S 34 KR 1684/22

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 34 KR 1684/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil


Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2022 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das der Klägerin ab 21. Februar 2022 zustehende Krankengeld auf Basis des Einkommenssteuerbescheids vom Jahr 2020 zu berechnen und an die Klägerin abzüglich des bereits gezahlten Krankengeldes zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe des der Klägerin gewährten Krankengeldes.

Die Klägerin ist 1985 geboren und seit dem 1. Januar 2018 als Selbstständige freiwillig bei der Beklagten mit Anspruch auf Krankengeld versichert. 

Mit Beitragsbescheid vom 26. Januar 2022 wurden die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Klägerin für die Zeit ab dem 1. April 2021 vorläufig unter Zugrundelegung des zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Einkommenssteuerbescheides für das Jahr 2019 auf der Grundlage eines zu berücksichtigen Einkommens aus der selbstständigen Tätigkeit und aus der Vermietung und Verpachtung in Höhe von insgesamt 2.020,50 Euro berechnet. Das Arbeitseinkommen aus der selbstständigen Tätigkeit wurde mit 1.927,42 Euro berücksichtigt. 

Am 13. Januar 2022 stellte der behandelnde Arzt der Klägerin bei ihr eine bestehende Arbeitsunfähigkeit rückwirkend ab dem 10. Januar 2022 fest. 

Die Klägerin reichte den Steuerbescheid für das Jahr 2020, ausgestellt am 17. März 2020, am 14. April 2022 bei der Beklagten ein. 

Mit Bescheid vom 3. Mai 2022 gewährte die Beklagte der Klägerin Krankengeld ab dem 21. Februar 2022. Die Beklagte berechnete das kalendertägliche Krankengeld aus einem entfallenen Arbeitseinkommen in Höhe von 1.927,42 Euro. Im Bescheid vom 3. Mai 2022 setzte die Beklagte die Krankengeldhöhe ab dem 21. Februar 2022 mit kalendertäglich 44,98 EUR brutto sowie 47,58 Euro netto fest.

Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 13. Mai 2022 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie an, dass die Berechnung des Krankengeldes auf Grundlage des Steuerbescheides 2019 seitens der Beklagten nicht korrekt erfolgt sei. Der Steuerbescheid 2020 habe der Beklagten vorgelegen und sei bei der Beitragsberechnung berücksichtigt worden, insoweit müsse auch das Krankengeld aus diesem höheren Entgelt berechnet werden. Im Jahr 2020 habe ihr Einkommen 43.493,00 Euro betragen und sei damit deutlich höher gewesen als im Jahr 2019.

Nachdem die Klägerin den Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2020 (ausgestellt am 17. März 2020) bei der Beklagten eingereicht hatte, berechnete diese mit dem Beitragsbescheid vom 14. Mai 2022 die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Klägerin für das Jahr 2020 endgültig. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2022 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Einkommenssteuerbescheid des Jahres 2020 wirke sich nicht auf das zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung maßgeblich Arbeitseinkommen aus. Zuletzt sei das Einkommen aus dem Jahr 2019 für die Beitragsbemessung herangezogen worden, dieses sei daher auch für das Krankengeld maßgeblich.

Die Klägerin hat, anwaltlich vertreten, am 22. Dezember 2022 Klage erhoben.

Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren. 

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin das Krankengeld auf Grundlage des Steuerbescheids 2020 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden. 

Die Klägerin hat sich mit Schriftsatz vom 19. Juli 2023, die Beklagte mit Schriftsatz vom 19. Juni 2023 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Klägerin bei der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidung war, Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Streitgegenständlich ist der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2022, den die Klägerin mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG angreift. 

Die Kammer geht dabei zugunsten der Klägerin (§ 123 SGG) davon aus, dass sich das Begehren auf die Zahlung der Differenz zwischen dem neu berechneten Krankengeld auf Basis des Einkommenssteuerbescheids und den bereits erhaltenen Zahlungen richtet. Dies wurde bei der Tenorierung berücksichtigt.

Die Klage ist insoweit zulässig und auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Neuberechnung des Krankengeldes auf Basis des Einkommenssteuerbescheids des Jahres 2020.

Nach § 47 Abs. 1 S. 1 des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) beträgt das Krankengeld 70 v. H. des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt (Regelentgelt). Nach § 47 Abs. 1 S. 5 SGB V wird das Regelentgelt nach den Absätzen 2, 4 und 6 des § 47 SGB V berechnet und nach § 47 Abs. 1 S. 6 für Kalendertage gezahlt. Für Versicherte, die – wie die Klägerin – nicht Arbeitnehmer sind, gilt nach § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V als Regelentgelt der kalendertägliche Betrag, der zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung aus Arbeitseinkommen maßgebend war.

Bei freiwillig versicherten hauptberuflich Selbstständigen ist das Krankengeld nach § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V nur im Sinne einer widerlegbaren Vermutung nach dem Regelentgelt zu berechnen, das dem Betrag entspricht, aus dem zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit Beiträge entrichtet worden sind. Die Vermutung kann demnach widerlegt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dieses Einkommen erkennbar nicht der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation des Versicherten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entspricht (BSG, Urteil vom 6. November 2008 – B 1 KR 28/07, juris). Die Ermittlung des Arbeitseinkommens erfolgt nach den Grundsätzen des Einkommensteuerrechts. Liegt der Beitragsbemessung ein vom Finanzamt erlassener Einkommenssteuerbescheid zugrunde, ist die konkrete Höhe des Arbeitseinkommens grundsätzlich diesem Bescheid zu entnehmen, und zwar auch dann, wenn der Steuerbescheid nicht das Kalenderjahr betrifft, das dem Jahr, in dem die Arbeitsunfähigkeit eintritt, unmittelbar vorausgeht (BSG a.a.O.).

Die Klägerin hat die Vermutung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V durch rechtzeitige Vorlage des Steuerbescheids für das Jahr 2020 widerlegt, sodass dieser für die Berechnung des Krankengeldes maßgeblich ist. Die Vermutung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V ist auch zugunsten des Versicherten widerlegbar, also der Nachweis höherer Einnahmen ist grundsätzlich möglich (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. September 2006 – L 16 KR 195/05, juris; SG Koblenz, Urteil vom 18. September 2019 – S 11 KR 607/18, juris; SG Aachen, Urteil vom 13. Oktober 2020 – S 14 KR 115/20, juris). Dies ist aber nur dann zu berücksichtigen, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse über den Krankengeldanspruch konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass das Einkommen nicht dem der Beitragsbemessung zugrundeliegenden Einkommen entspricht (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28. September 2006 – L 16 KR 195/05, juris; SG Koblenz, Urteil vom 18. September 2019 – S 11 KR 607/18, juris). Hierfür spricht, dass der Wortlaut des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V nicht zwingend ein Abstellen auf den Zeitpunkt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit erforderlich ist. Der Zeitpunkt gilt zwar für das zugrunde zu legende Regelentgelt, nicht aber für die Widerlegung der Vermutung. Diese muss auch nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit noch widerlegbar sein (so im Ergebnis das SG Koblenz a.a.O.). Der Krankenkasse ist es bei Widerlegung der Vermutung noch möglich, das Krankengeld abweichend zu berechnen bzw. die Änderung zu berücksichtigen. So lag der Fall bei der Klägerin. Sie hatte rechtzeitig, nämlich am 14. April 2022 und damit noch vor der Entscheidung der Beklagten über die Gewährung von Krankengeld am 3. Mai 2022, den Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2020 vorgelegt. Aus diesem ergab sich ein deutlich höheres Einkommen als aus dem zunächst zugrunde gelegten Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2019 (1.927,42 Euro im Jahr 2019 und 3.624,42 Euro im Jahr 2020 an monatlichem Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit). Die Beklagte hätte bereits im April 2022 die Beiträge der Klägerin zur Kranken- und Pflegeversicherung auf Basis dieses Steuerbescheids neu berechnen können. Der Beklagten lagen damit bereits vor Berechnung und Gewährung des Krankengeldes durch Steuerbescheid nachgewiesene Anhaltspunkte vor, dass das zugrunde gelegte Regelentgelt nicht dem tatsächlichen Einkommen der Klägerin entspricht, sondern höher ist bzw. war. 

Auf den – zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über das Krankengeld noch nicht vorliegenden – Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2021 kommt es hingegen nicht an. Hierauf hat die Beklagte zu Recht hingewiesen. Zwar ist Referenzjahr für die Bestimmung des Einkommens grundsätzlich das Jahr vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (SG Koblenz a.a.O.). Eine nochmalige Korrektur widerspricht jedoch dem Willen des Gesetzgebers. Widerlegbar ist die Vermutung des § 47 Abs. 4 S. 2 SGB V nur bis zur Entscheidung der Krankenkasse über das Krankengeld. Danach ist die Festsetzung als endgültig anzusehen. Im Rahmen der Änderung des § 240 SGB V im Jahr 2018, wonach ein zweistufiges Verfahren zur Beitragsfestsetzung eingeführt wurde, hat er insoweit ausgeführt, dass sich in Hinblick auf das im Zusammenhang mit einer nach § 44 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V abgegebenen Wahlerklärung bei Arbeitsunfähigkeit zu berechnende Krankengeld durch die Neuregelungen keine Änderungen ergäben. Das Regelentgelt, das zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Krankengeldberechnung maßgeblich gewesen sei, sei unabhängig von Beitragsnachberechnungen nach dem neuen § 240 Abs. 4a Satz 3 SGB V endgültig festzustellen. Dabei werde berücksichtigt, dass der Versicherte typischerweise zur Sicherung seines Lebensunterhalts auf das Krankengeld angewiesen sei und die Bewilligung zeitnah zum Ausfall des zu ersetzenden Einkommens erfolgen müsse. Dem werde Rechnung getragen, wenn als Regelentgelt im Sinne einer widerlegbaren Vermutung auf die zuletzt vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit maßgeblich gewesene Beitragsbemessungsgrundlage und damit auf diejenigen Verhältnisse im aktuellen Versicherungsverhältnis abgestellt werde, die anhand einfach festzustellender Tatsachen rasch und verwaltungspraktikabel ermittelt werden könnten. Dies trage der Funktion des Krankengeldes Rechnung, den Entgeltersatz bei vorübergehendem Verlust der Arbeitsfähigkeit sicherzustellen (BT-Drs. 18/11205, S. 72). Würde man aber eine Änderung bzw. Nachberechnung des Krankengeldes auch nach Vorlage eines entsprechenden Steuerbescheides nach der endgültigen Festsetzung des Krankengeldes durch die Krankenkasse zulassen, so liefe dies im Ergebnis auf ein zweistufiges Verfahren der Krankengeldberechnung hinaus, nämlich vorläufige Festsetzung und spätere Anpassung bei Vorlage des entsprechenden Einkommensteuerbescheids. Dies ist aber gerade nicht vom Gesetzgeber gewollt gewesen und läuft dem Zweck der Krankengeldzahlung zuwider. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
 

Rechtskraft
Aus
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