und milde Eiweißausscheidung, die keine MdE von mindestens 20 v.H. begründeten. Die Neurasthenie begründe (unabhängig von ihrer Ursache) nach der Literatur eine MdE von 20 v.H., zusammen mit dem Nierenverlust seien integrierend 25 v.H. angemessen.

Die Klägerin hat dazu ausgeführt, der Sachverständige habe das Vorliegen eines CFS bestätigt, einen Kausalzusammenhang mit der Nierenspende jedoch wegen dessen psychischer Ursache verneint. Dies sei unschlüssig, denn die Erkrankung könne auch in diesem Fall Folge des Eingriffs sein. Eine zuvor möglicherweise bestehende psychische Vulnerabilität müsse nicht zwingend die alleinige Ursache des CFS sein. Zudem sei durch zahlreiche Studien belegt, dass das CFS mit einer Lebendnierenspende vergesellschaftet sein könne. Man könne einen Kausalzusammenhang nicht deshalb verneinen, weil die pathophysiologischen Vorgänge noch nicht abschließend geklärt seien. Dies sei auch bei Krebs und Multipler Sklerose der Fall, ohne dass die körperliche Ursache der allgemein anerkannten „Fatigue“ in Zweifel gezogen werde. Auch der Sachverständige Dr. Sc        bestätige, dass psychosomatische Folgen der Nierenspende bislang nicht ausreichend in Betracht gezogen würden. Hier werde eher um Worte als um Inhalte gestritten. Zudem habe auch der Sachverständige Dr. Sc        einen kausalen Zusammenhang bestätigt, indem er in der Nierenentnahme den Auslöser psychodynamischer Prozesse gesehen habe. Damit seien aufgrund der Beweislastregeln die entsprechenden Einschränkungen der Nierenspende zuzuordnen.

Die Beklagte hat einen ursächlichen Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der Nierenentnahme schon wegen der psychischen Vorerkrankungen, die das Entstehen einer Neurasthenie erklären könnten, für ausgeschlossen gehalten.

Das SG hat durch Urteil vom 8.10.2018 den streitgegenständlichen Bescheid dahin abgeändert, dass ein chronisches Erschöpfungssyndrom als wesentliche Folge des Arbeitsunfalles anerkannt wird sowie die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin leide aufgrund der durchgeführten Lebendnierenspende unter einem CFS und habe in der Konsequenz einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.

Dass bei der Klägerin ein CFS vorliege, hätten Dr. Sc        und Dr. Wi        bestätigt. Dr. Sc        habe hierzu ausgeführt, dass die Diagnosen Neurasthenie und CFS im Allgemeinen synonym verwandt würden, sodass sich aus der anderweitigen Bezeichnung des CFS als Neurasthenie nichts Anderes ergebe. Bei dem CFS handele es sich um einen Gesundheitsschaden i. S.d. § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII, der über die durch die Organspende regelmäßige Beeinträchtigung hinausgehe. Hinsichtlich der Kausalität der Organspende für den Gesundheitsschaden sei § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII heranzuziehen. Die darin enthaltene Vermutungsregelung umfasse zum einen Gesundheitsschäden, die sich in einem zeitlich unmittelbaren Zusammenhang mit dem Spendenvorgang (einschließlich der medizinisch notwendigen Vorbereitungs- und Nachbehandlungsmaßnahmen) durch einen regelwidrigen Verlauf ergäben (z. B. Behandlungsfehler, Wundinfektion, Thrombosen, Embolien, Lungenentzündung) und die so schwerwiegend seien, dass sich eine (Nach-) Behandlungsbedürftigkeit ergebe. Zum anderen würden auch Spätschäden umfasst, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt als Aus- oder Nachwirkung der Spende selbst oder des aus ihr resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos des Betroffenen ergeben. Diese Spätschäden ergäben sich i.d.R. aus einer schicksalhaften Entwicklung der ursprünglich nicht regelwidrigen gesundheitlichen Beeinträchtigung. Dies gelte insbesondere für die Folgen des Fehlens des gespendeten Organs.

Die Voraussetzungen des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII lägen hier vor. Die Klägerin habe im Nachgang zu der Lebendnierenspende ein CFS entwickelt. Die Organspende sei aufgrund der Vermutungsregelung des § 12 a Abs. 1 Satz 2 SGB VII als ursächlich für die Entwicklung des CFS anzusehen. Sowohl der gerichtliche Sachverständige Dr. Sc        als auch die Beklagte hätten die Anwendbarkeit der Vermutungsregelung bezüglich der Kausalitätsfrage verkannt. Dies werde insbesondere darin deutlich, dass Dr. Sc        ausführe, dass das CFS im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nicht im Vollbeweis ursächlich auf die Lebendnierenspende zurückgeführt werden könne. Ein Vollbeweis sei vorliegend gerade nicht erforderlich, es genüge die bloße Möglichkeit, welche hier gegeben sei.

Der Ansicht, die gesetzliche Vermutung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII habe zur ungeschriebenen Voraussetzung, dass nach dem Stand der „allgemeinen medizinischen Lehrmeinung“ die Spende generell geeignet sei, den konkreten Spätschaden zu verursachen, sei nicht zu folgen. Diese Auslegung der Norm widerspreche deren ausdrücklichem Wortlaut und sei mit der Intention des Gesetzgebers bei deren Einführung nicht vereinbar. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut könne von der gesetzlichen Vermutung der Kausalität allein dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn „offenkundig ist, dass der Gesundheitsschaden nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Spende steht“. Offenkundigkeit sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 63 Abs. 2 SGB VII (Verweis auf Urteil vom 15.02.2005 – B 2 U /04 R) gegeben, wenn aufgrund des Beweisergebnisses die Organspende mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentliche Ursache der Gesundheitsstörung sei, also die Gesundheitsstörung weder im medizinischen Sinne mindestens mitverursacht oder noch um wenigstens ein Jahr beschleunigt sei. Die Vermutung sei jedoch nicht widerlegt, wenn die Ursachen der Erkrankung medizinisch ungeklärt seien. Eine derartige Offenkundigkeit sei im vorliegenden Fall bezüglich eines CFS nicht anzunehmen. Dass sich ein solches entwickeln könne, werde von zahlreichen Ärzten und Studien geschildert, was auch Dr. Sc        nicht in Abrede stelle. Transplantierende Kliniken seien dazu übergegangen, über die Möglichkeit der Entwicklung eines CFS in ihren Aufklärungsbögen hinzuweisen, um mögliche Haftungsfolgen auszuschließen. Der Umstand, dass eine „gefestigte Lehrmeinung“ nicht bestehe, führe nicht zu einem offenkundigen Ausschluss eines Zusammenhangs zwischen Lebendnierenspende und der Entwicklung eines CFS.

Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/9773, S. 42) offenbare die Intention des Gesetzgebers, den Schutz der Spender durch die Beweislastumkehr zu erweitern und die zuletzt rückläufige Spendenbereitschaft zu erhöhen. Aus diesem Grund sei eine sehr weit gefasste Formulierung gewählt worden, die auf einen umfassenden Spenderschutz ziele und nicht an eine ggf. noch gar nicht existente allgemeine medizinische Lehrmeinung anknüpfe.

Im Ergebnis sei aufgrund der Beweislastumkehr des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII die bei der Klägerin vorliegende Gesundheitsstörung in Form des CFS als Unfallfolge anzusehen. Diese begründe eine MdE von 20 v.H. Hierfür hat sich das SG auf die Einschätzung des Sachverständigen Dr. Sc        gestützt. Unabhängig von der Bezeichnung der Krankheit sei sie mit einer stärkergradig sozial-kommunikativen Beeinträchtigung zusätzlich zur psychischen und emotionalen Störung verbunden, was nach den Erfahrungswerten einer MdE von 20 v.H. entspreche.

Das Urteil wurde der Beklagten am 15.11.2018 zugestellt. Am 6.12.2018 hat sie dagegen Berufung eingelegt. Sie trägt vor, auch in einem Fall des § 12a Abs. 1 SGB VII sei der Gesundheitsschaden nach dem Maßstab des Vollbeweises festzustellen. Die Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII gelte lediglich für den Kausalzusammenhang und könne nach überwiegend vertretener Auffassung nur angewandt werden, wenn nach allgemein vertretener medizinischer Lehrmeinung die Organspende generell geeignet sei, den geltend gemachten Spätschaden zu verursachen. Das sei hier nicht der Fall. Auch bestehe schon kein ursächlicher Zusammenhang der psychischen Erkrankung der Klägerin mit der Nierenspende, da die Klägerin schon zuvor an depressiven Episoden gelitten habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 8.10.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung und führt weiter aus, sowohl das CFS als auch die Neurasthenie sein in das ICD-10 aufgenommen worden, weshalb an einem umschriebenen Gesundheitsschaden bei ihr kein Zweifel bestehen könne. Für den Kausalzusammenhang mit der Nierenspende gelte die Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII. Die von der Beklagten vertretene einschränkende Auslegung finde keine Stütze im Gesetzeswortlaut und auch nicht in der Literatur. Darüber hinaus sei die generelle Eignung der Lebendnierenspende für die Verursachung eines Müdigkeitssyndroms hinreichend belegt. Hierfür legt sie ein Abstract einer weiteren Studie aus dem Jahr 2017 sowie der im Dezember 2021 veröffentlichten „SoLKiD“-Studie von Suwelack u.a vor. Insbesondere die letztgenannte Studie belege eindeutig, dass ein chronische Fatigue nach Nierenlebendspende auch langanhaltend eintreten könne. Allerdings sei zu beachten, dass das Interesse der Transplantationsmedizin an der Veröffentlichung derartiger Forschungsergebnisse naturgemäß gering sei. Auch wenn man den Forschungsstand nicht für ausreichend erachten sollte, einen Zusammenhang festzustellen, ändere dies nichts. Denn der Gesetzgeber habe es gerade ausschließen wollen, dass fehlende Forschungsergebnisse dazu führten, den Betroffenen den Versicherungsschutz zu versagen. Die Beklagte habe den Gegenbeweis zu führen, dass der geltend gemachte Gesundheitsschaden offensichtlich nicht Folge der Nierenspende sei. Die Klägerin bezieht sich weiterhin auf ein Urteil des SG Köln vom 28.3.2019 (S 16 U 78/17), in dem ein CFS als Spätfolge einer Nierenspende anerkannt worden ist.

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 27.11.2019 „Verwachsungen im Bauchraum als Unfallfolge anerkannt.“ Sie stützt sich auf ein Gutachten des Chirurgen Dr. Wa           vom 1.7.2019, der ausgeführt hat, in der Sonographie habe er ein Dünndarmkonglomerat als indirektes Zeichen von Verwachsungen festgestellt. In Anbetracht des Verlaufs bei und nach der Nierenentnahme sei die Bildung von Verwachsungen in höchstem Maße wahrscheinlich. Diese könnten zu den von der Klägerin beschriebenen Schmerzen im ehemaligen Nierenlager führen. Das Ausmaß der Verwachsungen sei aber nur durch eine neue Operation feststellbar. Die Adhäsionsbeschwerden der Klägerin seien glaubhaft und begründeten eine MdE von 10 v.H.

Der Senat hat ein nach Aktenlage erstelltes Gutachten des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. Dr. Wi     vom 13.1.2021 eingeholt. Der Sachverständige hat die von Dr. Sc        gestellte Diagnose einer Neurasthenie (F48.0) bestätigt. Die Diagnose eines chronischen Müdigkeitssyndroms oder Chronic Fatigue Syndrom (G93.3) beziehe sich definitionsgemäß auf entzündliche oder immunologische Vorgänge. Eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems oder ein postvirales Syndrom sei aber bei der Klägerin aus den vorliegenden Befunden nicht ersichtlich. Auch eine sonstige immunologische Erkrankung sei nicht nachgewiesen. Bei der Neurasthenie handele es sich um eine rein syndromale Diagnose, die typischerweise mit weiteren subjektiven Beschwerden vergesellschaftet sei, wie sie bei der Klägerin erkennbar seien.

Die Lebendnierenspende sei nach den vorliegenden prospektiven Studien generell geeignet, für einen Zeitraum von üblicherweise Wochen bis wenigen Monaten postoperativ eine Verschlechterung der präoperativen Lebensqualität mit Auftreten von Fatigue-Symptomen zu verursachen. Anhand des wissenschaftlichen Erkenntnisstands sei hingegen nicht ersichtlich, dass eine Lebendnierenspende generell in Bezug auf das Gesamtkollektiv der Spender geeignet sei, dauerhaft anhaltende Fatigue-Symptome zu verursachen. Dies schließe selbstverständlich nicht aus, dass individuell schwerwiegende körperliche oder psychische Kontextfaktoren vorlägen, die eine länger andauernde Fatigue-Symptomatik begründeten. Beispielhaft seien hier zu nennen relevante Nierenfunktionsstörungen, hormonelle Störungen bei Nebenniereninsuffizienz, durch Verwachsungen oder Nervenverletzungen bedingte Schmerzen sowie reaktive ängstlich-depressive Störungen im Sinne von Anpassungsstörungen, bei denen die Fatigue-Symptomatik Ausdruck des zur psychischen Symptomatik gehörenden somatischen Syndroms sei. Voraussetzung für letztgenanntes sei aber, dass schwerwiegende körperliche Folgen der Spende nachweisbar seien, welche die Symptomatik aufrechterhielten. Soweit in den von ihm ausgewerteten wissenschaftlichen Studien im Einzelfall länger andauernde Fatigue-Symptome beschrieben würden, stünden diese stets im Zusammenhang mit den oben genannten Kontextfaktoren. Zwar würden hierzu vereinzelt unterschiedliche Auffassungen geäußert, diese seien jedoch durchgehend nicht durch klinische Befunde oder wissenschaftliche Studien untermauert.

Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht sei im Fall der Klägerin eine vorübergehende Fatigue-Symptomatik bzw. einer Neurasthenie aufgrund umfangreich bestehender prä-, peri- und postoperativer Kontextfaktoren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zumindest mitursächlich auf die Lebendnierenspende zurückzuführen. Nicht zu verkennen sei eine vorbestehende Vulnerabilität aufgrund der bereits zuvor dokumentierten depressiven Episoden und einer Neigung zur Somatisierung, einer vorbeschriebenen Ambivalenz hinsichtlich der die körperliche Integrität doch erheblich verletzenden Lebendnierenspende sowie der beruflichen Situation zum Zeitpunkt des Eingriffs. Es dürfe auch nicht verkannt werden, dass dieser bei der Klägerin erheblich komplikationsbehaftet gewesen sei und sich die nachfolgende Behandlung der Pankreasfistel mit der erforderlichen Drainage über mehrere Monate postoperativ hingezogen habe. Aufgrund der Fistelbildung erschienen zumindest in der ersten Zeit nach der Nephrektomie außergewöhnliche Schmerzen nachvollziehbar, die gemäß den Unterlagen zeitweilig mit Opioiden hätten behandelt werden müssen, in dieser Zeit sei auch eine depressive Symptomatik dokumentiert. Es seien aber auch im postoperativen Verlauf Probleme in der Spender-Empfänger-Interaktion erkennbar, da die Klägerin erklärt habe, sie würde einer Nierenspende nicht mehr zustimmen, ihr Sohn als Empfänger der Niere aber weiterhin bei ihr im Haushalt lebe.

Ob der Lebendnierenspende wesentliche Bedeutung als Ursache des anhaltenden neurasthenischen Beschwerdebilds zukomme, sei aus rechtlicher Sicht zu beurteilen. Aus medizinischer Sicht hänge die Beantwortung der Frage, ob die psychische Vulnerabilität eine Mitursache oder lediglich eine Schadensanlage sei, von der Vorgeschichte ab, die aber seiner Ansicht nach in den Akten unzureichend dokumentiert sei. Gegen einen Zusammenhang spreche, dass weder von internistisch-nephrologischer noch von chirurgischer Seite wesentliche körperliche Folgen der Nephrektomie beschrieben worden seien, welche eine körperlich bedingte Fatigue-Symptomatik begründen könnten, auch eine dauerhafte Schmerzmitteleinnahme sei nicht mehr dokumentiert. Damit verbleibe nur die Möglichkeit einer psychischen Verursachung der geklagten Beschwerden unabhängig von ihrer diagnostischen Einordnung. Eine depressive Störung im engeren Sinne habe Dr. Sc        auf der Befundebene ausgeschlossen. Allerdings zeigten Anpassungsstörungen bzw. Maladaptionen im Regelfall eine zeitliche Limitierung, wenn die Belastung und deren Folgen beendet seien. Wenn keine körperlichen Folgen mehr nachweisbar seien, sei kaum zu begründen, warum über einen Zeitraum von allenfalls 1 bis 2 Jahren (den man mit der verzögerten Abheilung und der psychischen Vulnerabilität begründen könne) hinaus noch eine psychoreaktive Störung mit einer krankheitswertigen Fatigue-Symptomatik vorliegen sollte. Anders sei die Situation lediglich dann, wenn als anhaltende Belastung eine ausgeprägt pathologische Spender-Empfänger-Problematik vorläge. Eine solche sei aber nicht dokumentiert, das Fehlen einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Betreuung spreche auch dagegen.

Die von dem Beschwerdebild der Klägerin verursachte MdE habe der Sachverständige Dr. Sc        – unabhängig von der Frage der Ursache – in der Zusammenschau der körperlich-funktionellen, psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Funktionseinschränkungen nach den Erfahrungswerten nachvollziehbar mit 20 v.H. eingeschätzt.

Die Klägerin hat beantragt, den Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen und zur Begründung ausgeführt, dieser habe entgegen seinen Angaben keine „eingehende Literaturrecherche“ betrieben. Er habe zur Stützung seiner Ansicht mehrere Studien herangezogen, die sich nicht mit Lebendnieren- sondern Lebendleberspenden befassten und habe diese wider besseres Wissen als Studien zu Nierenlebendspenden vorgestellt und so das Gericht bewusst in die Irre geleitet. Die Studien seien als Grundlage der Beurteilung der hier relevanten Fragen ungeeignet, weil die Leber bekanntermaßen ein nachwachsendes Organ sei. Darauf habe der Sachverständige an keiner Stelle hingewiesen. Es sei nicht wahrscheinlich, dass diese Fehler ohne Absicht geschehen seien. Auch habe er eine retrospektiv angelegte Studie als prospektiv bezeichnet und eine wichtige Studie zur Frage des richtigen Vergleichskollektivs nicht ausgewertet. Daraus ergebe sich, dass die Allgemeinbevölkerung als Vergleichsgruppe nicht geeignet sei, da Lebendnierenspender nur Personen mit guter körperlicher und geistiger Gesundheit werden könnten und sie somit eine Stichprobe mit höherer Lebensqualität als die Allgemeinbevölkerung darstellten. Auch in der Transplantationsmedizin werde dies berücksichtigt und würden das Risiko von Lebendspendern mit dem Risiko gesunder Menschen mit ähnlichen demographischen und kardiovaskulären Risikofaktoren verglichen. Auch sei bekannt, dass mehrere Studien ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer chronischen Müdigkeit beschrieben.

Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. Wi     hat in einer Stellungnahme vom 18.6.2021 ausgeführt, er habe aus der Sicht seines Fachgebiets die erreichbaren Studien auf belastbare Daten für das Vorliegen einer anhaltenden Fatigue-Symptomatik nach Nierenspenden untersucht. Als Neurologe und Psychiater besitze er keine Erfahrung mit der Transplantationsmedizin und könne nicht ausschließen, dass ihm bei einer Beschäftigung mit einem fachfremden Gebiet einzelne wissenschaftliche Arbeiten nicht erkennbar gewesen seien. Auch könne er einzelne Fehler bei der Auswertung der fast ausschließlich in englischer Sprache veröffentlichten Studien nicht ausschließen. Er habe jedoch die gefundenen Studiendaten in ihren Kernaussagen sachlich und neutral aufgearbeitet. Bei mehr als 60 durchgearbeiteten Einzelstudien könne man ihm auch nicht den Vorwurf machen, er habe keine eingehende Literaturrecherche durchgeführt. Die Verwechslung von Nieren- mit Leberspendern beruhe auf einem Fehler bei der abschließenden Durchsicht des Gutachtens. Er habe zuvor bei dessen Abfassung die betroffenen mehrfach als „Organspender“ bezeichnet, was ihm dann aufgrund der üblicherweise völlig anderen Verwendung dieses Begriffs unpassend erschienen sei. Deswegen habe er mittels der Funktion „suchen und Ersetzen“ den Wortteil „Organ“ in allen entsprechenden Wörter durch „Nieren“ ersetzt, ohne daran zu denken, dass dies in einzelnen Fällen falsch sei. Die Zuordnung einer retrospektiven Studie zu den prospektiven beruhe auf einem Irrtum. Eine von der Klägerin bezeichnete Studie (Kroencke et al., 2012) habe er bei seiner Recherche aus ihm unbekannten Gründen nicht gefunden. Aus dieser Studie ergäben sich keine Gründe für eine Änderung seiner Einschätzung. Die von der Klägerin durch ihren Bevollmächtigten vorgebrachte Kritik sei Gegenstand der fachlichen Diskussion und beziehe sich nicht auf den Vorwurf der Befangenheit.

Die Beklagte hat dem Befangenheitsgesuch der Klägerin widersprochen und ausgeführt, aus den Äußerungen des Sachverständigen ergäben sich keine Gründe für eine Besorgnis der Befangenheit.

Der Senat hat das Befangenheitsgesuch gegen den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. Wi     durch Beschluss vom 20.9.2022 zurückgewiesen. Auf die Gründe des Beschlusses wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats war.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben.

I. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 22.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.1.2015. Der Änderungsbescheid vom 27.11.2019 ist nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Ein neuer Verwaltungsakt wird nach Klageerhebung nach § 96 Abs. 1 i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Die Vorschrift gilt unabhängig davon, wer die Berufung eingelegt hat. Das LSG hat ggf. als Gericht erster Instanz über die Klage gegen den neuen Verwaltungsakt zu entscheiden (Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 96 Rn. 7; Klein in jurisPK-SGG § 96 Rn. 67). Zwar stellt die mit dem Bescheid vom 27.11.2019 erfolgte Feststellung einer weiteren Gesundheitsbeeinträchtigung als Folge des Versicherungsfalls einen den Ausgangsbescheid ändernden Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Satz 1 SGB X dar und ist dieser auch nach Erlass des Widerspruchsbescheids und im laufenden Berufungsverfahren ergangen. Jedoch fehlt es an einer Klage gegen diesen Verwaltungsakt. Die Klägerin hat weder ausdrücklich erklärt noch kann ihrem Vortrag indirekt entnommen werden, dass sie den ihr günstigen Änderungsbescheid anfechten will. Dieser ist bestandskräftig geworden und daher nicht auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen. Seine gem. § 77 SGG die Beteiligten bindenden Feststellungen sind bei der Prüfung der Begründetheit der Klage zu berücksichtigen.

II. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid hat die Beklagte festgestellt, dass es sich bei der Lebendnierenspende vom 23.11.2010 um einen Versicherungsfall gehandelt hat, mehrere Folgen des Versicherungsfalls festgestellt und die Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Versicherungsfalls abgelehnt. Das SG hat diesen Bescheid durch das angefochtene Urteil abgeändert und die Beklagte zum einen verpflichtet, ein chronisches Erschöpfungssyndrom als Folge des Versicherungsfalls anzuerkennen und sie zum anderen verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Da nur die Beklagte gegen das Urteil Berufung eingelegt hat, ist im Berufungsverfahren lediglich zu prüfen, ob die mit der Änderung des streitgegenständlichen Bescheids verbundene Feststellung einer zusätzlichen Folge des Versicherungsfalls und die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Rente nach einer MdE von 20 v.H. zu Recht erfolgt sind.

Das SG hat zunächst der Sache nach zu Recht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Lebendnierenspende und dem bei der Klägerin vorliegenden dauernden Erschöpfungszustand festgestellt. Der Senat versteht den ersten Entscheidungssatz des angefochtenen Urteils dahin, dass der dauernde Erschöpfungszustand der Klägerin als Folge der Lebendnierenspende vom 23.11.2010 festgestellt werden sollte, ohne sich auf eine der möglichen Diagnosen Chronisches Fatigue Syndrom – CFS – (ICD-10-G93.3) oder Neurasthenie (ICD-10-F48.0) festzulegen. Während des erstinstanzlichen Verfahrens und auch schon im Verwaltungsverfahren hatte eine Diskussion über die richtige Diagnose für die Erkrankung der Klägerin stattgefunden. Der Sachverständige Dr. Sc        hatte in seinem Gutachten und seinen ergänzenden Stellungnahmen die Unterschiede der beiden Diagnosen dargelegt und sich eindeutig auf die Neurasthenie als im Fall der Klägerin zutreffende Bezeichnung festgelegt. Auch der Neurologe und Psychiater Dr. Wi        hatte in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28.3.2014 ausgeführt, die Diagnose laute nach ICD-10 (F 48.0) Neurasthenie. Dem ist Dr. H         in seiner Stellungnahme vom 23.4.2014 beigetreten, wenn er auch das Vorliegen einer psychiatrischen Erkrankung in Zweifel gezogen hat. Die Klägerin hat dagegen darauf bestanden, an einem CFS zu leiden. Das SG hat im ersten Entscheidungssatz seines Urteils ein „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ festgestellt und ist damit von der im ICD-10 gebrauchten Bezeichnung „Chronisches Fatigue Syndrom“ abgewichen. Dadurch hat es zu erkennen gegeben, dass es der Diagnose im vorliegenden Fall keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat. Dementsprechend wird in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass die Diagnosen CFS und Neurasthenie im Allgemeinen synonym angewandt würden, „so dass sich aus der anderweitigen Bezeichnung des CFS als Neurasthenie nichts anderes ergibt.“ Die Entscheidung ist also dahin zu verstehen, dass lediglich ein chronischer Erschöpfungszustand und keine bestimmte Diagnose als Folge des Versicherungsfalls festgestellt werden sollte. Der Senat belässt es bei dieser Feststellung, stellt aber klar, dass der Grund der chronischen Erschöpfung in einer Neurasthenie (ICD-10 F 48.0) zu sehen ist (vgl dazu unten).

III. Rechtliche Grundlage des Feststellungsanspruchs ist § 12a Abs. 1 SGB VII. Danach gilt bei Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII auch der Gesundheitsschaden, der über die durch die Blut-, Organ-, Organteil- oder Gewebeentnahme (sowie nach Abs. 2 Satz 1 durch Voruntersuchungen und Nachsorgemaßnahmen) regelmäßig entstehenden Beeinträchtigungen hinausgeht und in ursächlichem Zusammenhang mit der Spende steht, als Versicherungsfall (Satz 1). Werden dadurch Nachbehandlungen erforderlich oder treten Spätschäden auf, die als Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos anzusehen sind, wird vermutet, dass diese hierdurch verursacht worden sind (Satz 2). Dies gilt nicht, wenn offenkundig ist, dass der Gesundheitsschaden nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Spende steht; eine Obduktion zum Zwecke einer solchen Feststellung darf nicht gefordert werden (Satz 3). Dies gilt auch bei Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit den erforderlichen Voruntersuchungen und Nachsorgemaßnahmen (§ 12a Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die am 1.8.2012 in Kraft getretenen Vorschriften gelten gem. § 213 Abs. 4 SGB VII auch für Gesundheitsschäden, die in der Zeit vom 1.12.1997 bis zum 31.7.2012 eingetreten sind (Satz 1). Ansprüche auf Leistungen bestehen in diesen Fällen ab dem 1.8.2012 (Satz 2).

1. Die Klägerin stand bei der Lebendnierenspende vom 23.11.2010 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII sind Personen, die Blut oder körpereigene Organe, Organteile oder Gewebe spenden oder bei denen Voruntersuchungen oder Nachsorgemaßnahmen anlässlich der Spende vorgenommen werden, kraft Gesetzes versichert. Versicherte Verrichtung ist das Spenden, also das Dulden der Entnahme des Organs. Der Spender muss freiwillig und nach Maßgabe des Transplantationsgesetzes (TPG) in seiner jeweils gültigen Fassung in die Entnahme seines Organs durch ein anerkanntes Transplantationszentrum und in die Übertragung des Organs auf einen gesetzlich zugelassenen Empfänger eingewilligt, sich in ein Transplantationszentrum begeben und sich dort der Entnahmeoperation einschließlich der Vor- und Nachbehandlung unterworfen haben. Denn das Gesetz soll nur solchen Lebendorganspendern Unfallversicherungsschutz gewähren, die sich zu einer nach Maßgabe des Transplantationsgesetzes rechtmäßigen Organspende bereitfinden (BSG, Urteil vom 15.5.2012 – B 2 U 16/11 R – juris Rn. 12).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Klägerin hat sich dem Eingriff nach den Vorschriften des § 8 TPG in der hier anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 4.9.2007 (BGBl. I, S. 2206) freiwillig und unentgeltlich zugunsten ihres Sohnes, eines Verwandten ersten Grades, unterzogen.

2. Infolge der versicherten Verrichtung ist es zu Gesundheitsschädigungen gekommen. Ein solcher Gesundheitsschaden „gilt“ gem. § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII als Versicherungsfall i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB VII.

a. § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII nimmt die schon vor seinem Inkrafttreten herrschende Meinung (BSG, Urteil vom 15.5.2012 – B 2 U 16/11 R – juris Rn. 23 ff.) auf, wonach der für die Lebendorganspende erforderliche chirurgische Eingriff und die damit zwingend verbundene körperliche Integritätseinbuße nicht in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung fallen. Da die versicherte Tätigkeit im Dulden einer Körperverletzung besteht, kommen die mit der rechtmäßigen Transplantation notwendig und regelmäßig verbundenen Gesundheitsschäden nach dem Schutzzweck des § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII nicht als Unfallschäden in Betracht. § 2 Abs. 1 Nr. 13 Buchst. b SGB VII soll Lebendorganspender gegen alle Gesundheitsbeeinträchtigungen schützen, die durch die Organentnahme verursacht sind und nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht zwingend mit dem operativen Eingriff und einer erforderlichen Vor- und Nachbehandlung einhergehen. In Abgrenzung zur gesetzlichen Krankenversicherung greift die gesetzliche Unfallversicherung erst dann ein, wenn im Zusammenhang mit der Organentnahme beim Organspender gesundheitliche Schäden auftreten, die über die durch die Organentnahme notgedrungen entstehenden Beeinträchtigungen hinausgehen und in ursächlichem Zusammenhang mit der Organentnahme stehen. Die im Gesetz verwendete Formulierung „regelmäßig entstehende Beeinträchtigungen“ bedeutet gegenüber dem früheren Rechtszustand keine inhaltliche Änderung (allg. vertr. Ansicht, vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O., Rn. 4.2, Ricke in BeckOGK-Kasseler Kommentar, SGB VII § 12a Rn. 10, Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, § 12a Rn. 6, Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, § 12a Rn. 7). Die Häufigkeit, mit der bestimmte Komplikationen auftreten, hat dementsprechend für das Merkmal der Regelmäßigkeit keine Bedeutung. Einbezogen in den Versicherungsschutz sind auch Spätschäden und Schäden infolge von entnahmebedingten Gesundheitsrisiken. Dadurch wird der Versicherungsschutz gegenüber § 8 Abs. 1 SGB VII erweitert, der diese Arten von Schäden nicht erfasst, weil sie nicht unfallmäßig entstehen oder nach den im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalgrundsätzen ausscheiden (Ricke a.a.O. Rn. 2).

b. § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII erfasst die Schädigungen infolge der durch die Lebendorganspende sowie Voruntersuchungen und Nachsorgemaßnahmen (§ 12a Abs. 2 Satz 1 SGB VII) veranlassten „medizinischen Verrichtungen“. Da nur solche Schäden hier in Rede stehen, ist eine genaue Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Vorschrift gegenüber § 8 Abs. 1 und 2 SGB VII für andere Schadensgeschehen im Zusammenhang mit der Spende (vgl. dazu Ricke a.a.O. Rn. 5, Keller a.a.O. Rn 8; Brandenburg in Becker/Franke/Molkentien, LPK SGB VII, § 12a Rn. 5, Mittelbach, Die versicherungsrechtliche Absicherung des Blut- und Organspenders, Berlin 2019, S. 196 ff.) nicht erforderlich.

c. Für die so umschriebenen Gesundheitsschäden begründet § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII nunmehr einen eigenen Versicherungsfall, der unabhängig davon eintritt, ob ein Arbeitsunfall i.S.d. § 8 SGB VII vorliegt (Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit, BT-Dr. 17/9773, S. 42, Keller a.a.O. Rn 4, Ricke a.a.O. § 7 Rn. 2 und § 12a Rn. 7; a.A. Wittke NZS 2020, 571, 572: nur Beweislastregel; zur Rechtslage vor Inkrafttreten des § 12a vgl. BSG, Urteil vom 15.5.2012 – B 2 U 16/11 R – juris Rn. 23 ff.). Dabei kann dahinstehen, ob ein Versicherungsfall nach § 7 SGB VII nur „fingiert“ wird (so der zuständige BT-Ausschuss, BT-Dr. 17/9773, S. 42, Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 12a SB VII, Rn. 3, Banafsche in SGb 2013, 677, Brandenburg a.a.O. Rn. 2, Leube in SGb 2012, 749). Dem ist entgegenzuhalten, dass es sich hier nicht um eine Fiktion, eine Unterstellung von Tatsachen, handelt, sondern um eine in der Macht des Gesetzgebers liegende Regelung eines Versicherungstatbestandes (Keller a.a.O., Rn 4). Die Frage hat allerdings keine praktische Bedeutung.

d. Der Tatbestand des § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII erfasst die „ungewollten“ Gesundheitsschäden infolge der Organentnahme oder Voruntersuchungen und Nachsorgemaßnahmen. Es kann offenbleiben, ob er in seinem Anwendungsbereich die Vorschriften des § 8 Abs. 1 SGB VII verdrängt oder beide Versicherungsfälle gleichwertig nebeneinanderstehen (Keller a.a.O., Rn. 8, i.E. wohl ebenso Mittelbach a.a.O. S. 197).

e. § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII stellt jedenfalls keinen Auffangtatbestand zu § 8 SGB VII dar, der erst zur Anwendung käme, wenn ein Arbeitsunfall, etwa mangels hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs, nicht festgestellt werden könnte. Hierfür enthält das Gesetz keine Anhaltspunkte (Ricke a.a.O., Rn. 6, Keller a.a.O. Rn 8; a.A.: Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O., Brandenburg in Becker/Franke/Molkentien, SGB VII, § 12a Rn 4, Schwerdtfeger in Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, § 12a Rn. 6, Woltjen in JurisPK-SGB VII § 12a Rn. 6, ders. in MedSach 2014, 106, 108,). Es gibt keine Prüfungsreihenfolge vor, auch wenn man annimmt, dass im Einzelfall die Voraussetzungen beider Versicherungsfälle erfüllt sein können (Keller a.a.O, Rn 8).

f. Die Klägerin hat infolge der Nierenentnahme Gesundheitsschädigungen erlitten.

aa. Für das Vorliegen eines Gesundheitsschadens gelten die allgemeinen Beweisregeln des Unfallversicherungsrechts. Der Gesundheitsschaden muss voll bewiesen sein (allg. Meinung, vgl. Ricke a.a.O., Rn. 18, Keller a.a.O., Rn.  5a, Brandenburg a.a.O., Rn 17).

bb. Die Beklagte hat durch ihre Bescheide vom 22.10.2014 und vom 27.11.2019 für die Beteiligten bindend als „wesentliche Folgen“ des Eingriffs eine folgenlos ausgeheilte Pankreasfistel, eine leichtgradige Nierenfunktionsstörung, eine milde Proteinurie und Verwachsungen im Bauchraum festgestellt.

cc. Darüber hinaus liegt bei der Klägerin eine Neurasthenie (ICD-10: F48.0) vor. Der Senat stützt diese Feststellung auf die Gutachten der Sachverständigen Dr. Sc        (einschließlich seiner ergänzenden Stellungnahmen) und Prof. Dr. Dr. Wi    . Demnach kann die Diagnose eines chronischen Müdigkeitssyndroms oder Chronic Fatigue Syndrom (ICD-10: G93.3) nicht gestellt werden, weil sie definitionsgemäß mit entzündlichen („Myalgische Enzephalomyelitis“) oder immunologischen („Postvirales Müdigkeitssyndrom“) Vorgängen in Verbindung steht, die bei der Klägerin aus den vorliegenden Befunden nicht ersichtlich sind. Bei der Neurasthenie handelt es sich danach um eine rein syndromale Diagnose, die typischerweise mit weiteren subjektiven Beschwerden vergesellschaftet ist, wie sie bei der Klägerin erkennbar sind.

Die Neurasthenie ist ein Gesundheitsschaden, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht regelmäßig mit dem operativen Eingriff und einer erforderlichen Vor- und Nachbehandlung einhergeht. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Sc       . Dieser hat dazu ausgeführt, die Neurasthenie sei keine typische Folgeerkrankung einer Nierenentnahme.

g. Der Gesundheitsschaden muss nach § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII in ursächlichem Zusammenhang mit der Spende stehen. Insoweit genügt nach den allgemeinen Grundsätzen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Bei Spätschäden und Nachbehandlungen erübrigt sich indes die Prüfung der Kausalität nach Satz 1, da der Kausalzusammenhang nach Satz 2 vermutet wird. Nicht nachvollziehbar ist die Ansicht, dass Satz 2 nur anwendbar sein soll, wenn die Ursächlichkeit der Spende beweislos i.S.d. Bedingungstheorie geblieben ist (Ricke a.a.O. Rn. 22), also zunächst der Ursachenzusammenhang nach der Bedingungstheorie geprüft wurde. Das Wesen einer Tatsachenvermutung besteht darin, dass die vermutete Tatsache keines Beweises bedarf.

aa. Bei der Neurasthenie der Klägerin handelt es sich um einen Spätschaden i.S.d. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII, ihr ursächlicher Zusammenhang mit der Lebendnierenspende wird daher vermutet.

Der „Spätschaden“ i.S.d. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist dadurch gekennzeichnet, dass er zeitlich nach der Spende einschließlich der unmittelbar danach stattfindenden Behandlung eintritt (Keller a.a.O. Rn. 14). Ein weiteres taugliches Abgrenzungskriterium zum „Frühschaden“ existiert nicht (Wittke a.a.O. S. 575). Auf den zeitlichen Abstand des Schadenseintritts zur Nierenspende kommt es somit nicht an. Dies ergibt sich auch aus den Gesetzgebungsmaterialien (BT.-Dr. 17/9773 S. 42), wonach es dem Gesetzgeber es bei der Einführung dieses neuen Schadensbegriffs nur darauf ankam, dass es keine zeitliche Obergrenze geben soll, ab der ein spendenbedingter Schaden nicht mehr unter Versicherungsschutz stehen sollte (Ricke a.a.O. Rn. 13). Auch wenn sich diese Aussage nicht konkret auf den Begriff des Spätschadens bezieht, spiegelt sie die Vorstellungen im Gesetzgebungsverfahren wider (Keller a.a.O.). Der Begriff des Spätschadens schließt den des Erstschadens ein, er bezeichnet nicht nur Folgeschäden einer bereits eingetretenen Schädigung (Ricke a.a.O. Rn. 12, Keller a.a.O. Rn. 13, Mittelbach a.a.O. S. 180).

Da sich der dauernde Erschöpfungszustand der Klägerin erst nach der Nierenentnahme eingestellt hat, weist er die Merkmale eines Spätschadens i.S.d. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII auf.

bb. § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII kann entgegen seiner sprachlichen Fassung nicht dahin verstanden werden, dass die Vermutungsregelung einen ursächlichen Zusammenhang des Gesundheitsschadens mit der Lebendorganspende voraussetzt. Die Gesetzesfassung ist lediglich sprachlich misslungen. Zu Beginn werden Nachbehandlungen darin einbezogen, die „dadurch“, also die durch die Lebendorganspende verursachten „ungewollten“ Schäden nach Satz 1 bzw. die Spende selbst (so Wittke NZS 2020, 571, 575) erforderlich werden. Im Anschluss ist von Spätschäden die Rede, die „als Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos anzusehen sind“. Für beide Fallvarianten folgt die Anordnung, dass vermutet wird, „dass diese hierdurch verursacht worden sind“. Es wird also zunächst ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Spende und Nachbehandlungen („dadurch“) sowie Spätschäden (als „Aus- oder Nachwirkungen der Spende“) als bestehend vorausgesetzt, um sodann denselben Ursachenzusammenhang zum Gegenstand einer Vermutung zu machen. Bei wortlautgetreuem Verständnis liefe die Vermutungsregelung unanwendbar ins Leere und würde entgegen der Absicht des Gesetzgebers keine Beweiserleichterung bewirken (vgl. nur Ricke a.a.O. Rn. 21 und 24) bzw. hätte einen Anwendungsbereich nur in den Ausnahmefällen der Multikausalität, was ebenfalls mit dem Gesetzeszweck der Förderung der Spendenbereitschaft nicht vereinbar wäre (Keller a.a.O. Rn. 12 und 16). Dass der Gesetzgeber die Vermutungsregel nur für solche Fälle aufstellen wollte, in denen die Kausalität im Sinne der philosophisch-naturwissenschaftlichen Bedingungstheorie hinreichend wahrscheinlich ist, die Ursache jedoch nicht als wesentlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung angesehen werden kann, ist ebenso unplausibel, da gerade die Kausalität i.S.d. Bedingungstheorie aus Sicht der Versicherten problematisch ist und deswegen Gegenstand der gesetzlichen Vermutung sein soll (BT.-Dr. 17/9773, S. 41 mit Verweis auf den Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin, BT.-Dr. 15/5050, S. 63, Keller a.a.O. Rn. 12 und 16 unter Aufgabe seiner früheren Auffassung, Ricke a.a.O. Rn. 21 und 24, Mittelbach a.a.O. S. 183 f., Wittke a.a.O. S. 575; a.A. Banafsche SGb 2012, 677,682, Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O., Rn. 6.2 f.). § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist daher so zu verstehen, dass zur Anwendung der Vermutungsregel nicht zuvor der ursächliche Zusammenhang zwischen der Lebendorganspende und dem Gesundheitsschaden festgestellt werden muss und dass sie sich sowohl auf die Kausalität i.S.d. Bedingungstheorie als auch auf die Frage der rechtlich wesentlichen Bedingung bezieht.

cc. Nach § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII wird der ursächliche Zusammenhang zwischen Spende und Schaden vermutet. Es handelt sich also eine gesetzliche Tatsachenvermutung i.S.d. § 292 Satz 1 ZPO, die unter den Voraussetzungen des Satzes 3 widerlegbar ist.

Die Vermutungsregelung ist einschränkend dahin auszulegen, dass sie nur anwendbar ist, wenn die Spende nach derzeit anerkannten medizinischen Erfahrungssätzen generell geeignet ist, den in Rede stehenden Schaden zu verursachen (Ricke a.a.O. Rn. 30, Keller a.a.O. Rn. 17, Brandenburg a.a.O. Rn. 20, Mittelbach a.a.O. S 184; SG Detmold, Urteil vom 29.6.2016 – S 24 KR 314/13 – juris Rn. 35; a.A. Wittke a.a.O. S. 575).

Nach dem Wortlaut des Gesetzes hat die Vermutung des Ursachenzusammenhangs lediglich zwei Tatsachen zur Grundlage, nämlich die Spende und einen Gesundheitsschaden. Sie würde danach uferlos für alle Erkrankungen gelten, die sich nach der Spende einstellen (vgl. dazu Ricke a.a.O. Rn. 29). Ihr scheint nicht, wie ansonsten bei gesetzlichen Tatsachenvermutungen, eine vom Gesetzgeber angenommene Erfahrung einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit der vermuteten Tatsache zugrunde zu liegen (Ricke a.a.O. Rn. 28). Dies entspricht jedoch nicht der sowohl im Gesetzeswortlaut als auch in den Gesetzgebungsmaterialien zutage tretenden Absicht des Gesetzgebers.

Diese kommt zum einen in der sprachlogisch widersprüchlichen Formulierung zum Ausdruck, die Vermutung solle nur für Schäden gelten, „die als Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos anzusehen sind“. Im Gesetzgebungsverfahren wurde offenbar vorausgesetzt, dass die Vermutung nicht ohne Tatsachengrundlage eingreifen soll, dass also ein Versicherungsfall nicht aufgrund nur möglicher oder grundlos vermuteter Ursachenzusammenhänge eintreten soll (vgl. dazu Keller a.a.O. Rn. 17). Entsprechendes hatte zuvor in die Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses Eingang gefunden. Danach bezieht sich die Vermutung auf Schäden, die sich als spezielle Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos „ergeben können“ (BT.-Dr. 17/9773, S. 42). Die gesetzliche Vermutungsregel soll demnach nicht ohne sachlichen Grund für jeden zeitlich nach der Spende auftretenden Gesundheitsschaden gelten.

Zum anderen war im Gesetzgebungsverfahren auch die Parallelität der neuen Vorschrift zu § 63 Abs. 2 SGB VII bewusst. Denn in der Gesetzesbegründung (BT.-Dr. 17/9773 S. 42) wird darauf verwiesen. Die in § 63 Abs. 2 SGB VII geregelte Tatsachenvermutung beruht indes auf einer Vermutungsbasis in Gestalt schwerster Schädigungen infolge bestimmter Berufskrankheiten, die eine Übersterblichkeit aufweisen und ist dementsprechend auf Todesfälle beschränkt (Ricke a.a.O. Rn. 29). Bei § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII fehlt dagegen eine solche erfahrungsbasierte inhaltliche Grundlage der Vermutung, jeder beliebige Schaden wird – entgegen der erkennbaren Regelungsabsicht ‑ ohne weiteres inhaltlich mit der Spende verknüpft.

Der Senat hält es daher für erforderlich, den Anwendungsbereich der Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut, aber entsprechend dem versicherten Risiko und nach der erkennbaren Regelungsabsicht einzugrenzen („teleologische Reduktion“), wodurch aber der Zweck der Regelung, nämlich eine spürbare Ausweitung des Versicherungsschutzes und dadurch eine indirekte Förderung der Spendenbereitschaft, nicht vereitelt werden darf.

dd. Da es hier um die Zuordnung eines Gesundheitsschadens zu einer Ursache geht, wenn auch im Rahmen einer Tatsachenvermutung, orientiert sich der Senat dabei an dem allgemeinen beweisrechtlichen Grundsatz, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aufbauen muss (BSG, Urteil vom 9.5.2006 – B 2 U 1/05 R – juris Rn. 17). Grundlage jeder Prüfung eines Kausalzusammenhangs ist demnach, dass die behauptete Ursache nach derzeit anerkannten medizinischen Erfahrungssätzen generell geeignet ist, den in Rede stehenden Schaden zu verursachen. Gegen die Anwendung dieser Grundsätze für die Bestimmung des Geltungsbereichs der Vermutung nach § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII bestehen keine grundsätzlichen Bedenken (Keller a.a.O. Rn. 17, Ricke a.a.O. Rn. 30)

Durch die Anwendung dieses Grundsatzes werden die Tatsachenvermutung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII und die damit verbundene Beweislastumkehr nicht in ihr Gegenteil verkehrt. Denn mit der Feststellung des wissenschaftlichen Erkenntnisstands wird nicht in die Prüfung eines Ursachenzusammenhangs eingetreten, sondern lediglich die wissenschaftliche Grundlage gelegt, auf der die geltend gemachten Gesundheitsstörungen des konkreten Versicherten zu bewerten sind (BSG, Urteil vom 9.5.2006 – B 2 U 1/05 R – juris Rn. 19).

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass bei diesem Vorgehen die gesetzliche Vermutung im Fall des Fehlens anerkannter medizinisch-wissenschaftlicher Erfahrungssätze, also der Beweislosigkeit, nicht zu Anwendung käme, obwohl sie gerade für diesen Fall gedacht sei und somit faktisch ins Leere ginge (Wittke NZS 2020, 571, 575). Diese Ansicht verkennt, dass zur Feststellung der generellen Geeignetheit einer Ursache nicht zwingend allgemein anerkannte medizinisch-wissenschaftliche Erfahrungssätze vorliegen müssen. Insbesondere muss es nicht in jedem Fall statistisch-epidemiologische Forschungen geben, weil dies nur eine Methode zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist und sie im Übrigen nicht auf alle denkbaren Ursachenzusammenhänge angewandt werden kann und braucht (BSG, Urteil vom 9.5.2006 – B 2 U 1/05 R – juris Rn. 18). Beispielhaft kann hier auf die Verwachsungsbeschwerden der Klägerin hingewiesen werden, die von der Beklagten auf der Grundlage der nachvollziehbaren, nur auf ärztliches Erfahrungswissen gestützten Einschätzung des Gutachters Dr. Wan          als (ungewollte) Schädigungen infolge der Nierenentnahme anerkannt wurden. Gibt es keinen aktuellen allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu einer bestimmten Fragestellung, kann in Abwägung der verschiedenen Auffassungen auch einer nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung gefolgt werden (BSG, Urteil vom 9.5.2006 – B 2 U 1/05 R – juris Rn. 18, darauf Bezug nehmend Keller a.a.O. Rn. 17 und Ricke a.a.O. Rn. 30).

h. Die Lebendnierenspende ist nach diesen Grundsätzen generell geeignet, einen chronischen Erschöpfungszustand (also die hier vorliegende Neurasthenie) zu verursachen.

aa. Diese Feststellung kann sich allerdings nicht auf eine anerkannte medizinische Lehrmeinung stützen, da eine solche nicht existiert. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. Wi    . Seine im Auftrag des Senats durchgeführte Recherche hat ergeben, dass sich weltweit eine gewisse Anzahl von Studien mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen der Lebendnierenspendern nach der Spende einschließlich der hier relevanten Erschöpfung befassen. Allerdings stellt der Sachverständige nicht fest, dass sich dazu schon eine Lehrmeinung gebildet hat. Die Feststellung, dass mehrheitlich keine Anhaltspunkte für länger anhaltenden Erschöpfungssyndrome gefunden wurden, ist nicht gleichzusetzen mit einem Konsens dahin, dass die Spende nicht generell zu deren Verursachung geeignet ist. Es handelt sich lediglich um Forschungsergebnisse. Diese sind, so wie der Sachverständige sie darstellt, nicht dahin zu werten, dass sie ein einheitliches Bild der möglichen Folgen des Eingriffs ergeben. Dass sichere Aussagen insbesondere zu den Auswirkungen von Lebendnierenspenden auf die Lebensqualität erst aufgrund umfangreicher weiterer Forschungen möglich sein werden, wird auch z.T. von den Studienverfassern betont, so etwa in der von der Klägerin vorgelegten Studie von Kroencke et al. aus dem Jahr 2012 (dort Seite E426, Bl. 666 der GA).

Schon im Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin vom 17.3.2005 (BT-Dr. 15/5050, S. 16) wurde festgestellt, dass „zu Langzeitfolgen auch bei der Nierenspende zurzeit noch wenig bekannt ist.“ Dieser Zustand hat sich offenbar bis heute nicht wesentlich verändert. Der Forschung soll durch die Einführung eines zentralen deutschen Lebendspenderegister (SOLKID-GNR) eine bessere Datengrundlage verschafft werden, indem erstmals die systematische und prospektive Datenerfassung vor und möglichst lebenslang nach der Lebendnierenspende stattfinden soll (Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie auf ihrer Website, abgerufen am 9.1.2023). Nach neueren Meldungen wird das Register frühestens im 4. Quartal 2023 die Arbeit aufnehmen (Deutsches Ärzteblatt 2022, A 1336).

bb. Das Fehlen einer anerkannten Lehrmeinung führt jedoch nicht zur Verneinung der generellen Geeignetheit der Lebendnierenspende zur Verursachung anhaltender Erschöpfungszustände.

(1) Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. Wi     hat eine generelle Eignung des Eingriffs zur Verursachung einer Verschlechterung der präoperativen Lebensqualität mit vorübergehendem Auftreten von Fatigue-Symptomen aufgrund vorliegender prospektiver Studien bejaht. Der vorhandene Kenntnisstand reicht somit für die Feststellung der grundsätzlichen Eignung der Lebendnierenspende zur Verursachung von Erschöpfungssyndromen aus. Dies genügt nach Ansicht des Senats, um den Anwendungsbereich der Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 S. 2 SGB VII zu eröffnen.

Eine Differenzierung zwischen vorübergehenden und länger andauernden Erkrankungen ist aufgrund des aktuellen Kenntnisstandes, wie ihn der Sachverständige wiedergibt, nicht möglich. Hinsichtlich der Dauer der Erkrankung differenziert er nach Spendern mit und ohne körperliche oder psychische Kontextfaktoren, wobei er allein diesen Faktoren eine entscheidende Bedeutung für die Dauer einer postoperativen Fatigue-Symptomatik zumisst. Dass dies den Studien zu entnehmen ist, ergibt sich allerdings nicht aus seinen Ausführungen. Der Befund, dass eine mit einer Lebendnierenspende vergesellschaftete Fatigue-Symptomatik länger anhält, wenn sie zusammen mit anderen Faktoren auftritt, ändert zudem nichts daran, dass Ausgangspunkt die Lebendspende ist, zumal die Kontextfaktoren (relevante Nierenfunktionsstörungen, hormonelle Störungen bei Nebenniereninsuffizienz, durch Verwachsungen oder Nervenverletzungen bedingte Schmerzen, Anpassungsstörungen) ebenfalls im Zusammenhang mit der Spende stehen. Dass die Studien Aufschluss über die genauen Ursachenzusammenhänge und die Verursachungsanteile der verschiedenen Faktoren gäben, hat der Sachverständige nicht festgestellt. Der Senat entnimmt seinen Feststellungen, dass es von der individuellen Disposition der betroffenen Person abhängt, ob sie überhaupt infolge der Lebendnierenspende ein Erschöpfungssyndrom entwickelt und wie lange dieses anhält.

An der grundsätzlichen Eignung der Lebendnierenspende zur Verursachung von chronischen Erschöpfungszuständen begründen diese Erwägungen keinen Zweifel. Allenfalls könnte damit im Rahmen der Prüfung eines Ursachenzusammenhangs in Zweifel gezogen werden, dass es sich bei dem Eingriff überhaupt um eine oder um eine wesentliche Bedingung der Erkrankung handelt. Diese Erwägungen sind jedoch auf der Ebene der generellen Eignung einer äußeren Einwirkung zur Verursachung einer Erkrankung und zumal im Rahmen einer Vermutungsregelung gerade nicht zulässig. Sie würden die gesetzliche Vermutung und die damit beabsichtigte Beweiserleichterung für die Versicherten faktisch umgehen.

An der generellen Eignung der Lebendnierenspende auch zur Verursachung länger andauernder Erschöpfungssyndrome im Sinne einer Neurasthenie bestehen nach aktuellem Kenntnisstand keine vernünftigen Zweifel.

(2) Unabhängig davon liegen bei der Klägerin auch nach Ansicht des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. Wi     geeignete Kontextfaktoren für die Unterhaltung des Erschöpfungszustands vor, nämlich die von der Beklagten als Folge der Lebendnierenspende anerkannten Verwachsungsbeschwerden.

(3) Der vom Sachverständigen Prof. Dr. Dr. Wi     dargelegte aktuelle Kenntnisstand erlaubt mithin die Feststellung der generellen Geeignetheit der Lebendnierenspende zur Verursachung der hier in Rede stehenden Erkrankung. Dies führt zur Anwendung der Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 S. 2 SGB VII. Es ist nicht zu prüfen, ob der Eingriff ursächlich für die Erkrankung der Klägerin im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung war.

3. Die Ursachenvermutung gilt gem. § 12a Abs. 1 Satz 3 SXGB VII nicht, wenn offenkundig ist, dass der Gesundheitsschaden nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Spende steht. Diese Vorschrift ist § 63 Abs. 2 Satz 2 SGB VII nachgebildet (vgl. den Hinweis in BT.-Dr. 17/9773, S. 42). Die von der Rechtsprechung für diese Vorschrift aufgestellten Grundsätze können hierfür herangezogen werden (Keller a.a.O. Rn. 21, Ricke a.a.O. Rn. 33). Danach ist das Fehlen des Kausalzusammenhanges nur dann offenkundig, wenn entweder keine oder lediglich eine entfernt liegende und rein theoretische Möglichkeit des Zusammenhanges besteht (BSG, Urteil vom 30.10.1990 – 8 RKnU 2/89 – juris).

Dass die Lebendnierenspende nicht generell ungeeignet ist, die von der Klägerin geltend gemachte Erkrankung zu verursachen, wurde oben dargelegt.

Der Ursachenzusammenhang ist auch im konkreten Fall der Klägerin nicht offenkundig ausgeschlossen. Dies würde erfordern, dass der Gesundheitsschaden mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentlich durch die Spende verursacht wurde (Keller a.a.O. Rn. 21). Das ist nicht der Fall.

Der Sachverständige Dr. Sc        hat einen Ursachenzusammenhang verneint und seine Einschätzung auf die Erwägung gestützt, bei der Klägerin seien durch die Nierenentnahme psychodynamische Prozesse in Gang gesetzt worden und schon vor der Nierenentnahme habe eine erhöhte seelische Vulnerabilität vorgelegen. Die Klägerin sei seelisch belastet gewesen durch die Krankheitsgeschichte ihres Sohnes und habe ausweislich der ärztlichen Befunde schon vor dem Eingriff zwei depressive Episoden durchgemacht. Der Sachverständige hat mithin inhaltlich die Nierenentnahme zwar als auslösendes Ereignis i.S.e. „conditio sine qua non“, jedoch als rechtlich unwesentliche Gelegenheitsursache angesehen.

Prof. Dr. Dr. Wi     hat eine Beurteilung der Wesentlichkeit des Ursachenbeitrags der Nierenentnahme als Mitursache der anhaltenden Fatigue-Symptomatik von der weiteren Aufklärung der psychiatrischen Vorgeschichte der Klägerin abhängig gemacht. Gleichzeitig hat er auf den anfangs ungünstigen postoperativen Heilungsverlauf mit zeitweise außergewöhnlichen Schmerzen sowie eine in dieser Zeit bestehende depressive Symptomatik und Probleme in der Spender-Empfänger-Interaktion hingewiesen. Im Zusammenhang mit der Frage der generellen Eignung des Eingriffs zur Verursachung einer eine länger andauernden Fatigue-Symptomatik hat er ausgeführt, dass im Einzelfall individuell schwerwiegende körperliche oder psychische Kontextfaktoren vorliegen könnten, die eine länger andauernde Fatigue-Symptomatik begründen könnten, wobei er unter mehreren beispielhaft Schmerzen aufgrund von Verwachsungen aufführt. Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin unter Verwachsungsbeschwerden als Folge der Nierenentnahme leidet. Auch aus der Sicht von Prof. Dr. Dr. Wi     stellt sich hier lediglich die Frage der Wesentlichkeit des Verursachungsbeitrags des Eingriffs, nicht aber die seiner Beteiligung an der Entstehung der Fatigue-Problematik der Klägerin.

Der Senat beurteilt die Sachlage ebenso und sieht von weiteren Ermittlungen ab, da die Frage der rechtlichen Wesentlichkeit der Nierenentnahme sich hier nicht stellt. Denn keiner der Sachverständigen hat in Zweifel gezogen, dass unter gewissen Voraussetzungen ein rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang in Betracht kommt. Offenkundig ausgeschlossen ist er mithin nicht.

III. Das SG hat auch zu Recht der Klägerin eine Rente nach einer MdE von 20 v.H. zugesprochen.

1. Anspruch auf eine Rente haben gem. § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente (§ 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VII), bei teilweiser Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) Teilrente in Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente geleistet, der dem Grad der MdE entspricht (§ 56 Abs. 3 Satz 2 2. HS SGB VII).

2. Die Folgen des oben festgestellten Versicherungsfalls mindern die Erwerbsfähigkeit der Klägerin um 20 v.H. Dies gilt zunächst schon für die mit der Neurasthenie verbundenen Beeinträchtigungen. Der Senat stützt sich insoweit auf die Einschätzung des Sachverständigen Dr. Sc       , die der Sachverständige Prof Dr. Dr. Wi     nach Aktenlage bestätigt hat und der auch die Beklagte nicht entgegengetreten ist. Darüber hinaus sind die durch Bescheid vom 27.11.2019 als Unfallschaden anerkannten Verwachsungen im Bauchraum hinzugetreten. Diese begründen nach der nachvollziehbaren Einschätzung des Gutachters Dr. Wan          eine MdE von 10 v.H., so dass bei integrierender Betrachtung jedenfalls eine Gesamt-MdE von 20 v.H. erreicht wird. Da nur die Beklagte gegen das Urteil des SG Berufung eingelegt hat, ist nicht zu prüfen, ob die festgestellten Folgen des Versicherungsfalls eine höhere MdE begründen.

Allerdings war das angefochtene Urteil dahin klarzustellen, dass der Klägerin erst ab dem 1.8.2012 eine Rente zusteht. Zwar gilt § 12a Abs. 1 SGB VII gem. § 213 Abs. 4 SGB VII auch für Gesundheitsschäden, die, wie hier, in der Zeit vom 1.12.1997 bis zum 31.7.2012 eingetreten sind (Satz 1). Ansprüche auf Leistungen bestehen in diesen Fällen jedoch erst ab dem 1.8.2012 (Satz 2).

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Das relativ geringfügige Obsiegen der Beklagten und Berufungsführerin rechtfertigt keine Kostenquotelung.

V. Der Senat lässt die Revision gegen dieses Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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