S 28 SO 5/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 28 SO 5/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 92/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 13/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern 1/3 der außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von lebensunterhaltsichernden Sozialhilfeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch – (SGB XII).

Die in den Jahren 1962 und 1964 geborenen, verheirateten Kläger sind bulgarischer Staatsangehörigkeit. Der Kläger ist aufgrund seiner Behinderung auf einen Rollstuhl angewiesen.

Die Ehegatten reisten am 23.10.2012 ins Bundesgebiet ein und wohnten zunächst bei ihrer Tochter (D.) und dem Schwiegersohn (E.) in B-Stadt. Diese hatten zur damaligen Zeit jeweils ein Gewerbe angemeldet. Am 21.02.2013 beantragten sie jedoch beim Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II) und gaben an, bei ihnen seien die Aufträge ausgeblieben und die Ersparnisse aufgebraucht. 

Am 15.02.2013 stellten die Kläger selbst beim Beklagten dann einen Antrag auf Sozialhilfeleistungen. Dabei wurde angegeben, bisher sei der Lebensunterhalt mit einer Rente des Ehemanns i.H.v. ca. 140 € monatlich sowie durch Unterstützung seitens ihrer Kinder sichergestellt worden. Diese hätten jedoch nunmehr kein Geld mehr, sie zu unterstützen. Die Klägerin gab weiter an, sie könne nicht arbeiten, da sie rund um die Uhr mit der Pflege des Klägers beschäftigt sei.

Der Antrag wurde vom Beklagten zunächst an das örtliche Jobcenter weitergeleitet. Von dort lehnte man die Leistungsgewährung jedoch durch Bescheid v. 01.07.2013 und Widerspruchsbescheid v. 15.10.2013 ab. Das hiergegen eingeleitete Klageverfahren blieb erfolglos.

Durch Bescheid v. 12.06.2016 stellte das Ausländeramt des Beklagten den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Ehegatten fest. Der Bescheid ging ihnen am 13.06.2016 zu.

Durch Bescheid v. 28.10.2013 lehnte der Beklagte dann auch die Gewährung von SGB XII – Leistungen ab. Dies begründete er damit, die Kläger seien von den Leistungen ausgeschlossen, da sie eingereist seien, um Sozialhilfe zu erlangen.

Hiergegen legten die Kläger am 13.12.2013 Widerspruch ein.

Am 12.02.2014 haben sie Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben. 

Der Beklagte hat den Widerspruch mit Bescheid v. 20.02.2014 zurückgewiesen. Zur Begründung führt er aus, eine Einreise zum Zwecke der Erlangung von Sozialhilfeleistungen sei gegeben, wenn die Inanspruchnahme der Leistungen für den Einreiseentschluss von prägender Bedeutung gewesen sei. Es genüge, wenn dieses Motiv für die Einreise neben anderen Gründen in besonderer Weise bedeutsam gewesen sei. Die Kläger seien in einer Situation aktueller Hilfebedürftigkeit nach Deutschland eingereist. Sie hätten auch aufgrund der Behinderung des Klägers und der Pflege durch Klägerin keine Aussichten gehabt, hier ihren Lebensunterhalt selbst sicherzustellen. Es habe ihnen daher klar sein müssen, dass sich ein Aufenthalt in Deutschland nur unter Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen verwirklichen lasse.

Mit Schriftsatz v. 18.03.2014 haben die Kläger ihre Klage geändert.

Sie tragen nunmehr vor, der Beklagte habe die Gewährung von Sozialhilfeleistungen zu Unrecht abgelehnt. Sie seien nicht eingereist, um Sozialhilfe zu erlangen. Vielmehr sei der Grund für die Einreise gewesen, dass ihre Kinder bereits in Deutschland gelebt hätten. Dabei handele es sich nicht nur um ihre Tochter und den Schwiegersohn in B-Stadt sondern auch um eine weitere Tochter, die damals bereits in E-Stadt gelebt habe. Sie seien davon ausgegangen, von ihren Kindern unterstützt zu werden. Im Übrigen hätten sie immerhin über die Rente des Klägers verfügt. Diese habe in Bulgarien ausgereicht, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Sie beantragen,

den Bescheid v. 28.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 20.02.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren,

hilfsweise als Darlehen bis zur Klärung der Ansprüche gegen den Beklagten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er beruft sich auf die in den Bescheiden gegebene Begründung.

Die Kläger haben ab dem 20.02.2014 zeitweise Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Zwischenzeitlich sind sie nach Bulgarien verzogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.  


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. 

Der Bescheid v. 28.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 20.02.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger daher nicht in ihren Rechten. Sie haben keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen, weder nach dem 3. noch nach dem 4. Kapitel SGB XII.

Die Kläger waren als Ausländer vom Leistungsbezug nach dem 3. und 4. Kapitel SGB XII ausgeschlossen, da der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 S.1 Alt. 1 SGB XII a.F. bzw. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB XII n.F. eingreift. Nach dieser Vorschrift haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

§ 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe (vgl. hierzu und zu Folgendem: Schlette in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 23 SGB XII, Rn. 77). Das folgt unmittelbar aus dem Wortlaut, denn die Konjunktion „um - zu“ bezeichnet ein ziel- und zweckgerichtetes Handeln und damit eine Zweck-Mittel-Relation, in der die Einreise das Mittel und die Inanspruchnahme von Sozialhilfe den mit ihr verfolgten Zweck bildet (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1992, FEVS 43, 113, 115 f. = BVerwGE 90, 212, 214; BSG, Urt. v. 3. Dez. 2015, B 4 AS 44/15 R; LSG Nds.-Bremen, Beschl. v. 25. Nov. 2016, L 11 AS 567/16 B; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10. Sept. 2009, L 23 SO 117/06). Eine „Um-zu-Einreise“ in diesem Sinne liegt nicht nur dann vor, wenn der Sozialhilfebezug einziger Zweck der Einreise nach Deutschland war. Der erforderliche finale Zusammenhang zwischen Einreise und Inanspruchnahme von Sozialhilfe ist vielmehr bereits dann gegeben, wenn die Einreise des Ausländers auf verschiedenen Motiven beruht, der Zweck der Inanspruchnahme für den Einreiseentschluss jedoch von prägender Bedeutung gewesen, also nicht nur neben vorrangigen anderen Zwecken billigend oder notgedrungen in Kauf genommen worden ist (BVerwG, FEVS 43, 113, 115 f.). Das Motiv, Sozialhilfe zu erlangen, muss für den Ausländer neben anderen Einreisegründen so wichtig gewesen sein, dass er ansonsten nicht eingereist wäre (LSG Bad.-Württ, Beschl. v. 22. Juni 2016, L 2 SO 2095/16 ER-B; SG Dortmund, Urt. v. 12. Sept. 2016, S 32 AS 5367/15). Für eine „Um-zu“-Einreise genügt es demnach nicht, wenn der Bezug von Sozialhilfeleistungen anderen Einreisezwecken untergeordnet ist (LSG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 12. Jan. 2009, L 20 B 58/08 AY; VG Braunschweig, Urt. v. 20. Dez. 2004, 3 A 107/04; VG Düsseldorf, Beschl. v. 10. Juni 2002, 13 L 1459/02).

Die Einreisegründe sind subjektive Tatsachen, die nur im Wissen des betreffenden Ausländers stehen. Liegen Anhaltspunkte für einen Anspruchsausschluss nach Absatz 3 vor, ist es Sache des betroffenen Ausländers, die allein in seinem Wissen stehenden Einreisegründe zu benennen sowie widerspruchsfrei und substanzreich darzutun, um dem Sozialhilfeträger die Möglichkeit zu geben, nachzuprüfen, ob ein Anspruchsausschluss wegen „Um-zu“-Einreise anzunehmen ist (Schlette in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 23 SGB XII, Rn. 80 m.w.N.).

Anhaltspunkte für eine „Um-zu“-Einreise können sich z. B. aus folgendem ergeben (Schlette in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 23 SGB XII, Rn. 80 m.w.N.): 
- Einreise ohne jegliche eigene Mittel; 
- Einreise zu Verwandten, die selbst Sozialhilfe beziehen; 
- Voraufenthalte in Deutschland mit Sozialhilfebezug; 
- Beantragung von Sozialhilfe unmittelbar bei oder nach der Einreise; 
- schlechte Aussichten auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, da keine Sprach- und/oder Landeskenntnisse, keine oder unzureichende Schul- oder Berufsausbildung, keine Berufspraxis im Heimatland, keine oder eingeschränkte Erwerbsfähigkeit.

Zeigt der Ausländer Mitwirkungsbereitschaft und legt er schlüssige, diese Indizwirkung erschütternde Einreisegründe dar, die einer Überprüfung durch die Ausländerbehörde standhalten, greift der Anspruchsausschluss nach Ziffer 4 nicht ein. Verweigert er die Mitwirkung oder macht er unzureichende, falsche und/oder widersprüchliche Angaben, ist eine „Um-zu“-Einreise anzunehmen. Bei einem non liquet geht der Beweisnachteil wegen des Ausnahmecharakters der Ziffer 4 zu Lasten des Sozialhilfeträgers (OVG Berlin a. a. O.). Kann also trotz hinreichender Mitwirkung des Betroffenen letztlich nicht geklärt werden, ob die angegebenen Gründe tatsächlich vorliegen, so trifft die materielle Beweislast die Behörde (Schlette in: Hauck/Noftz, SGB, 05/17, § 23 SGB XII, Rn. 81).

Vorliegend haben die Kläger nach Überzeugung der Kammer die gegen sie sprechenden Indizien nicht substantiiert widerlegt. Sie sind nahezu ohne eigene Mittel ins Bundesgebiet eingereist. Sie konnten insbesondere nicht davon ausgehen, dass die geringe Rente des Ehemanns ausreichen würde, um damit in Deutschland auch nur annähernd den eigenen Lebensunterhalt selbst sicherzustellen. Offenbleiben kann die Frage, ob eine Rente von 140 € monatlich in Bulgarien ausreicht, um den Lebensunterhalt von zwei Personen zu decken (was das Gericht allerdings stark anzweifelt). Denn es ist davon auszugehen, dass die Kläger jedenfalls Kenntnis davon besaßen, dass dieser Betrag in Deutschland hierfür keinesfalls ausreichend ist. Dies dürfte auch in Bulgarien allgemein bekannt sein. Die Kläger sind auch weder besonders betagt, noch unterliegen sie bekannten kognitiven Einschränkungen. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass bereits zwei Töchter der Kläger in Deutschland lebten, die sich über die hiesigen Verhältnisse ein eigenes Bild machen konnten. Es erscheint lebensfern, dass die Verwandten vor der Einreise der Kläger nicht über die Frage, wie in Deutschland deren Lebensunterhalt finanziert werden soll, gesprochen haben.

Weiter zogen die Kläger in den Haushalt ihrer Tochter und des Schwiegersohnes zu, die zum Zeitpunkt der Einreise der Kläger zwar noch keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beantragt hatten, jedoch aufgrund des Auftragsmangels in ihren Gewerben den eigenen Lebensunterhalt selbst kaum sicherstellen konnten. Die Kläger konnten also bei Fassung des Einreiseentschlusses gerade nicht davon ausgehen, von diesen dauerhaft finanziert zu werden, wie dies die Klägerseite vorträgt. Es ist auch weder vorgetragen noch nachgewiesen worden, dass die Kläger bei ihrer Einreise über die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse der Tochter und des Schwiegersohnes keine Kenntnis hatten.

Auch der Verweis auf die weitere, offenbar in E-Stadt lebende Tochter vermag die Indizien aus Sicht der Kammer nicht zu erschüttern. Die Kläger haben noch nicht einmal ausdrücklich die Behauptung aufgestellt, dass diese in solchen wirtschaftlichen Verhältnissen lebte, die ihr eine maßgebliche Unterstützung der Eltern erlaubte. Auch wurde kein konkreter Vortrag zu Beruf, Einkommen und Vermögen der Tochter gehalten. Dieser Vortrag ist aufgrund seiner fehlenden Substanz nicht geeignet, die gegenteiligen Anhaltspunkte zu entkräften.

Zudem spricht gegen die Kläger, dass sie – wenn auch nicht unmittelbar – so jedoch zeitnah nach der Einreise Sozialhilfeleistungen beantragt haben. Zum Zeitpunkt des Sozialhilfeantrags waren seit dem Zuzug nur knapp vier Monate verstrichen.

Schließlich war den Klägern schon bei der Einreise klar, dass sie hier dauerhaft ihren Lebensunterhalt nicht selbst sicherstellen konnten. Dies folgt bereits aus der Angabe, sie hätten sich auf die Unterstützung der Kinder verlassen. Zudem ist der Kläger rollstuhlpflichtig behindert. Die Klägerin hat bei Beantragung der Sozialhilfeleistungen deutlich zum Ausdruck gemacht, dass sie aufgrund der Pflege ihres Ehemannes nicht arbeiten wolle.

Das Gericht verkennt nicht, dass der Voraufenthalt der Kinder ein Motiv für die Einreise der Kläger ins Bundesgebiet gewesen ist. Die Entscheidung gerade für Deutschland und Südhessen ist sicherlich hierauf zurückzuführen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die Einreise nicht auch das Ziel verfolgte, hier Sozialhilfeleistungen zu erlangen. Die Kammer ist unter Gesamtwürdigung der genannten Indizien und des klägerischen Vortrags zu der Einschätzung gelangt, dass der Sozialhilfebezug kein untergeordnetes Motiv für die Einreise war, sondern dass die Kläger nicht eingereist wären, wenn es in Deutschland keine Sozialhilfe gäbe. Insbesondere wurde nicht im Ansatz vorgetragen, welche nicht-finanziellen Vorteile sich die Kläger von der Nähe zu ihren Kindern konkret versprochen haben. Auch wurde nicht geltend gemacht, dass und warum ein Verbleib in Bulgarien nicht weiter möglich war. Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Kläger sich inzwischen schon seit einiger Zeit wieder in Bulgarien aufhalten.

Auf die Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen konnte wegen des Eingreifens des Leistungsausschlusses verzichtet werden.

Auch der Hilfsantrag ist unbegründet. Ein Anspruch auf darlehensweise Leistungen besteht aus dem o.g. Grund ebensowenig wie ein Anspruch auf zuschussweise Leistungsgewährung.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Hierbei war zu berücksichtigen, dass die zunächst eingereichte Untätigkeitsklage zulässig und begründet gewesen ist.

Das zulässige Rechtsmittel der Berufung folgt aus § 143 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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