L 8 AY 2/23 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 19 AY 64/22 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AY 2/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Reisen Asylbewerber nach erfolgter Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Spanien) nach wenigen Tagen illegal wieder in das Bundesgebiet ein und melden sich bei der örtlichen Unterbringungsbehörde, der sie bis zur Überstellung zugewiesen waren, um einen Folgeantrag zu stellen, bedarf es keiner erneuten Zuweisungsentscheidung durch die höhere Unterbringungsbehörde. Örtlich zuständig ist die Behörde, in deren Bezirk die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalkt hat oder zuletzt hatte.

  1. Der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 2. Dezember 2022 wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichtet, den Antragstellern bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache Grundleistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz zu gewähren.

 

  1. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller und des Beigeladenen dem Grunde nach für beide Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe:

I.

Die 1982 geborene Antragstellerin ist die Mutter des 2005 geborenen Antragstellers. Beide sind venezolanische Staatsbürger. Die Ehe mit dem Kindsvater, der weiterhin in Venezuela lebt, wurde geschieden. Die Antragstellerin heiratete in ihrem Herkunftsland später einen italienischen Staatsangehörigen, der mittlerweile in Frankfurt am Main wohnt. Um mit ihm und dem Kind zusammen zu sein, reiste sie gemeinsam mit dem Antragsteller Anfang Mai 2021 über Kolumbien nach Spanien. Am 7. Mai 2021 wurde ihr Reisepass am Madrider Flughafen mit einem Einreisestempel versehen. Von dort aus erreichten sie über Italien am 11. Mai 2021 das Bundesgebiet. Vom 18. Mai 2021 bis Ende 2021 lebten die Antragstellerin, ihr Ehemann sowie der Antragsteller in einem gemeinsamen Haushalt in Frankfurt am Main.

Nach der Trennung begaben sich die Antragsteller in den Freistaat Sachsen. Am 5. Januar 2022 baten sie mündlich in der Erstaufnahmeeinrichtung A.... darum, ihnen Asyl zu gewähren. Mit Anlaufbescheinigung des beigeladenen Freistaates Sachsen (vertreten durch die Landesdirektion Sachsen – Zentrale Ausländerbehörde) vom selben Tag wurde ihnen aufgegeben, sich unverzüglich in der Erstaufnahmeeinrichtung in Y.... zu melden. Dort erhielten die Antragsteller am 17. Januar 2022 einen Ankunftsnachweis (Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende) und stellten am 31. Januar 2022 einen förmlichen Antrag auf Asyl. Zugleich wurden sie bis zum 16. März 2022 dazu verpflichtet, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Anschließend gab der Beigeladene den Antragstellern auf, ihren Wohnsitz im Ausländerwohnheim in A.... zu nehmen (dort wurden sie vom Beigeladenen am 5. Januar 2022 von Amts wegen angemeldet). Die Erwerbstätigkeit wurde nicht gestattet. Die Antragsteller seien vollziehbar ausreisepflichtig, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihre Asylanträge abgelehnt habe und die Aufenthaltsgestattungen erloschen seien (Bescheinigung vom
2. Mai 2022). Mit Bescheid vom 5. Mai 2022 wurden die Antragsteller schließlich der Antragsgegnerin zugewiesen und gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) dazu verpflichtet, dort ihren Wohnsitz zu nehmen. Diese brachte die Antragsteller in einer von ihr angemieteten Wohnung in A.... unter, in der sie bis Anfang September 2022 lebten.

Das BAMF informierte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 3. März 2022 darüber, dass es ein Übernahmeersuchen an Spanien gestellt habe im Rahmen des Dublin-Verfahrens, damit dort das Asylverfahren der Antragsgegner durchgeführt werde. Die spanischen Behörden erklärten sodann mit Schreiben vom 15. März 2022, für die Asylverfahren der Antragsteller zuständig zu sein gemäß Art. 14 Abs. 1 Dublin-III-VO. Mit Bescheid vom
21. März 2022 lehnte das BAMF die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab und ordnete neben der Abschiebung nach Spanien ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das es auf 21 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete. Den daraufhin gestellten Eilantrag mit dem Ziel, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid anzuordnen, lehnte das Verwaltungsgericht A.... ab (Beschluss vom 7. April 2022 – ….). Das BAMF zog daraufhin die Aufenthaltsgestattungen der Antragsteller ein und verwies wegen ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation auf den Beigeladenen (Bescheid vom 2. Mai 2022). Schließlich wurden sie am 7. September 2022 nach Spanien überstellt. Bis dahin hatte die Antragsgegnerin den Antragstellern Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) gewährt. Das beim Verwaltungsgericht A.... unter dem Az. …. anhängige Klageverfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Am 20. September 2022 sprachen die Antragsteller im Einwohnermeldeamt der Antragsgegnerin vor und baten um eine Anmeldung ohne festen Wohnsitz. Die Antragsgegnerin teilte dem Beigeladenen am 6. Oktober 2022 mit, dass die Antragsteller auf seine Veranlassung hin bei ihr im Sozialamt vorgesprochen hätten. Das BAMF informierte die Antragsgegnerin am 13. Dezember 2022, ein weiteres Übernahmeersuchen an Spanien gerichtet zu haben, welches von dort allerdings abgelehnt worden sei (Mitteilung des BAMF vom 23. Dezember 2022). Die Antragsgegnerin brachte die Antragsteller erneut in der von ihr angemieteten Wohnung in A.... unter.
Am 10. Oktober 2022 beantragten diese bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem AsylbLG. Daraufhin gewährte die Antragsgegnerin einen Abschlag für Oktober 2022. Am 15. November 2022 stellten die Antragsteller beim BAMF einen Antrag auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 AsylG.

Mit Schreiben vom 18. November 2022 zeigten sich die Prozessbevollmächtigten der Antragsteller bei der Antragsgegnerin an. Die Antragsteller seien mittellos und auf existenzsichernde Leistungen nach dem AsylbLG, dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) angewiesen. Da die Zuweisungsentscheidung vom 5. Mai 2022 fortgelte, sei die Antragsgegnerin für die Leistungsgewährung zuständig. Dem entsprechend seien die Antragsteller von dem Beigeladenen per Mail vom 27. Oktober 2022 informiert worden. Zugleich hätten die Antragsteller bei ihr Aufenthaltserlaubnisse beantragt. Die Antragsgegnerin lehnte es als örtliche Ausländerbehörde am 15. November 2022 ab, den Antragstellern Dokumente auszustellen, die sie zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigen könnten. Diese seien illegal wieder eingereist. Nachdem daraufhin keine neue auf die Antragsgegnerin lautende Zuweisungsentscheidung ergangen sei, sei der Beigeladene für die Angelegenheiten der Antragsteller zuständig. Da der aufenthaltsrechtliche Status auf "Aufenthaltsgestattung erloschen" laute, seien die Antragsteller nicht anspruchsberechtigt nach § 1 AsylbLG. Die Antragsgegnerin als örtliche Ausländerbehörde bescheinigte den Antragstellern am 22. Dezember 2022, über keinen Aufenthaltstitel zu verfügen und vollziehbar ausreisepflichtig zu sein. Der Aufenthalt sei durch gesonderte Verfügung beschränkt auf das Gebiet der Stadt A…. und nur dort die Wohnsitznahme erlaubt.

Die Antragsteller haben sich schließlich an das Sozialgericht Chemnitz gewandt und um den Erlass einer einstweiligen Anordnung nachgesucht. Das Sozialgericht hat den Beigeladenen dazu verpflichtet, den Antragstellern ab dem 21. November 2022 vorläufig Leistungen nach dem AsylbLG einschließlich der Kosten für die Unterbringung zu zahlen (Beschluss vom 2. Dezember 2022). Nach der Wiedereinreise der Antragsteller sei die ursprüngliche Zuweisungsentscheidung des Beigeladenen an die Antragsgegnerin erloschen (Bezug auf LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Dezember 2013 – L 20 AY 106/13 B ER), weshalb nunmehr der Beigeladene dazu verpflichtet sei, den Antragstellern die erforderlichen existenzsichernden Leistungen nach dem AsylbLG zu erbringen.

Der Beigeladene hat die Antragsteller daraufhin mit Bescheid vom 15. Dezember 2022 erneut der Antragsgegnerin zugewiesen und diesen unter Bezugnahme auf § 60 Abs. 1 Satz 1 AsylG aufgegeben, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in A.... zu nehmen.

Gegen den ihm am 9. Dezember 2022 zugestellten Beschluss wendet sich der Beigeladene mit seiner am 2. Januar 2023 eingelegten Beschwerde. Die Entscheidung sei rechtswidrig. Der Bescheid des BAMF über die Ablehnung des Asylgesuchs der Antragsteller gelte auch nach der Wiedereinreise fort. Da gemäß § 71 Abs. 2 Satz 2 AsylG kein Folgeantrag gestellt werden könne, bestehe die Entscheidung über die Zuweisung der Antragsteller an die Antragsgegnerin weiterhin. Deshalb sei diese dafür zuständig, den Antragstellern existenzsichernde Leistungen zu gewähren.

Der Beigeladene beantragt,

            den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 2. Dezember 2022 aufzuheben.

Die Antragsteller und die Antragsgegnerin beantragen,

            die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie halten den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) erweist sich als begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Beigeladenen dazu verpflichtet, den Antragstellern einstweilen Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren. Denn nicht dieser ist dafür zuständig, sondern die Antragsgegnerin. Entgegen ihrer Ansicht sind die Antragsteller leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG. Im Ergebnis zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zum Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegen.

 

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Eine solche Anordnung soll der Veränderung eines bestehenden Zustandes vorbeugen. Sie dient einer Bewahrung des Status quo mit einem Unterlassungsgebot an den zu Verpflichtenden. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich die Dringlichkeit des Rechtsschutzes voraus.

 

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (so genannte Sicherungsanordnung). Eine solche Anordnung soll der Veränderung eines bestehenden Zustands vorbeugen. Sie dient der Bewahrung des Status quo mit einem Unterlassungsgebot an den zu Verpflichtenden. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG; sogenannte Regelungsanordnung).

 

Das Bestehen eines Anordnungsanspruchs und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sind erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Diese allgemeinen Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (Bundesverfassungsgericht [BVerfG]), Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69).

 

Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes liegen in der Sicherung der Entscheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheprozess zu ermöglichen. Es will nichts anderes als allein wegen der Zeitdimension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen sichern und irreparable Folgen ausschließen und der Schaffung vollendeter Tatsachen vorbeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im Nachhinein als rechtswidrig erweist. Hingegen dient das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht dazu, gleichsam unter Umgehung des für die Hauptsache zuständigen Gerichts und unter Abkürzung dieses Verfahrens, geltend gemachte materielle Rechtspositionen vorab zu realisieren. Bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69, 74; Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91BVerfGE 93, 1, 14). Dies gilt sowohl für die Anfechtungs- als auch für Vornahmesachen. Hierbei dürfen die Entscheidungen der Gerichte grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.

 

Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2020 – 1 BvR 1106/20 – juris Rn. 14; Beschluss vom 25.10.1999 – 2 BvR 745/88BVerfGE 79, 69, 74; Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – 94, 166, 216). Die Gerichte, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96NVwZ 1997, 479). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09NZS 2009, 674, 675 Rdnr. 11).

Gemessen daran können sich die Antragsteller sowohl auf einen Anordnungsanspruch als auch auf einen Anordnungsgrund berufen.

Die Antragsteller sind leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Demnach sind leistungsberechtigt nach diesem Gesetz alle Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Unter diese Regelung fallen insbesondere Ausländer, die keinen Asylantrag gestellt, ihren Asylantrag zurückgenommen haben oder die nach bestands- oder rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylantrages noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden sind. Ebenso unterfallen Ausländer dieser Vorschrift, die nach der Rücknahme oder der bestands- oder rechtskräftigen Ablehnung ihres Asylantrages das Bundesgebiet zwar verlassen haben, binnen kurzem aber illegal (§ 14 Aufenthaltsgesetz [AufenthG]) wieder eingereist sind (vgl. dazu Dollinger in: Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 1 Rn. 96).

Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Antragsteller vor. Ihre Asylanträge hat das BAMF mit Bescheid vom 21. März 2022 als unzulässig abgelehnt, die Abschiebung nach Spanien angeordnet und diese verbunden mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot für
21 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zwar ist dieser Bescheid noch nicht bestandskräftig geworden, weil das Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht A.... noch läuft. Weil dieses Verwaltungsgericht aber den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den erwähnten Bescheid des BAMF abgelehnt hat, ist dieser vollziehbar. Demnach war die (Wieder-)Einreise der Antragsteller im September 2022 unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, da sie nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht einreisen durften. Denn § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG regelt ausdrücklich, dass der Ausländer infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten darf; selbst im Falle eines Anspruchs nach dem AufenthG darf ihm kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Auch wenn sich die Antragsteller seit September 2022 tatsächlich wieder im Bundesgebiet aufhalten, läuft die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (21 Monate ab dem Tag der Abschiebung am 7. September 2022) gemäß § 11 Abs. 9 AufenthG nicht ab. Die Antragsteller sind vollziehbar ausreisepflichtig nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Sind demnach die Antragsteller leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG, haben sie nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes gebotenen summarischen Prüfung Anspruch auf Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Die Sache ist auch eilbedürftig, nachdem sie glaubhaft gemacht haben, weder über Einkommen noch über Vermögenswerte zu verfügen. Damit ist ihr verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sicherung ihres menschenwürdigen Existenzminimums gefährdet, so dass einstweilen Asylbewerberleistungen zu gewähren sind.

Anders als das Sozialgericht meint, ist für die Leistungsgewährung die Antragsgegnerin zuständig. § 10 Satz 1 AsylbLG sieht diesbezüglich vor, dass die Landesregierungen oder die von ihnen beauftragten obersten Landesbehörden die für die Durchführung dieses Gesetzes zuständigen Behörden und Kostenträger bestimmen; sie können Näheres zum Verfahren festlegen, soweit dies nicht durch Landesgesetz geregelt ist. Die bestimmten zuständigen Behörden und Kostenträger können aufgrund näherer Bestimmung gemäß
§ 10 Satz 1 AsylbLG Aufgaben und Kostenträgerschaft auf andere Behörden übertragen
(§ 10 Satz 2 AsylbLG). Die Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes regelt das Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen (Sächsisches Flüchtlingsaufnahmegesetz [SächsFlüAG]). Unterbringungsbehörden sind das Staatsministerium des Innern als oberste Unterbringungsbehörde, die Landesdirektion Sachsen als höhere Unterbringungsbehörde und die Landkreise und kreisfreien Städte als untere Unterbringungsbehörden (§ 2 Abs. 1 SächsFlüAG). Für den Vollzug dieses Gesetzes sind die unteren Unterbringungsbehörden zuständig, soweit durch dieses Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes nichts anderes bestimmt ist (§ 2 Abs. 2 SächsFlüAG). Daraus folgt, dass der Beigeladene nur ausnahmsweise für den Vollzug des SächsFlüAG zuständig sein kann. Zu den aufzunehmenden Ausländern zählen gemäß § 5 Nr. 7 SächsFlüAG die Ausländer – darunter die Antragsteller – die leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG sind (zur Anspruchsberechtigung der Antragsteller nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG hat der Senat oben ausgeführt). Da § 7 Abs. 1 SächsFlüAG Zuweisungsentscheidungen nur für die nach § 5 Nr. 1 und 2 SächsFlüAG aufgenommenen Ausländer vorsieht, zu denen die Antragsteller nicht zählen, ergibt sich die sachliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus dem aufgezeigten Grundsatz in § 2 Abs. 2 SächsFlüAG.

Diese ist auch örtlich zuständig. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SächsFlüAG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem Asylverfahrensgesetz (SächsAAZuVO) ist für Entscheidungen nach dem SächsFlüAG die Behörde örtlich zuständig, in deren Bezirk der Ausländer vollziehbar verteilt oder zugewiesen wurde oder auf deren Bezirk der Aufenthalt des Ausländers vollziehbar räumlich beschränkt ist. Jedenfalls seit dem 15. Dezember 2022 ist demnach die Antragsgegnerin örtlich zuständig, nachdem ihr der Beigeladene die Antragsteller ausdrücklich zugewiesen und diese mit einer Wohnsitzauflage für das Gebiet der Antragsgegnerin versehen hat. Aber auch bereits zuvor, insbesondere im Zeitpunkt der Antragstellung beim Sozialgericht Chemnitz, ist die Antragsgegnerin der örtlich zuständige Leistungsträger gewesen. § 2 Abs. 2 SächsAAZuVO sieht insoweit vor, dass sich die Zuständigkeit in Fällen, in denen keine vollziehbare Verteilung, Zuweisung oder räumliche Beschränkung vorliegt, nach § 1 SächsVwVfZG in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a, Nr. 4 und Abs. 4 VwVfG richtet. Örtlich zuständig ist demnach die Behörde, in deren Bezirk die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes nicht näher umschrieben (vgl. auch BT-Drucks 7/910, S. 37). Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in anderem Zusammenhang auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zurückgegriffen (Urteil vom 23. Februar 1993 – 1 C 45/90 – juris Rn. 24; Urteil vom 28. September 1993 - 1 C 1/93 – juris Rn. 15). Demgemäß hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmt sich nicht nach dem inneren Willen des Betroffenen, sondern setzt eine aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse zu treffende Prognose voraus. Es besteht kein Anlass, bei der Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a VwVfG einen anderen rechtlichen Maßstab zugrunde zu legen. Im Falle der Antragsteller ist unzweifelhaft erkennbar, dass sie in A.... nicht nur vorübergehend verweilen wollen – immerhin haben sie sich nach ihrer illegalen Wiedereinreise in das Bundesgebiet sogleich dorthin begeben und leben seither in dieser Stadt. Nachdem somit die Antragsgegnerin für die Gewährung der Leistungen nach dem AsylbLG sachlich und örtlich zuständig ist, war der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG. Die Antragsgegnerin ist dazu verpflichtet, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen dem Grunde nach zu erstatten. Nach § 193 Abs. 4 SGG sind nur die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 SGG genannten Gebührenpflichtigen nicht erstattungsfähig. Das sind lediglich Kläger und Beklagte, die nicht zu den in § 183 SGG genannten privilegierten Personen gehören, nicht aber Beigeladene. Kosten eines Beigeladenen sind grundsätzlich durch eine im Verfahren unterlegene Behörde zu erstatten (BSG, Urteil vom 1. März 2011 – B 1 KR 10/10 R – juris Rn. 90). Zwar entspricht es in der Regel der Billigkeit, nach § 183 Abs. 1 SGG kostenprivilegierte Beteiligte von der Erstattungspflicht gegenüber beigeladenen Trägern öffentlicher Verwaltung freizustellen. Sie sollen nicht durch eine drohende Kostenlast von der Anstrengung eines gerichtlichen Verfahrens abgehalten werden (BSG, Urteil vom 1. März 2011 – B 1 KR 10/10 R – juris Rn. 90). Zu dem Kreis der kostenprivilegierten Beteiligten nach § 183 Abs. 1 SGG zählt die Antragsgegnerin allerdings nicht.

Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar
(§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
Saved