S 18 AS 1781/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 18 AS 1781/17
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Kosten werden nicht erstattet.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids, mit dem der Beklagte der Klägerin zuvor bewilligte Leistungen nach dem SGB II vollständig aufhebt und die Erstattung eines Betrags in Höhe von 55.171,84 € festsetzt.

 

Der Beklagte bewilligte der Klägerin mit diversen Bewilligungsbescheiden Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1.11.2005 bis zum 28.2.2011. Zuvor hatte die Klägerin seit dem 13.11.2003 (unter der vorherigen Rechtslage die damalige) Sozialhilfe durch die Stadt Krefeld bezogen. Nachdem der Beklagte Informationen über mögliche, bislang unbekannte Vermögenswerte der Klägerin erhalten zu haben glaubte und bis ins Jahr 2015 hinein ermittelt bzw. den Ausgang des gegen die Klägerin geführten steuerrechtlichen Ermittlungsverfahrens abgewartet hatte, hob er nach vorheriger Anhörung der Klägerin die in dem o.g. Zeitraum ergangenen Bewilligungsbescheide mit Bescheid vom 1.9.2015 vollständig auf und setzte die Erstattung eines Betrags in Höhe von 55.171,84 € fest.

 

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Sie trug vor, dass es sich bei den Kontoauszügen, denen eine Bareinzahlung von 119.000 € zu entnehmen sei, um Fälschungen handele, die vom Vater der gemeinsamen Tochter N….. angefertigt worden seien. Bei diesem, dem Zeugen H….., handele es sich um einen Experten auf dem Gebiet der Informationstechnologie mit langjähriger Erfahrung in Bankensektor. Sie verfüge auch nicht über Eigentumswohnungen. Lediglich ihre Mutter sei Eigentümerin einer Wohnung in A…... Die Behauptungen des Herrn H….. seien frei erfunden. Das Ladenlokal in K….. habe die Klägerin nur auf dem Papier geerbt, da ihr Schwiegervater das Ladenlokal eigenmächtig an seine Tochter veräußert habe; es müsse daher noch eine rechtliche Auseinandersetzung über die Eigentumsverhältnisse geführt werden. Auch gebe es in Ä….. keine Grundbücher, sodass der von der Beklagten geforderte Nachweis dafür, dass die Mutter Eigentümerin der Wohnung in A….. sei, nicht mittels eines durch den Beklagten angeforderten Grundbuchauszugs vorgelegt werden; später stellte die Klägerin klar, dass die Schwester der Klägerin Eigentümerin der Wohnung in A….. sei. Hinsichtlich des Ladenlokals würden weiterhin eigene Ansprüche geltend gemacht, hierüber sei auch ein Rechtsstreit anhängig.

 

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.3.2017 als unbegründet zurück. Der Kindsvater der Tochter der Klägerin, N….., der ehemals mit der Klägerin liiert gewesen war – der Zeuge H….. in der mündlichen Verhandlung vom 20.3.2023 –, habe 2011 Unterlagen zu den Vermögensverhältnissen der Klägerin sowie deren Tochter L….. bei dem Beklagten eingereicht. Danach habe – was unstreitig ist – die Klägerin im Jahre 2001 von ihrem verstorbenen Ehemann in K….. anteiliges Immobilienvermögen geerbt u.a. in Form eines Ladenlokals, welches zu 1/8 der Klägerin gehöre und zur Hälfte der Tochter des Ehemanns, L…... Darüber hinaus habe die Klägerin nach ihren – unstreitigen – Angaben im Jahre 2003 nach einer Anreise über den Flughafen K….. während einer Taxifahrt einen Bargeldbetrag in Höhe von 135.000 € verloren; hierüber hat sie bei der Polizei in K….. eine Verlustanzeige aufgeben. Dieses Geld stamme nach den späteren Angaben der Klägerin aus dem Erbe ihres Ehemanns und gemeinsamen Ansparungen. Sie habe dieses Geld nach Ä….. geschafft, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen, da dort auch ihre Familie lebte. Sie habe dieses Geld auch außer Landes bringen wollen, da die Klägerin zu dieser Zeit Stress mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten (dem Zeugen H…..) gehabt habe, der eine Kontovollmacht besessen habe. Ferner sei die Kopie eines Kontoauszuges der ….. Bank K….., adressiert an die Klägerin, vorgelegt worden. Aus diesem Kontoauszug gehe hervor, dass am 03.11.2003 eine Einzahlung über 119.000 € erfolgt sei und am 05.11.2003 eine entsprechende Abbuchung. Weiter gebe es zwei Einzahlungen und Abbuchungen über jeweils 1.000 € am 04.08.2003 und am 06.11.2003. Zudem solle die Klägerin im Jahre 2006 eine Eigentumswohnung in A….. (Ä…..) zu einem Preis von ca. 35.000 € gekauft haben und im Jahr 2008 eine weitere Eigentumswohnung in A….. zu einem Preis von 20.000 €. Aus dem zur Akte gereichten Vermögensfragebogen vom 03.04.2011 gehe hervor, dass die Klägerin erst bejahte, Eigentümerin einer Eigentumswohnung zu sein und handschriftlich auf eine Erklärung verwies. Die Angabe auf den Vermögensfragebogen und der Verweis auf eine Erklärung seien mehrmals gestrichen und Vermögenswerte letztendlich verneint. Die Klägerin sei auch auf den durch einen Dritten zur Akte gereichten Kontoauszug der …. Bank K….. angesprochen worden, welcher dem Beklagten als Fax-Kopie mit dem Aufdruck des eigenen Faxgerätes der Klägerin vorgelegen habe. Zunächst habe die Klägerin abgestritten, überhaupt ein Faxgerät gesessen zu haben. Auf Vorhalt der Telefonnummer habe die Klägerin mithilfe der Tochter eingeräumt, doch das Gerät besessen zu haben, doch dass der Kontoauszug gefälscht sei. In Ä….. könne man für 50 € alles bestätigt bekommen. Sie habe 2-3 Jahre nach dem Tod des Vaters lediglich ein Haus geerbt, in dem ihre Mutter lebe. Sie und ihre Schwester wären so verblieben, dass die Mutter weiterhin dieses Haus bewohnen solle. Später stellte die Klägerin klar, dass sie diese Äußerungen nicht getätigt habe. Ihre Mutter lebe in einer Mietwohnung. Vor diesem Hintergrund halte der Beklagte die Behauptung der Klägerin, überhaupt keine Vermögenswerte zu verfügen, für nicht glaubhaft. Nach eigenen Angaben habe sie am 2.10.2003 einen Bargeldbetrag von 135.000 € nach Ä….. eingeführt. Eine sichere, meldepflichtige Auslandsüberweisung sei von der Klägerin offensichtlich nicht in Betracht gezogen worden. Es sei zum einen schon nicht vorstellbar, dass irgendjemand Bargeld dieser Größenordnung in einem Taxi vergesse, es sei aber völlig abwegig, wenn diese Person von existenzsichernden staatlichen Leistungen abhängig sei, wie die Klägerin spätestens ab dem Folgemonat. Nach ihrer Rückkehr aus Ä….. und Transfer des Geldbetrages habe die Klägerin nachweislich Sozialleistungen beantragt. Dieser Sachverhalt weise auf ein zielgerichtetes, auf die Schaffung von Voraussetzungen für die Leistungsgewährung gerichtetes Verhalten hin. Aus Sicht des Beklagten könnten die Handlung der Klägerin nur zu dem Zweck erfolgt sein, die eigene Vermögenssituation zu verschleiern, was wiederum den Rückschluss zulasse, dass bedarfdeckendes Vermögen in ihrem Fall zur Verfügung gestanden habe und wahrscheinlich immer noch stehe. Auch seien die gemachten und später teilweise widerrufenen Angaben der Klägerin unplausibel. Die Rückforderungsvoraussetzungen nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X seien gegeben.

 

Die Klägerin hat daraufhin Klage erhoben. Zu Unrecht gehe der Beklagte davon aus, dass auf Seiten der Klägerin erhebliche Vermögenswerte zur Verfügung gestanden hätten bzw. immer noch stünden. Der Beklagte behaupte ohne Beweise schlicht, dass die Angaben der Klägerin nicht glaubhaft seien. Auch die Finanzverwaltung und die Strafverfolgungsbehörden hätten das Verfahren gegen die Klägerin eingestellt. So habe die Klägerin entgegen der Annahme des Beklagten in der Vergangenheit nie ein Konto bei der ….. Bank in K….. unterhalten; später legte die Klägerin indes eine Erklärung der Bank vor, wonach sie vor dem 23.10.2016 dort kein Konto gehabt habe. Auch habe die Klägerin mitgewirkt und wie sie noch weitere Belege vorlegen solle, sei nicht wirklich nachvollziehbar. Das Geld – die 135.000 € – sei schlicht abhandengekommen.

 

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Bescheid vom 1.9.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.3.2017 aufzuheben.

 

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Der Beklagte verweist auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Die Klägerin treffe Mitwirkungspflichten, denen sie nicht nachkomme.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, das Protokoll des Erörterungstermins und des Verhandlungstermins und den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Deren Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig und beschweren die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 1 S. 2 SGG. Der Beklagte hat zurecht die Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom 1.11.2005 bis zum 28.2.2011 zurückgenommen.

 

Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit

 

1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,

 

2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder

 

3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

 

Die zurückgenommenen Bewilligungsbescheide begünstigen die Klägerin, da sie deren Anspruch auf die ihr bewilligten Leistungen nach dem SGB II feststellen und Grundlage der Leistungsgewährung sind und waren. Die Bewilligungsbescheide zu erlassen war auch rechtswidrig. Die Klägerin hat als Erbin ihres verstorbenen Ehemannes Teileigentum an in Ä….. liegenden Immobilien erworben, deren Wert zum Zeitpunkt der jeweiligen Bewilligungsentscheidungen auch nicht hinreichend vorhersehbar unter dem für die Klägerin geltenden Vermögensfreibeträgen gelegen hat. Da aber zum einen der Wert des Erbteils noch nicht feststand und jedenfalls aufgrund des Erbes eine fehlende Hilfebedürftigkeit der Klägerin im Raum stand, hätte der Beklagte bei Kenntnis des Sachverhalts allenfalls lediglich vorläufig bewilligen dürfen. Zum anderen, da die vererbten Vermögenswerte aufgrund der laufenden Erbauseinandersetzung er Klägerin noch nicht zur Deckung ihres Lebensunterhalts und den ihrer Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung standen, hätten die Leistungen auch nur darlehensweise bewilligt werden dürfen (§ 24 Abs. 5 SGB II) – unterstellt, dass die Klägerin tatsächlich nicht mehr im Besitz der Ende 2003 abgehobenen und nach ihrem Vortrag sogleich abhanden gekommenen Barmitteln von 135.000 € gewesen wäre. Sonst wäre die Klägerin ohnehin nicht hilfebedürftig gewesen im Sinne des § 9 SGB II. Dass die Klägerin tatsächlich diesen erheblichen Bargeldbetrag im Taxi verloren hatte ist zwar nicht denklogisch ausgeschlossen, erscheint aber, insbesondere angesichts der begleitenden Umstände, nach Auffassung der Kammer als äußerst fragwürdig. Die durch die Klägerin erhobene Meldung bei der Polizei in K….. stützt ihren Vortrag nur bedingt, da die Klägerin abgesehen von der Angabe, in einem Taxi das Geld vergessen zu haben, keinerlei Details zu Fahrer, Auto etc. offenbart hat, sodass eine Individualisierung des Taxis und des Fahrers nicht einmal entfernt möglich erschien. Zu dem Zweck der Aussage befragt durch den aufnehmenden Polizeimitarbeiter hat die Klägerin dann lediglich ausgeführt: „Das was passiert ist festzuhalten“. Soweit die Klägerin vorträgt, sie habe mit dem Geld in Ä….. nahe ihrer sonstigen Familie eine neue Existenz aufbauen wollen, stellt sich die Frage, warum sie dann direkt wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist und dort Sozialleistungen beantragt hat (zumal sie gegenüber der Polizei eine Wohnadresse in Ä….. angegeben und mitgeteilt hat, dass sie nach einer Reise nach Deutschland zurückgekehrt sei). Gerade wenn sie über keine Mittel mehr verfügt hätte, hätte es doch nahegelegen, in der Nähe ihrer Mutter, Schwester oder sonstigen Verwandtschaft bzw. an der gegenüber der Polizei angegebenen Wohnadresse zu verbleiben, um Unterstützung zu erhalten (gerade mit einem damals zu betreuenden Baby, der Tochter N…..). Es liegt nahe, dass die Klägerin vielmehr Vermögen außerlande bringen wollte, um Sozialleistungen in Deutschland zu beziehen. Zudem hat die Klägerin zuvor vorgetragen, dass sie das Geld vor dem Zugriff des Ex-Partners, des Zeugen H….., habe schützen wollen, der eine Kontovollmacht besessen habe. In der mündlichen Verhandlung hat sie dies auch auf Nachfrage des Vorsitzenden aber nicht mehr vorgetragen; insbesondere dürfte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der Zeuge H….. keine Kontovollmacht besessen haben. Damit verbleibt als für die Kammer wahrscheinlichstes Motiv, dass die Klägerin eine scheinbare Hilfebedürftigkeit hat herbeiführen wollen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vortrag, dass Bargeld im Taxi verloren zu haben, als Schutzbehauptung.

 

Schließlich war das etwaige Vertrauen der Klägerin auf den Bestand der Bescheide nicht schutzwürdig, so dass sie sich nicht auf dieses Vertrauen berufen kann. Denn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X, wonach sich ein durch den zurückgenommenen Verwaltungsakt Begünstigter nicht auf dieses Vertrauen berufen kann, liegen vor. Die Klägerin hätte erkennen müssen, dass die Bewilligungen rechtswidrig waren. Sie hat vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht bzw. im Falle der Nr. 3 die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsakts gekannt oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt.

 

Der Begriff des Vorsatzes enthält ähnlich wie im Strafrecht ein Element des Wissens und des Wollens. Es reicht insofern entweder die Kenntnis von der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der angegebenen Tatsachen oder das billigende Inkaufnehmen einer erkannten möglichen Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der gemachten Angaben oder das Wissen um die fehlende Übereinstimmung des begünstigenden Bescheids mit dem geltenden Recht aus (BSG, Urteil v. 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Wenn die Klägerin aber bewusst ihr Erbe nicht angegeben hat – dafür spricht, dass sie dies weder in der Vielzahl der Leistungsanträge noch sonstwie dem Beklagten gegenüber angegeben hat, bevor der Beklagte durch den Zeugen H….. informiert worden ist –, dürfte eine vorsätzliche Nichtangabe der relevanten Information des Erbfalles mit den möglichen Auswirkungen auf die Vermögenslage der Klägerin gegeben sein. Dies gilt umso mehr, wenn die Klägerin das Bargeld von 135.000 € tatsächlich nicht verloren haben sollte, wovon die Kammer letztlich ausgeht. Zudem liegt jedenfalls insoweit eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin vor. Das Gesetz definiert den Begriff der groben Fahrlässigkeit selbst als Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße. Für die Erfüllung der groben Fahrlässigkeit reicht es also nicht aus, dass der Betroffene Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit seiner Angaben bzw. an der Rechtmäßigkeit hat, sondern die Zweifel müssen so ausgestaltet sein, dass es für jeden erkennbar wäre, dass hier wenigstens eine Nachfrage notwendig wäre. Vom Begünstigten wird dabei nicht verlangt, dass er den Bescheid in allen Einzelheiten rechtlich überprüft, um alle möglichen Fehler zu finden. Allerdings soll er den ihm bekannt gegebenen Bescheid wenigstens von vorne bis hinten lesen und zur Kenntnis nehmen, denn im Sozialrechtsverhältnis sind alle Beteiligten gehalten, sich gegenseitig vor vermeidbaren, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schäden zu bewahren (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Rn. 90).

 

Dabei ist ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen (BSG v. 24.04.1997 - 11 RAr 89/96; BSG, Urteil v. 28.08.2007 - B 7/7a AL 10/06 R; BSG, Urteil v. 09.02.2006 - B 7a AL 58/05 R). Nach von der Kammer für zutreffend gehaltenen Rechtsprechung des BSG müssen durch den Leistungsempfänger einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt worden sein. Das ist der Fall, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (BSG, Urteil v. 31.08.1976 - 7 RAr 112/74 - BSGE 42, 184; BSG, Urteil v. 11.06.1987 - 7 RAr 105/85 - BSGE 62, 32; LSG Hessen, Urteil v. 17.01.2012 - L 2 R 524/10). Dabei ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (BSG, Urteil v. 13.12.1972 - 7 RKg 9/69 - BSGE 35, 108). Maßgeblicher Zeitpunkt des subjektiven Tatbestands ist die Bekanntgabe des Bescheids (BSG, Urteil v. 22.03.1995 - 10 RKg 10/89 - SozR 3-1300 § 45 Nr. 24).

 

Sofern – wie hier – dem Begünstigten fehlerhafte Angaben vorgeworfen werden, muss er individuell in der Lage sein, die Fehlerhaftigkeit der gemachten Angabe zu erkennen. Es muss also ohne weitere Überlegungen klar sein, dass er den betreffenden Umstand mitteilen muss (BSG, Urteil v. 12.02.1980 - 7 RAr 13/79). Dabei können individuelle Verhältnisse wie fehlende Sprachkenntnisse, eine Leseschwäche o.Ä. jedenfalls dann keine Rolle spielen, wenn der Begünstigte nicht nachgefragt hat oder sich sonst nicht um ein ausreichendes Verständnis – etwa unter Zuhilfenahme Dritter – bemüht. Auf der anderen Seite muss die Fragestellung seitens der Behörde so beschaffen sein, dass dem Betroffenen klar wird, auf welche Angaben es ankommt. Grob fahrlässig ist es auch, Anfragen und Erklärungen der Behörde einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urteil v. 09.04.1987 - 5b RJ 36/86 - BSGE 61, 278) oder die Mitteilung von als im Verhältnis zur Behörde streitig erkannten Tatsachen zu unterlassen (BSG, Urteil v. 11.04.2002 - B 3 KR 46/01 R). Das BSG lässt es insofern ausreichen, dass einem Arbeitslosen ein Heftchen „Merkblatt für Arbeitslose“ ausgehändigt worden ist, er den Empfang durch seine Unterschrift quittiert hat und in diesem Merkblatt ein entsprechender Hinweis zu finden ist, der so abgefasst ist, dass der Begünstigte seinen Inhalt unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Einzelfall ohne weiteres erkennen kann (BSG, Urteil v. 24.04.1997 - 11 RAr 89/96; BSG, Urteil v. 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 45, LSG NRW, Urteil v. 05.06.2008 - L 9 AL 157/06). Ob der Beklagte über eine Anzeigepflicht eines Erbes ausdrücklich informiert hat, konnte zwar nicht festgestellt werden; ein in der Verwaltungsakte enthaltenes Exemplar über Mitteilungspflichten enthielt keinen expliziten entsprechenden Passus. Allerdings wurde die Klägerin sehr wohl informiert durch Aushändigen des Merkblatts, dass Änderungen in der Vermögenslage mitzuteilen seien. Dies umfasst aber auch einfachste Überlegungen, zu denen die Klägerin nach dem Eindruck, den die Kammer in der mündlichen Verhandlung vor ihr gewonnen hat, in der Lage gewesen war, nämlich dass sie mitzuteilen gehabt hätte, Teileigentümerin von einer oder mehrerer Immobilien geworden zu sein, da dies ihre Vermögenssituation positiv beeinflussen könnte. Insbesondere war die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auch in der Lage, den Ausführungen weitestgehend ohne Übersetzungen der Dolmetscherin zu folgen und selbst in sicherem Deutsch vorzutragen, sodass auch sprachliche Barrieren nicht im Wege gestanden haben dürften (zwar erscheint möglich, dass sich die Sprachkenntnisse der Klägerin seitdem verbessert haben; doch hat die Klägerin auch nicht vorgetragen, dass es damals sprachliche Barrieren gegeben habe). Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin jedenfalls grob fahrlässig wesentliche Angaben nicht gemacht.

 

Schließlich hat der Beklagte auch fristgerecht im Sinne des § 45 Abs. 3 SGB X die Bescheide aufgehoben. Nach § 45 Abs. 3 S. 1 und 3 SGB X kann bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – wie vorliegend – u.a. zurückgenommen werden, wenn wie hier die Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 gegeben sind. Zudem hat der Beklagte die Bescheide innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufgehoben, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Die Jahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der Behörde alle Tatsachen bekannt sind, die zur Aufhebung nach § 45 SGB X berechtigen. Da § 45 Abs. 2 SGB X neben objektiven auch subjektive Tatbestandsmerkmale (Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit) enthält, muss die Behörde z.B. auch von der Bösgläubigkeit des Betroffenen Kenntnis haben. Wann dies der Fall ist, ist weder ausschließlich nach der subjektiven Einschätzung der Behörde noch anhand objektiver Kriterien zu beantworten. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (BSG, Urteil v. 27.07.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 42; BSG, Urteil v. 26.07.2016 - B 4 AS 47/15 R; LSG NRW, Urteil v. 05.06.2008 - L 9 AL 157/06; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 3.03.2006 - L 1 AL 197/05; vgl. zur Problematik der Kenntnis hinsichtlich Ermessensgesichtspunkten Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, § 45 SGB X Nr. 82). Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (BSG, Urteil v. 27.07.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 42; BSG, Urteil v. 25.01.1994 - 7 RaR 14/93 - BSGE 74, 20; LSG NRW, Urteil v. 05.06.2008 - L 9 AL 157/06). Ein Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit auf Seiten der Behörde reicht nicht aus (Steinwedel in: KassKomm, SGB X, § 45 SGB X Rn. 29; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Rn. 113).

 

Die Behörde muss zügig, spätestens jedoch innerhalb eines Jahres seit Kenntnis des Erfüllens der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen für die Rücknahme des Verwaltungsakts zumindest Ermittlungen zum subjektiven Tatbestand aufnehmen (LSG Schleswig-Holstein v. 19.11.2013 - L 7 R 3/11). Da die Rechtsprechung regelmäßig eine Anhörung vor Erlass eines Aufhebungsbescheids nach § 45 SGB X verlangt, um die Voraussetzungen des subjektiven Tatbestands aufzuklären (vgl. Rn. 91), beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen (BSG, Urteil v. 27.07.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr. 42; BSG v. 08.02.1996 - 13 RJ 35/94 - SGb 1997, 177 ; LSG NRW, Urteil v. 5.06.2008 - L 9 AL 157/06 ), es sei denn, die Behörde verfügt mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel bereits zuvor über hinreichend sichere Kenntnis der Bösgläubigkeit (SG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 3.03.2006 - L 1 AL 197/05; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 31.01.2017 - L 4 AS 652/14). Maßgeblich ist der Ablauf der für die Anhörung gesetzten Frist. Das gilt auch, wenn Absendung oder Zugang des Anhörungsschreibens beim Betroffenen nicht nachweisbar ist und die Behörde aber vom Zugang ausging, denn auch in diesem Fall geht die Behörde aus ihrer Sicht davon aus, dass keine besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (LSG NRW, Urteil v. 5.06.2008 - L 9 AL 157/06). Für die Kenntnis kommt es dabei nicht auf in der Behörde insgesamt vorhandene Kenntnisse, sondern auf die Kenntnis des behördenintern für die Vorbereitung oder die Entscheidung zuständigen Bearbeiters oder zumindest der zur Entscheidung berufenen Dienststelle an (BSG, Urteil v. 9.09.1986 - 11a RA 2 - BSGE 60, 239 ; BSG, Urteil v. 25.01.1994 - 7 RAr 14/93 -

BSGE 74, 20; BSG, Urteil v. 8.02.1996 - 13 RJ 35/94 - SGb 1997, 177; LSG Hessen, Urteil v. 28.08.2009 - L 5 R 341/05; Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Rn. 111). Diese Voraussetzungen sind erfüllt; der Beklagte hat nach Anhörung der Klägerin und aus seiner Sicht hinreichend Aufklärung des Sachverhalts – zuletzt noch im Jahre 2015 – die Entscheidung über die Rücknahme der Bewilligungsbescheide binnen Jahresfristgetroffen. Angesichts des Erlassdatums des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids/ Rücknahme- und Erstattungsbescheids vom 1.9.2015 ist damit – neben der Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 3 S. 3 SGB X – auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X gewahrt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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