S 12 AS 2208/22; S 12 AS 1358/23; S 12 AS 1359/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 2208/22; S 12 AS 1358/23; S 12 AS 1359/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

1. Die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage wird abgetrennt, abgewiesen und unter einem noch zu vergebenden Aktenzeichen aktenmäßig bis zur Unanfechtbarkeit der diesbezüglichen Klageabweisung weiter fortgeführt, soweit die Klägerin beantragt, den Beklagten zur teilweisen Aufhebung seines Bewilligungsbescheides vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom

02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 zu verurteilen und ihn dergestalt zur Abänderung seines Bewilligungsbescheides vom 06.07.2021 zu verpflichten, dass der Beklagte ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar 2021 in gesetzlicher und verfassungskonformer Höhe auch unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs zur Deckung von Aufwendungen aus Anlass der COVID-19Pandemie gewährt.

 

 

  1. Die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage wird abgetrennt, abgewiesen und aktenmäßig bis zur Unanfechtbarkeit der diesbezüglichen Klageabweisung unter einem weiteren noch zu vergebenden Aktenzeichen weiter fortgeführt, soweit die Klägerin beantragt, den Beklagten zur teilweisen Aufhebung seines Änderungsbescheides vom 11.05.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 zu verurteilen und ihn dergestalt zur Abänderung seines Bewilligungsbescheides vom 10.01.2022 zu verpflichten, dass der Beklagte ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Oktober 2021 in gesetzlicher und verfassungskonformer Höhe auch unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs zur Deckung von Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie gewährt.

 

 

  1. Im Übrigen wird das Klageverfahren S 12 AS 2208/22 nach Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes ausgesetzt.

 

  1. Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 70 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10.03.2021 mit Wirkung vom 01.04.2021 mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist.

 

 

  1. Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 73 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23.05.2022 mit Wirkung vom 01.06.2022 mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist.

 

  1. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, soweit das Gericht unter Ziff. 1. und 2. die Klage abgetrennt sowie abgewiesen hat und sie bis zur Unanfechtbarkeit dieser Klageabweisungen unter den noch zu vergebenden Aktenzeichen fortführt.

 

 

I. Gründe

 

Die Klägerin begehrt vom Jobcenter als örtlichen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II):

 

  1. die erstmalige Leistungsgewährung (auch) für die zwei jeweils bereits zum Zeitpunkt der Leistungsantragstellung bzw. Folgeantragstellung verstrichenen Monate
  1. Januar 2021 und
  2. Oktober 2021

 

sowie

 

  1. die Gewährung höherer Leistungen als bislang bewilligt unter zusätzlicher Berücksichtigung eines monatlichen (mtl.) Mehrbedarfs für Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie
  1.  für den früheren Bewilligungszeitraum Januar 2021 bis Juni 2021 und
  2.  für den späteren Bewilligungszeitraum Oktober 2021 bis April 2022.

 

 

1.

 

Die für den Rechtsstreit maßgeblichen Lebensverhältnisse der erwerbsfähigen, aber vermögenslosen Klägerin stellen sich wie folgt dar:

 

Bei ihr handelt es sich um eine 1969 in Kirgisistan geborene, alleinstehende deutsche Staatsangehörige. Sie erzog zwei inzwischen volljährige Töchter: Ihre 1995 geborene Tochter konnte 2020 von zuhause ausziehen und in München eine Berufstätigkeit als „Junior Consultant“ einer Münchner Steuerberatungsgesellschaft aufnehmen. Derweil musste die andere, geistig schwer behinderte Tochter der Klägerin noch in deren Haushalt verbleiben, damit dort unter Angehörigen die Pflege sichergestellt wurde, bis sich im August 2022 eine anderweitige Unterbringung auftat.

 

Währenddessen bezog diese erwerbsunfähige Tochter der Klägerin zur Sicherstellung ihrer existentiellen Bedürfnisse (auch) zwischen Januar 2021 und April 2022 Sozialleistungen vom örtlich zuständigen Sozialamt als Träger der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Es erkannte hierbei für die gemeinsam mit der Klägerin genutzte Mietwohnung als Bedarf ihrer behinderten Tochter für Unterkunft und Heizung die Hälfte (mtl. 310,47 €) aller Gesamtwohnkosten – mtl. 620,94 € – an.

 

Von diesen Gesamtwohnkosten entfielen zunächst 472,- € auf die Kaltmiete, 59,- € auf die Heizkosten und 89,94,- € auf sonstige Wohnnebenkosten. Die mtl. insgesamt zu entrichtende Kaltmiete erhöhte sich zum 01.11.2021 auf 519,20 €. Anlässlich einer Jahresabrechnung über die Heizgasversorgung waren im November 2021 einmalig insgesamt 171,58 € hierfür zu entrichten sowie im November 2021 einmalig 200,- €. Ab 01.01.2022 stiegen die mtl. Abschlagszahlungen für die Heizgasversorgung der gesamten Wohnung sodann auf mtl. 78,00 €. Die sonstigen Wohnnebenkosten blieben zwischen Januar 2021 und April 2022 unverändert mit der Ausnahme einer im Mai 2021 einmalig jahresabrechnungsbedingt fälligen Nachzahlungspflicht von 46,72 €.

 

(Auch) die Klägerin erzielte infolge einer Ende 2020 ausgesprochenen Kündigung zwischen Januar 2021 und April 2022 kein (Erwerbs-) Einkommen mehr. Insbesondere erwirtschaftete sie sodann auch keine Betriebseinnahmen aus einem „Kosmetiksalon“. Ein diesbezügliches Gewerbe hatte sie am 26.02.2021 lediglich angemeldet, um die eigene Erwerbslosigkeit zu beenden. Hierzu ist es unter den veränderten Lebensbedingungen der COVID-19-Pandemie aber nicht gekommen.

 

 

2.

 

Wegen der hier umstrittenen Gewährung von Arbeitslosengeld 2 (Alg 2) gestalteten (und verzögerten) sich das (Verwaltungsverfahren und das Widerspruchs-) Verfahren betreffend den früheren Bewilligungszeitraum von Januar 2021 bis Juni 2021 wie folgt:

 

Unter Hinweis auf den bevorstehenden Ablauf des vorangegangenen Bewilligungszeitraums übermittelte das beklagte Jobcenter der Klägerin mit Schreiben vom 05.11.2020 einen Vordruck zur Beantragung der Weiterbewilligung ab 01.01.2021, der sich buchstäblich bezog auf das Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts 31.12.2020. Dieser Vordruck enthielt unter anderem eine ausdrückliche Belehrung über die Rückwirkung des Weiterbewilligungsantrags (nur) auf den Ersten des Monats. Dennoch ging beim Beklagten bis 31.01.2021 kein von der Klägerin unterschriebener Antragsvordruck zur Weiterbewilligung für die Zeit ab Januar 2021 ein.

 

Erst am 01.02.2021 übermittelte die Klägerin dem Beklagten ein Schreiben vom selben Tag. Mit diesem beantragte sie „monatliche Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“. Zuvor hatte sich seit Mitte Dezember 2020 die COVID-19-Pandemie bundesweit so drastisch verschlimmert, dass ein letztlich mehrmonatiger sog. „Lockdown“ ebenso beschlossen worden war wie die Vereinbarung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Bundesländer vom 19.01.2021, der Allgemeinheit das Tragen medizinischer Mundnasenbedeckungen verbindlich vorzuschreiben (sog. „Maskenpflicht“).

 

Erst am 30.04.2021 warf die Klägerin in den Briefkasten des Beklagten den sich auf das „Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts 31.12.2020“ beziehenden, bereits am 01.01.2021 ausgefüllten und unterschrieben Formularvordruck „Weiterbewilligungsantrag“ ein. Mit Schreiben vom selben Tag bat die Klägerin den Beklagten um Verständnis für die verzögerte Abgabe des Weiterbewilligungsantrags. Sie erläuterte, sie sei hierzu außerstande gewesen wegen ihrer schlechten gesundheitlichen Situation und ihrer starken, psychotherapeutisch behandlungsbedürftigen Depression. Dieses Vorbringen wiederholte die Klägerin in ihrem Schreiben an den Beklagten vom 27.05.2021. Darin führte sie zudem aus, ihr Gesundheitszustand habe sich erst nach und nach so verbessert, dass sie wieder in Kontakt mit dem Beklagten habe treten können.

 

Mit dem – hier u. a. streitbefangenen – Bescheid vom 06.07.2021 lehnte der Beklagte zunächst die Leistungsbewilligung sinngemäß für Januar 2021 bis März 2021 ab, während er der Klägerin zugleich Alg 2 für die Bewilligungsmonate April 2021 bis Juni 2021 bewilligte. Insoweit gewährte er nicht nur den vollen Regelbedarfssatz für alleinstehende Volljährige (mtl. 446,- €). Daneben gewährte der Beklagte der Klägerin als Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung mtl. 310,47 € aufgrund der Berücksichtigung der zweiten Hälfte aller Gesamtkosten der (gemeinsam mit ihrer erwerbsunfähigen Tochter genutzten) Mietwohnung in Höhe von mtl. 620,94 €. Ohne hierauf irgendwie einzugehen berücksichtigte der Beklagte bei der Leistungsberechnung indes den mit Schreiben der Klägerin vom 01.02.2021 sinngemäß beantragten und ggfs. leistungserhöhenden mtl. Mehrbedarf zum Ausgleich von mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen für Hygieneartikel zum Infektionsschutz vor SARS-Cov-2 im Bewilligungsbescheid vom 06.07.2021 nicht.

 

Die Bescheidung eben dieses Antrags der Klägerin auf „monatliche Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ vom 01.02.2021 verzögerte sich um gut 13 Monate bis zum 11.03.2022. Derweil bestand für den Beklagten aufgrund einer diesbezüglichen Rechtsunsicherheit ein objektiver Anlass, mit der Bescheidung des Mehrbedarfsantrags zuzuwarten. Anlass hierzu gaben zunächst sowohl die Entscheidung der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe, das im vorliegenden Verfahren S 12 AS 2208/22 beklagte Jobcenter in einem anderen Gerichtsverfahren einstweilen zu verpflichten, (einem anderen Menschen in existentieller Not als der Klägerin) als Zuschuss zum Alg 2 entweder FFP2-Masken als Sachleistung bereit zu stellen oder für deren Selbstbeschaffung zusätzliche Geldleistungen zu gewähren (Sozialgericht Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER) als auch der Gesetzesentwurf für ein „Gesetz zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III)“ in § 70 SGB II n. F.

 

Auch nach der Veröffentlichung der Neufassung eben dieses § 70 SGB II im Bundesgesetzblatt bestand für das im Verfahren S 12 AS 2208/22 beklagte Jobcenter weiterhin Anlass, mit der Bescheidung des Antrags der Klägerin auf „monatliche Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ vom 01.02.2021 zuzuwarten, nachdem dasselbe Jobcenter wegen der durch die pandemie(-inflations-)bedingt laufend anfallenden Mehrbedarfe für Hygienemittel bereits am 11.03.2021 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe erneut verpflichtet worden war, (einem wiederum anderen Menschen in existentieller Not als der Klägerin) bereits vor Mai 2021 und zudem laufend (anstatt einmalig) ergänzende Sach- oder Geldleistungen zu gewähren, weil die 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe die für § 70 SGB II n. F. geplante Einmalzahlung schon vor ihrem Inkrafttreten am 01.04.2021 als voraussichtlich verfassungswidrig erachtet hatte (Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER). Aufgrund eben dieser Begründung im Eilverfahren S 12 AS 565/21 ER war wegen der verfassungskräftigen richterlichen Vorlagepflicht für vermeintlich verfassungswidrige Gesetze aus Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) im diesbezüglichen Hauptsacheverfahren derselben Verfahrensbeteiligten mit dem Aktenzeichen S 12 AS 909/21 mit einem Vorlagebeschluss der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe an das Bundesverfassungsgericht und dessen Klärung der Verfassungsrechtsfrage zu rechnen.

 

Indes verzögerten sich im Hauptsacheverfahren desselben Jobcenters mit dem Aktenzeichen S 12 AS 909/21 die Arbeiten an dem zu erwartenden Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Karlsruhe an das Bundesverfassungsgericht in einer für das Jobcenter unvorhersehbaren Weise. Die Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg bewirkte nämlich durch verschiedentliche Maßnahmen dermaßen eine Einschüchterung des Kammervorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe, dass dieser sich im Hauptsacheverfahren S 12 AS 909/21 einstweilen monatelang gestört sah, eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vorzubereiten, den Sachverhalt bestmöglich im Wege weiterer Ermittlungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des dortigen Klägers aufzuklären, einen Kammertermin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen und die entsprechenden Entscheidungsgründe zu entwerfen.

 

Die Einschüchterung beruhte zunächst auf der seitens einer (abstrakt) weisungsgebundenen gerichtszugehörigen Untergebenen der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg veranlassten und mutmaßlich verfassungswidrigen Zensur. Diese Zensur betraf die vom Kammervorsitzenden entworfene sozialgerichtliche Medieninformation über die Eilentscheidung seiner 12. Kammer im Eilverfahren S 12 AS 565/21 ER zur vermeintlichen Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Neuregelung in § 70 SGB II n. F.. Die Zensur wurde mit dem vorgeblich fehlenden öffentlichen Interesse an einer medialen Berichterstattung begründet. Gegen diese Zensur remonstrierte der Kläger zwar noch am selben Tag. Die Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg hat hierauf bis zuletzt – binnen 28 Monaten – nicht geantwortet.

 

Die Einschüchterung und Hinderung des richterlichen Vorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe vollzog sich sodann im Wege einer inzwischen durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe durch Urteil vom 25.07.2023 wegen ihrer Rechtswidrigkeit (noch nicht rechtskräftig) aufgehobenen richterdienstlichen Beurteilung, in denen die persönliche Eignung zum Richter am Sozialgericht durch (abstrakt) weisungsgebundene Mitglieder der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg auch damit begründet worden war, dass sich der Kammervorsitzende anlässlich der Zensur der Medieninformation der Entscheidung seiner Kammer im Verfahren S 12 AS 565/21 ER konfrontativ gezeigt habe.

 

Schließlich vollzog sich die Einschüchterung bzw. Störung des richterlichen Vorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe anlässlich eines neuerlichen stattgebenden Gerichtsbeschlusses seiner Kammer betreffend den grundsicherungsrechtlichen COVID-19-Mehrbedarf (Sozialgericht Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER) im Wege der Einleitung und Verschleppung eines Disziplinarverfahrens. Dessen Einstellung verschleppte das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg für sechs Monate, nachdem die dem Kammervorsitzenden zahlreich wahrheitswidrig angelasteten Tatsachen bereits eingehend durch ihn wiederlegt worden waren.

 

Diesen Einschüchterungen zum Trotz erging im Verfahren S 12 AS 909/21 am 30.01.2022 ein auf Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG in Verbindung mit (i.V.m.) § 80 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) gestützter Beschluss der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe mit dem Inhalt, dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorzulegen, „ob § 70 Satz 1 Variante 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10.03.2021 mit Wirkung vom 01.04.2021 mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist“. Zur Begründung der voraussichtlichen Verfassungswidrigkeit von § 70 Satz 1 SGB II hieß es im Vorlagebeschluss vom 30.01.2022 unter anderem, der Gesetzgeber habe es zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie nicht bei einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ belassen dürfen. Exemplarisch zeige sich nämlich das Ausmaß der fehlenden Verfassungs-Compliance der Sozialgerichtsbarkeit an einer illegalen Corona-Party. Diese habe auf Wunsch eines gerichtszugehörigen Mitgliedes der Landesjustizverwaltung in Anwesenheit namhafter Justizprominenz am 29.09.2020 in allgemeiner Kenntnis ihrer Illegalität stattgefunden. Als Beweismittel hierfür wurden auch Fotos der Gäste der Corona-Party zur Prozessakte genommen.

 

Jedoch vermochte der Kammervorsitzende der 12. Kammer anlässlich des Beginns seiner knapp einjährigen Elternzeit am Folgetag (31.01.2022) es nicht zu verhindern, dass ein gerichtszugehöriges (abstrakt) weisungsgebundenes Mitglied der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg die Urkundsbeamtin der 12. Kammer am 31.01.2022 anwies, seinen richterlichen Begleitverfügungen zum Vorlagebeschluss zuwiderzuhandeln. Entgegen der elektronisch signierten richterlichen Verfügung des zuständigen Vorsitzenden der 12. Kammer vom 30.01.2022 stellte die Urkundsbeamtin der 12. Kammer deshalb den Vorlagebeschluss nicht an das Bundesverfassungsgericht und auch nicht an die Verfahrensbeteiligten zu. Ebenso veröffentlichte die hierfür örtlich zuständige, der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg unterstehende Amtsinspektorin am Sozialgericht Karlsruhe entgegen der diesbezüglich richterlichen Verfügung des Kammervorsitzenden vom 30.01.2022 den Vorlagebeschluss vom selben Tag weisungsgemäß auch nicht in den juristischen Entscheidungsdatenbanken.

 

Noch am 31.01.2022 wiesen zwei weitere (abstrakt) weisungsgebundene gerichtszugehörige Mitglieder der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg den richterlichen Stellvertreter des sich in Elternzeit befindlichen eigentlichen Kammervorsitzenden der 12. Kammer im Rahmen einer dienstlichen Besprechung an, eine gerichtsinterne, datenschutzrechtliche Überprüfung der Prozessakte des Klageverfahrens S 12 AS 909/21 wegen der darin enthaltenden Fotografien von der Corona-Party durchzuführen. Dieses in der Gerichtshistorie des Sozialgerichts Karlsruhe (soweit ersichtlich) sowohl erstmalig als auch letztmalig durchgeführte datenschutzrechtliche Sonderverfahren führte dazu, dass sich der stellvertretende Berufsrichter veranlasst sah, den mangels Bekanntgabe noch nicht rechtswirksam gewordenen Vorlagebeschluss vom 30.01.2022 einer eigenen Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Diese Ausgangskontrolle der richterlichen Vorlageentscheidung nach Art. 100 GG ergab, dass der Vorlagebeschluss der 12. Kammer vom 30.01.2022 nach Auffassung des Stellvertreters nicht ohne Kammerbesetzung bzw. Mitwirkung ehrenamtlicher Richter außerhalb einer mündlichen Verhandlung hätte ergehen dürfen. Hierbei prüfte der Stellvertreter indes nicht, ob dies ausnahmsweise anders zu bewerten sein könnte in Fällen, in denen rechtzeitige Ermittlungen, Ladungen und die Durchführung eines Kammertermins zur mündlichen Verhandlung und Entscheidung möglicherweise seitens der Justizverwaltung durch den Missbrauch ihrer Organisationsgewalt, ihres Beurteilungswesens und ihrer Disziplinarhoheit vereitelt worden waren im Wege der gezielten Einschüchterung eines vorlagepflichtigen Berufsrichters.

 

Am 09.02.2022 beschloss das fünfköpfige Gerichtspräsidium unter mehrheitlicher Mitwirkung des o. g. Stellvertreters sowie zweier (abstrakt) weisungsgebundener Untergebener der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg die Zuweisung des Klageverfahrens S 12 AS 909/21 an eine andere als die 12. Kammer. Infolge deren weiterer Sachverhaltsermittlungen stellte sich heraus, dass der Mehrbedarf des Klägers im Nachgang der ihn begünstigenden Eilentscheidung vom März 2021 bereits ab April 2021 anderweitig gedeckt werden konnte im Wege der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, weil neben dem hiermit verbundenen Erwerbseinkommen auch eine Zugriffsmöglichkeit auf kostenlose Hygienemittel am Arbeitsplatz bestand, weshalb der Kläger die Klage S 12 AS 909/21 unter ihrem zwischenzeitlich geänderten Aktenzeichen auf Anregung des neuen Kammervorsitzenden zurücknahm, ohne jemals Kenntnis vom Vorlagebeschluss vom 30.01.2022 erlangt zu haben.

 

Nachdem zwischenzeitlich das (sowohl im Verfahren S 12 AS 909/21 als auch im Verfahren S 12 AS 2208/22) beklagte Jobcenter auf die Zuweisung des Rechtsstreits S 12 AS 909/21 an eine andere als die 12. Kammer hingewiesen worden war und kein Anlass mehr bestand, mit einem Vorlagebeschluss durch die 12. Kammer zu rechnen, verzögerte sich auch die Bescheidung des Antrags der Klägerin vom 01.02.2021 auf „monatliche Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ nicht mehr wesentlich, zumal die Klägerin den Beklagten am 01.03.2022 (nach ihren diesbezüglichen Erinnerungen vom 27.05.2021, vom 17.11.2021 und vom 22.12.2021 ein weiteres Mal) schriftlich dazu aufgefordert hatte, zu überprüfen, ob der Beklagte ihre zwischen Ende 2020 und Anfang 2021 verfassten Briefe vollständig beschieden, ihr zustehende Bedarfe leistungserhöhend angerechnet und gesetzliche Leistungen ausgezahlt habe, da das beklagte Jobcenter bis zum 11.03.2022 der Klägerin zum Ausgleich ihrer mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen nur die in § 70 SGB II eingeführte Einmalzahlung von 150,- € (mit Bescheid vom 21.07.2021) gewährt hatte, mithilfe welcher die Klägerin sich jedoch (Ende Juli 2021) naturgemäß nicht mehr die während des „Lockdowns“ (seit Dezember 2020) aufgrund der  eingeführten „Maskenpflicht“ (seit Januar 2021) für ihre soziale Teilhabe gebotenen FFP2-Masken rechtzeitig beschaffen können hatte.

 

Die (am 01.02.2021 sinngemäß) beantragte Ergänzung der laufenden Leistungsgewährung unter zusätzlicher Berücksichtigung eines ab Januar 2021 mtl. pandemie(-inflations-)bedingten Mehrbedarfs insbesondere für Hygieneartikel beschied das beklagte Jobcenter dann mit einem Bescheid vom 11.03.2022. Hierbei änderte der Beklagte seine bisherige Leistungsbewilligung vom 06.07.2021 indes nicht ab im Hinblick auf die im Verfahren S 12 AS 2208/22 streitbefangenen (Verfassungsrechts‑) Frage nach der Gewährung höherer Grundsicherungsleistungen unter zusätzlicher Berücksichtigung eines mtl. Mehrbedarfs für generell aus Anlass der COVID-19-Pandemie nötige Mehraufwendungen. Vielmehr beließ es der Beklagte mit seinem Änderungsbescheid vom 11.03.2022 bei seiner bisherigen Anerkennung des Regelbedarfsanspruchs sowie des Anspruchs auf Leistungen für Unterkunft und Heizung. Wegen des generellen COVID-19-Mehrbedarfs versandte der Beklagte stattdessen (zusammen mit dem taggleichen Bewilligungsbescheid vom 11.03.2022) einen an den Einzelfall der Klägerin angepassten zusätzlichen Musterbrief „Ablehnungsbescheid Mehrbedarf Masken“. Darin nahm der Beklagte Bezug auf ihr Schreiben vom 01.02.2021 bezüglich ihrer monatlichen Kosten der Anschaffung von FFP2-Masken.

 

Diesbezüglich führte der Beklagte aus, er habe seine bisherige Bewilligungsentscheidung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) überprüft. Diese Überprüfung habe ergeben, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes weder das Recht unrichtig angewandt worden noch von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erwiesen habe. Ein Mehrbedarf für unabweisbare, laufende besondere Bedarfe in Härtefällen sei nach § 21 Absatz 6 SGB II anzuerkennen bei leistungsberechtigten Personen mit einem wiederkehrenden besonderen Bedarf, wenn dieser Bedarf nicht vermeidbar sei und nicht aus eigenen Mitteln und Kräften finanziert werden könne. Die Klägerin habe aber nichts vorgetragen, was einen unabweisbaren laufenden besonderen Bedarf an FFP2-Masken rechtfertigen würde, der nicht bereits durch andere Leistungen gedeckt werde.

 

Der von ihr geltend gemachte Bedarf sei nicht anzuerkennen, weil nach § 1 Abs. 1 und § 2 Schutzmaskenverordnung (SchutzmV) alle Bezieher von Alg 2 und alle, die mit einer solchen Person in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II leben, zwischen dem 15.12.2020 und dem 06.03.2021 einen Anspruch auf einmalig zehn kostenlose FFP2-Masken hatten. Sie erhalte die Masken gegen Vorlage eines Schreibens von ihrer Krankenkasse bzw. -versicherung in einer Apotheke. Darüber hinaus erhielten Leistungsberechtigte mit dem Sozialschutzpaket III im Monat Mai 2021 für den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2021 zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 €.

 

Den eigentlich auf die Berücksichtigung des aus Anlass der COVID-19-Pandemie entstandenen unabweisbaren Mehrbedarfs gerichteten Antrag der Klägerin auf „monatliche Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ vom 01.02.2021 legte der Beklagte indessen am 11.03.2022 zugleich meistbegünstigend nachträglich auch als sinngemäßen Weiterbewilligungsantrag auf Alg 2 der Klägerin aus, der Monate früher eingegangen war als der diesbezügliche Weiterbewilligungsvordruck. Demgemäß änderte der Beklagte seinen früheren Bewilligungsbescheid vom 06.07.2021 rückwirkend ab durch den – im Verfahren S 12 AS  2208/22 streitbefangenen – Änderungsbescheid vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in seiner durch den Widerspruchsbescheid vom 03.08.2022 erlangten Gestalt. Hierdurch gewährte der Beklagte der Klägerin Alg 2 nunmehr nicht erst ab April 2021, sondern bereits ab Februar 2021.

 

Indessen beschränkte der Beklagte die Rückwirkung seiner nachträglichen Leistungsgewährung in zeitlicher Hinsicht ausdrücklich auf die Bewilligungsmonate Februar 2022 bis März 2022 und lehnte die Bewilligung von Alg 2 zugleich für den Januar 2021 unter Hinweis auf das Erfordernis eines rechtzeitigen schriftlichen Weiterbewilligungsantrags aus § 37 SGB II und die sozialgerichtliche Rechtsprechung zur rechtlichen Unzulässigkeit einer Wiedereinsetzung in den Stand der Antragsfrist nach § 37 SGB II in Fällen des psychisch bedingten Fristverstreichens ab. Nach alldem entsprach die Höhe des der Klägerin für die Monate Februar 2021 bis Juni 2021 jeweils gewährten Alg 2 jeweils unter Nichtberücksichtigung eines generellen pandemie(‑inflations‑)bedingten Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II (nur) der Summe aus dem maßgeblichen Regelbedarfssatz und der Hälfte der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung (einschließlich der im Mai 2021 einmalig erhöhten sonstigen Nebenkosten).

 

 

3.

 

Unterdessen waren parallel hierzu (sowohl das Verwaltungsverfahren als auch das Widerspruchs-) Verfahren betreffend den späteren, ebenfalls streitbefangenen Bewilligungszeitraum von Oktober 2021 bis April 2022 wie folgt verlaufen:

 

Mit einem weiteren – im Verfahren S 12 AS 2208/22 nicht streitbefangenen – Bescheid bewilligte der Beklagte Alg 2 (auch) für Juli 2021 bis September 2021. Auf den bevorstehenden Ablauf dieses späteren Bewilligungszeitraums wies der Beklagte die Klägerin schriftlich hin: Mit dem diesbezüglichen Schreiben vom 05.08.2021 ließ er ihr erneut den Vordruck „Weiterbewilligungsantrag“ einschließlich der darin enthaltenen Belehrung über die Rückwirkung des Weiterbewilligungsantrags (nur) auf den Ersten des Monats der Antragstellung zukommen. Gleichwohl ging eben jener – bereits am 30.09.2021 ausgefüllte und unterschriebene – Formularvordruck „Weiterbewilligungsantrag betreffend das „Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts: 30.09.2021“ erst am 22.11.2021 beim Beklagten ein.

 

Der Beklagte gewährte daraufhin durch Bewilligungsbescheid vom 10.01.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 11.05.2022 der Klägerin Alg 2 nur für die Bewilligungsmonate November 2021 bis April 2022, nicht aber (auch) für den Oktober 2021. Die Höhe des dabei gewährten Alg 2 entsprach jeweils (nur) der Summe aus dem maßgeblichen Regelbedarfssatz und der Hälfte der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung für die mit der erwerbsunfähigen Tochter gemeinsam genutzten Mietwohnung (einschließlich der seit November 2021 auf 519,20 € erhöhten Grundmiete, der zum 01.02.2022 auf 78,- € erhöhten Abschlagszahlungen für die Heizgasversorgung und der im November 2021 mit 171,58 bzw. im Dezember 2021 mit 160,- € jeweils einmalig abrechnungsbedingt erhöhten Heizkosten). Einen generellen pandemie(‑inflations‑)bedingten Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II berücksichtigte der Beklagte auch für November 2021 bis April 2022 nicht.

 

Unter Hinweis auf diesen Änderungsbescheid vom 11.05.2022 ging beim Beklagten am 10.06.2022 ein Schreiben der Klägerin vom 07.06.2022 ein, welches neben Bezugnahmen auf die parallelen Streitigkeiten betreffend die Bewilligungsmonate Dezember 2020 und Januar 2021 u. a. insbesondere auch folgenden Wortlaut enthielt:

 

„Betreff: Widerspruch wegen Brief von 11.05.2022.

 

Sehr geehrter Herr Leiter ALG II,

 

hiermit lege ich Widerspruch ein. Ich bin mit dem Brief von der Leistungsabteilung, 11.05.2022, absolut nicht einverstanden. (…) Wegen meiner Verschlächterung psychischen Zustand habe ich Jobcenter informiert, deswegen WBA wurde später abgegeben. (…)“

 

Zur Klärung des Begehrens der Klägerin erfolgte am 15.07.2022 eine telefonische Beratung. Auf die fernmündliche Bekundung ihres Interesses an Leistungen für Oktober 2021 teilte der Beklagte der Klägerin mit, sie habe dies in schriftlicher Form noch nicht hinreichend deutlich gemacht; sie müsse eine diesbezügliche Prüfung vor einer Klageerhebung zur Klarstellung noch schriftlich beim Beklagten einfordern. Deswegen richtete die Klägerin am 31.08.2022 ein Schreiben folgenden Wortlauts an den Beklagten (Eingang dort am 05.09.2022):

 

„Betreff: Widerspruchswiederholung wegen nicht ausbezahlter Leistungen Oktober 2021

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

hiermit lege ich Widerspruch wieder ein. Wegen nicht ausbezahlte Leistungen von Jobcenter Karlsruhe für Oktober 2021 bin ich nicht einverstanden. Ich bitte Sie um einen schriftlichen Antwort. (…)“

 

Den Widerspruch der Klägerin verwarf der Beklagte sodann mittels eines Widerspruchsbescheides „wegen nicht ausbezahlten Leistungen für Oktober 2021“ vom 08.09.2022 als unzulässig, weil er meinte, ein Vorverfahren finde nur gegen Verwaltungsakte statt, ohne dass ein Verwaltungsakt über die Leistungsgewährung für Oktober 2021 bislang erlassen worden wäre.

 

 

4.

 

Das Klageverfahren S 12 AS 2208/22 vor dem Sozialgericht Karlsruhe hatte die Klägerin bereits eine Woche zuvor, am 01.09.2022, angestrengt:

 

In dem (der späteren mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 vorangegangen) schriftlichen Klageverfahren hat die Klägerin zur Klagebegründung zunächst nicht mehr Bezug genommen auf die Frage nach der leistungserhöhende Anerkennung eines generellen pandemie(-inflations-)bedingten Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II. Vielmehr hat sie im Wesentlichen ihr sinngemäßes Vorbringen vertieft, wonach ihr wegen der Leistungsmonate Januar 2021 und Oktober 2021 jeweils eine Wiedereinsetzung in die Antragsfrist nach § 37 SGB II zu gewähren sei, die sie in beiden Verwaltungsverfahren jeweils nicht eingehalten habe, weil sie krankheitsbedingt die Formularvordrucke in den Monaten Januar 2021 und Oktober 2021 jeweils nicht rechtzeitig unterschreiben und ausgefüllt an den Beklagten übermitteln können habe.

 

Das Sozialgericht hat dem Beklagten den Klageeingang am 05.09.2022 mitgeteilt und ihn zugleich um Klageerwiderung unter Vorlage seiner Verwaltungsvorgänge betreffend die Klägerin gebeten. Bereits am 08.09.2022 ist um 11:16 Uhr beim Sozialgericht Karlsruhe ausweislich dessen elektronischer Prozessakte zwar erfolgreich eine Kopie der digitalisierten Verwaltungsvorgänge des Beklagten eingegangen, aber keine Klageerwiderung. Auf eine diesbezügliche Erinnerung des Sozialgerichts hat der Beklagte am 14.11.2021 noch einmal eine Kopie der digitalisierten Verwaltungsvorgänge an das Sozialgericht übermittelt. Zusätzlich hat er am 14.11.2021 ebenfalls im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) seine auf den „08. September 2022“ datierte und an das Sozialgericht Karlsruhe gerichtete Klageerwiderung vorgelegt. Zugleich hat der Beklagte einen automatisch generierten „Sendebericht“ eingereicht, demzufolge am 08.09.2022 um 11:39:00 Uhr eine Nachricht mit dem Betreff „Klage- / Antragerwiderung“ erfolgreich an das Sozialgericht Karlsruhe versendet und auf dessen Server am 08.09.2022 um 11:39:22 Uhr eingegangen sei. Mit dieser Klageerwiderung hat der Beklagte einen Klageabweisungsantrag angekündigt und wegen des umstrittenen Bewilligungsmonats Januar 2021 zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt seiner elektronischen Verwaltungsakte sowie die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 03.08.2022 verwiesen. Wegen des umstrittenen Bewilligungsmonats Oktober 2021 hat der Beklagte wiederholend gemeint, der ihm zur Bearbeitung vorliegende Antrag der Klägerin sei außergerichtlich noch nicht durch Verwaltungsakt beschieden worden.

 

Im Hinblick auf die Bewilligungsmonate Januar 2021 bzw. Oktober 2021 sind beide Beteiligten im schriftlichen Verfahren durch das Gericht zunächst ausführlich auf die Aussichtslosigkeit der Klage hingewiesen worden. Unter explizitem Hinweis hierauf ist im Zuge der Ladung der Beteiligten zur mündlichen Verhandlung und Entscheidung dem Beklagten zudem das Entsenden eines Beschäftigten freigestellt worden.

 

 

 

5.

 

Diese Freistellung hat sich im Verlauf der vierstündigen mündlichen Verhandlung am 06.06.2023 indes als vorschnell erwiesen:

 

Sodann hat das Gericht zunächst festgestellt, dass der Beklagte per Empfangsbekenntnis den Zugang der Terminbestimmung bestätigt hatte, und, dass er mit der Ladung hingewiesen worden war, dass im Falle seines Ausbleibens Beweis erhoben, verhandelt und nach Lage der Akten entschieden werden könne. Sodann hat die Klägerin ihr schriftliches Vorbringen mündlich ergänzt: Sie habe in den Monaten Januar 2021 bzw. Oktober 2021 aufgrund ihrer Depression mit Körperschmerzen sehr stark gelitten. Ihr sei selbst das Umdrehen im Bett unmöglich gewesen. Auf ärztlichen Rat habe sie die Schmerzmedikation verdoppelt. Als der Beklagte für Januar und Oktober kein Geld überwies, habe sie zunächst gehofft, es würde ihr nachträglich gewährt. Deswegen habe ihre 30-jährige Tochter ihr Geld zur Überbrückung geliehen. Die Tochter sei auf die Rückzahlung angewiesen. Sie sei selbst behindert und stehe wirtschaftlich schlecht da.

 

Der Kammervorsitzende hat die Klägerin sodann darauf hingewiesen, dass die Klage nach seiner vorläufigen Einschätzung wohl auch im Hinblick auf ihr mündliches Vorbringen keine Aussicht auf Erfolg habe. Dem Antragserfordernis aus § 37 SGB II sei jeweils wohl nicht Genüge getan. Die Antragstellung wirke nur auf den Monatsersten und nicht auf den Vormonat zurück. Danach gehe ein Antrag für Januar 2021 am 01.02.2021 einen Tag zu spät ein. Entsprechend verhalte es sich wegen der Leistungen für Oktober 2021. Eine krankheitsbedingte Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand komme im Fall des § 37 SGB II nicht in Betracht. Insofern sei auf die insofern zutreffenden Ausführungen des Beklagten auf Seite 3 des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 zu verweisen.

 

Die Klägerin hat sodann ergänzt, sie habe sich schon vor ihrem am 01.02.2021 verfassten Schreiben wegen der mtl. Zuzahlungen für FFP2-Masken beim Beklagten gemeldet. Sie habe nämlich bereits im Januar 2021 schriftlich die Verlängerung der Frist zur Beantragung der Weiterbewilligung der Leistungen beantragt.

 

Sodann hat das Gericht die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten in Augenschein genommen und sich vergewissert, dass darin kein diesbezügliches Schreiben abgelegt ist. Die gerichtliche Nachfrage an die Klägerin, ob sie eine Kopie ihres diesbezüglichen Schreibens vom Januar 2021 vorlegen könne, hat die Klägerin verneint. Sodann hat die Klägerin eingehend die Gründe hierfür erläutert: Damals habe sie noch auf die Vollständigkeit der Verwaltungsvorgänge des Beklagten vertraut. Sie habe noch keine Sicherheitskopien für sich angefertigt und aufbewahrt. Ihre diesbezüglich digital gespeicherten Schreiben habe sie vor ca. 2 Monaten aus Frust über die unterbliebene Leistungsgewährung in den digitalen Papierkorb ihres Computers verschoben. Von dort seien sie wegen des Zeitablaufs wahrscheinlich nicht mehr wiederherstellbar. Sie habe sich den Eingang ihrer Schreiben bzw. die Vorlage ihrer Unterlagen durch das Jobcenter auch nicht bestätigen lassen. Die Sicherheitsmitarbeiter des Jobcenters verwehrten generell Leistungsantragstellern den Zugang zum Eingangsbereich des Jobcenters. Zugang bekäme nur, wer eine Einladung zum Termin beim Jobcenter vorlegen könne. Es sei daher unmöglich, ohne Termin Unterlagen einzureichen und sich deren Empfang im Eingangsbereich bestätigen zu lassen. Stattdessen verweise die „Security“ auf den Briefkasten. Inzwischen sei sie dazu übergegangen, alle Schreiben an das Jobcenter eigenhändig zu unterschreiben und alle Unterlagen per Einschreiben zuzusenden. Anlass hierzu habe nicht nur gegeben, dass ihr Antrag auf Fristverlängerung vom Januar 2021 beim Beklagten verschwunden sei. In mehreren Fällen seien auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verschwunden. Es sei daher leider nicht möglich, Unterlagen in den Briefkasten des Beklagten einzuwerfen und hierdurch Portokosten zu sparen.

 

Sodann hat der Kammervorsitzende die Klägerin ein weiteres Mal auf seine persönliche vorläufige Einschätzung des Sach- und Streitstands hingewiesen: Er verkenne nicht, dass die Vollständigkeit aller Verwaltungs- und Prozessakten mitnichten vorausgesetzt werden könne. Die Schwierigkeiten der Digitalisierung der Jobcenter und Sozialgerichte und die Unzulänglichkeiten des Elektronischen Rechtsverkehrs seien gerichtsbekannt. Diesbezügliches Vorbringen betroffener Bürger könne nicht generell als pauschale Schutzbehauptung abgetan werden. Er verweise insofern auf die diesbezüglich veröffentlichten Gerichtsentscheidungen der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe. Nach dem vorläufigen Ergebnis seiner persönlichen freien richterlichen Beweiswürdigung sei im vorliegenden Einzelfall dennoch wohl nicht von einer rechtzeitigen Antragstellung im Januar 2021 bzw. Oktober 2021 auszugehen. Indes sei nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz in einem schriftlichen Antrag auf Fristverlängerung für die Weitbeantragung im Januar 2021 rechtlich zwar bereits eine dem Antragserfordernis aus § 37 SGB II genügende Antragstellung zu sehen, da hierfür die Verwendung eines Formularvordrucks des Beklagten nicht unerlässlich sei. Es bestünden aber wohl vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der diesbezüglichen Sachverhaltsdarstellung der Klägerin. Diese Zweifel seien auch durch die persönliche Anhörung in der mündlichen Verhandlung wohl nicht ausgeräumt worden. Die Klägerin könne hier keine Beweismittel anbieten, um ihrem Vorbringen mehr Substanz zu verleihen. Insbesondere könne sie keine Mehrfertigung des vermeintlichen Schreibens vom Januar 2021 vorlegen. Das angebliche Löschen digitalisierter Daten während des laufenden Klageverfahrens wirke konstruiert. Dieses nachträgliche Vorbringen werde das Gericht aufgrund weiterer eklatanter Ungereimtheiten wohl als gesteigert und unglaubhaft ansehen müssen. Es widerspreche zuvörderst der inhaltlich gegensätzlichen Klagebegründung in Bezug auf den sinngemäßen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Antragsfrist. Insofern habe die Klägerin ausdrücklich zugestanden, sich nicht rechtzeitig an den Beklagten gewandt zu haben. Insofern habe sie – auch heute – auf ihre Depression und Schmerzen verwiesen. Dabei sei es lebensnah, sich wegen einer depressiven Antriebsminderung nicht zum Papierkram aufraffen zu können. Ebenso sei es plausibel, schmerzbedingt den Spaziergang zum Briefkasten des Jobcenters zu vermeiden. Überhaupt nicht ins Bild passe wiederum, dass die Klägerin trotz dieser angeblich bis Ende Januar 2021 fortbestehenden chronischen Krankheitsbilder dann am 01.02.2021 plötzlich hinreichend genesen wäre. Am 01.02.2021 sei die Klägerin jedoch unzweifelhaft imstande gewesen, Schreiben aufzusetzen und beim Beklagten einzuwerfen. Eben dies sei ausweislich des Schreibens wegen der „monatlichen Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ vom selben Tag aber der Fall.

 

Mit Bezug auf diese laufend angefallenen Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie hat die Klägerin sodann die diesbezüglichen Einmalzahlungen in 2021 und 2022 moniert. Sie habe diese erst jeweils im Hochsommer erhalten. Das sei zu spät gewesen. Sie habe ihre pandemiebedingten Mehrkosten für Januar 2021 bis Juni 2021 bzw. Oktober 2021 bis April 2022 damit jeweils nicht abdecken können. Zumindest insofern müsse sie vor dem Sozialgericht obsiegen. Der Kammervorsitzende hat die Klägerin sodann darauf hingewiesen, dass er insoweit ihr Vorbringen im schriftlichen Verfahren bislang anders verstanden habe. Seiner vorläufigen Einschätzung des Sach- und Streitstandes zufolge wäre seines Erachtens zwischen den Beteiligten nur noch umstritten gewesen, ob für Januar 2021 bzw. Oktober 2021 Leistungen zu bewilligen und auszuzahlen seien. Diese Interpretation ihres Klagebegehrens hat die Klägerin sodann zurückgewiesen.

 

Der Kammervorsitzende hat daraufhin festgestellt, dass die Klägerin ihr diesbezügliches Begehren vom 01.02.2021 in ihren späteren Schreiben weder außergerichtlich noch gerichtlich ausdrücklich beschränkt hat. Der Kammervorsitzende hat auch eingeräumt, dass die Anerkennung eines Mehrbedarfes für Hygieneartikel nach § 21 Abs. 6 SGB II nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ohnehin kein rechtlich abtrennbarer Streitgegenstand sei. Das Gericht bzw. die ehrenamtlichen Richter und er müssten schon deswegen von Amts wegen prüfen, ob höhere Leistungen zur Deckung der Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie zu gewähren seien für diejenigen Bewilligungsmonate, in denen dem Antragserfordernis aus § 37 SGB II Genüge getan sei.

 

Sodann hat das Gericht mit der Klägerin die Erfolgsaussichten ihrer Klage erörtert in Bezug auf die Anerkennung eines generellen mtl. Mehrbedarfs für pandemiebedingte Hygienemittel nach § 21 Abs. 6 SGB II von Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass die Kammer einen diesbezüglichen Anspruch in einer Reihe veröffentlichter Entscheidungen des einstweiligen Rechtsschutzes im Wege einer verfassungskonformen Auslegung der Norm angenommen habe. Diese Rechtsaufassung habe sich aber nicht durchgesetzt. Rechtsprechung und Literatur gingen nahezu einheitlich davon aus, das Tatbestandsmerkmal „im Einzelfall“ sei nicht erfüllt. Die COVID-19-Pandemie habe nicht nur den Einzelfall, sondern die Allgemeinheit betroffen. Zum Ausgleich der durch sie allgemein verursachten Mehraufwendungen seien in §§ 70, 73 SGB II vorrangige Regelungen mit pauschalen Einmalzahlungen für alle Menschen im Bezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende erlassen worden.

 

Die Klägerin hat nochmal darauf verwiesen, dass die Einmalzahlungen in 2021 und 2022 ihrer Ansicht nach weder rechtzeitig noch ausreichend gewesen seien. Es seien nur 150,- € bzw. 200,- € überwiesen worden, und zwar jeweils erst im Hochsommer, als Masken unnötig bzw. Schnelltests günstiger geworden seien. Auch wäre die zwischenzeitliche Verteuerung von Lebensmitteln mehr zu berücksichtigen gewesen.

 

Sodann hat das Gericht mit der Klägerin erörtert, ob § 70 und § 73 SGB II jeweils mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar seien. Der Kammervorsitzende hat sich insofern die Einschätzung der Klägerin zueigen gemacht und auf die Anfang 2021 noch sehr hohen Preise für pandemiebedingte Hygienemittel verwiesen. Selbst nach deren Verbilligung im Jahresverlauf seien diesbezügliche Mehraufwendungen bis einschließlich April 2022 nicht durch Einsparmöglichkeiten in anderen Bereichen zu decken gewesen. Im Regelbedarfssatz für 2022 seien nämlich die corona- bzw. kriegsbedingten Preissteigerungen noch nicht abgebildet gewesen. Diese seien erst zum 01.01.2023 nennenswert an die Inflation angepasst worden. Insbesondere seien auch die in § 73 SGB II vorgesehenen Einmalzahlung für Mai 2021 bzw. Juli 2022 ungeeignet gewesen, die existenzsichernden Bedarfe für bereits vorvergangene Bewilligungsmonate noch gegenwärtig zu decken.

 

Ein ehrenamtlicher Richter hat sodann angeregt, im Falle eines Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses zugleich die Klagen für Januar 2021 und Oktober 2021 abzutrennen und abzuweisen. Dies sei dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit zuträglich. Die Verfassungskonformität der Leistungshöhe sei insofern schließlich nicht entscheidungsrelevant, da insoweit die Klage wohl ohnehin mangels rechtzeitiger Antragstellung dem Grunde nach abzuweisen sei.

 

Der Klägerin ist dann abschließend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden zu den Fragen der Teilabweisung, zur Aussetzung im Übrigen sowie zur Vorlage von §§ 70, 73 SGB II an das Bundesverfassungsgericht und zur Frage nach der Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Die Klägerin hat sodann – unter Inanspruchnahme prozessfürsorglicher Formulierungshilfe durch das Gericht – wörtlich beantragt,

 

  1. den Beklagten zur teilweisen Aufhebung seines Bewilligungsbescheides vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 zu verurteilen und ihn dergestalt zur Abänderung seines Bewilligungsbescheides vom 06.07.2021 zu verpflichten, dass der Beklagte ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar 2021 bis Juni 2021 in gesetzlicher und verfassungskonformer Höhe auch unter Berücksichtigung eines monatlichen Mehrbedarfs zur Deckung von Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie gewährt.

 

  1. den Beklagten zur teilweisen Aufhebung seines Änderungsbescheides vom 11.05.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 zu verurteilen und ihn dergestalt zur Abänderung seines Bewilligungsbescheides vom 10.01.2022 zu verpflichten, dass der Beklagte ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Oktober 2021 bis April 202s in gesetzlicher und verfassungskonformer Höhe auch unter Berücksichtigung eines monatlichen Mehrbedarfs zur Deckung von Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie gewährt.

 

Schließlich ist festgestellt worden, dass der Beklagte keine Möglichkeit zur Äußerung zu der nach dem Gang der Verhandlung nunmehr von Amts wegen erwogenen Aussetzungs-, und Vorlageentscheidung habe. Es ist ferner festgestellt worden, dass dies mutmaßlich auch darauf beruhe, dass der Kammervorsitzende im schriftlichen Verfahren die Erfolgsaussichten der Klage uneingeschränkt verneint und dem Beklagten unter Hinweis hierauf das Entsenden eines Beschäftigten freigestellt hatte. Anlässlich dessen hat das Gericht mit der Klägerin erörtert, ob der Rechtsstreit zu vertagen sei, um für den Beklagten überraschende Entscheidungen zu vermeiden. Insofern ist festgestellt worden, dass es für den Beklagten gerade nicht überraschend käme, soweit die Klage für die Monate Januar 2021 und Oktober 2021 – wie angekündigt – abgewiesen würde und der Beklagte der Klägerin insofern keine außergerichtlichen Kosten erstatten müsse. Soweit im Übrigen das Klageverfahren zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ausgesetzt und erst später fortgesetzt werden sollte, könne der Beklagte ggfs. im Vorlageverfahren hinreichend Stellung nehmen zur vermeintlichen Verfassungswidrigkeit der Normen und – nach einer diesbezüglichen Verfassungsgerichtsentscheidung – auch im ggfs. sodann fortzusetzenden sozialgerichtlichen Verfahren, soweit sozialrechtliche Fragestellungen nicht verfassungsrechtlicher Art betroffen sind.

 

Nach geheimer Beratung hat das Gericht seine aus dem Tenor ersichtliche Entscheidung verkündet.

 

6.

 

Nach dieser Entscheidungsverkündung ereigneten sich bis zum Abfassen dieser Entscheidungsbegründung nachfolgende Vorkommnisse:

 

Am 07.06.2023 hat das Sozialgericht Karlsruhe für die Ziff. 1. bzw. Ziff. 2. des Entscheidungstenors abgetrennten und jeweils abgewiesenen kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen die beiden Aktenzeichen S 12 AS 1358/23 (bzgl. Ziff. 1.) bzw. S 12 AS 1359/23 (bzgl. Ziff. 2.) vergeben.

 

Am selben Tag ist die elektronisch signierte Sitzungsniederschrift zu den drei elektronischen Prozessakten genommen worden, welche auch weisungsgebundene gerichtszugehörige Untergebene der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg elektronisch einsehen können als Dienstvorgesetzte im Rahmen der Überwachung der richterlichen Diensterfüllung.

 

Am 16.06.2023 hat ein (abstrakt) weisungsgebundenes gerichtszugehöriges Mitglied der Justizverwaltung des Landes Baden-Württemberg den Kammervorsitzenden zu einem spontanen 90-minütigen Vier-Augen-Gespräch gebeten. Sodann hat es ihm eine Entscheidung der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe vorgehalten, mit welcher die 12. Kammer die vom Bundesverfassungsgericht für zu sog. „(Total-) Sanktionen“ für das Grundsicherungsrecht erkannten Maßstäbe (vgl. BVerfG, 05.11.2019, 1 BvL 7/16) auf wesensverwandte „(Total‑) Entziehungen“ im Grundsicherungsrecht übertragen hatte (vgl. SG Karlsruhe, 09.05.2023, S 12 AS 2046/22, juris). Inwiefern diese Entscheidung missliebig sei, hat das Mitglied der Justizverwaltung dem Kammervorsitzenden sodann ausführlich dargelegt. Es hat ihn gefragt, ob er seine berufliche Zukunft am Sozialgericht Karlsruhe sehe. Zudem hat es ihn aufgefordert, zu versprechen, gleichartige Ausführungen künftig zu unterlassen. Gegen diesen Eingriff in seine richterliche Unabhängigkeit hat sich der Kammervorsitzende verwehrt. Er hat nachgefragt, ob deswegen erneut ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet werde. Diese Frage hat das gerichtszugehörige Mitglied der Justizverwaltung ausdrücklich verneint.

 

Am 20.06.2023 ist dem Kammervorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts eine Verfügung eines dem Landessozialgericht Baden-Württemberg zugehörigen Mitglieds der Landesjustizverwaltung zugestellt worden. Darin hat es als Dienstvorgesetzter ein neuerliches Disziplinarverfahren eingeleitet. Anlass hierfür seien sowohl zwei jüngere Gerichtsentscheidungen der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe (SG Karlsruhe, 09.05.2023, S 12 AS 2046/22 bzw. SG Karlsruhe, 23.01.2022, S 12 AS 2166/22) als auch die Klagebegründung der Anfechtungsklage des Kammervorsitzenden gegen die am 25.07.2023 durch das Verwaltungsgericht Karlsruhe als rechtswidrig erachtete dienstliche Beurteilung. Darin habe der Kammervorsitzende u. a. dem Mitglied der Landesjustizverwaltung Verfolgungseifer nachgesagt und es hierdurch diffamiert. Dieses sei für die neuerliche disziplinarrechtliche Verfolgung zwar nicht originär zuständig. Es habe das neuerliche Disziplinarverfahren aber Kraft Amtes eigens an sich gezogen.

 

 

II.

 

 

1.

 

Die Kammer konnte auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 entscheiden.

 

Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte darin nicht vertreten war. Ihm war die Ladung zum Termin ordnungsgemäß zugestellt und er darin auf eben diese Möglichkeit hingewiesen worden (vgl. § 110 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

 

Insbesondere musste dem Beklagten keine Äußerungsmöglichkeit zum Aussetzungsbeschluss unter Ziff. 3. des Entscheidungstenors bzw. zu den Vorlagebeschlüssen unter Ziff. 4. und 5. des Entscheidungstenors bereits im sozialgerichtlichen Ausgangsverfahren eingeräumt werden. Im Verfahren vor dem BVerfG wird der Beklagte nämlich gemäß § 82 Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) hinreichend Gelegenheit haben, zur Zulässigkeit und Begründetheit der Aussetzung und Vorlage Stellung zu nehmen (vgl. BVerfGE 47, 146 (151); BeckOK BVerfGG/Geißler, 15. Ed. 1.6.2023, BVerfGG § 82 Rn. 16).

 

Auch soweit das Gericht den Rechtsstreit im Übrigen nicht ausgesetzt und nicht vorgelegt, sondern durch Teilurteil entschieden hat, ist dem Anspruch auf rechtlichen Gehör aus § 62 SGG i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG Genüge getan. Die Sachentscheidungen des Gerichts unter Ziff. 1. bzw. 2. bzw. die diesbezüglichen Kostengrundentscheidungen unter Ziff. 6. des Entscheidungstenors sind gerade nicht überraschend ergangen. Umgekehrt entsprechen sie den diesbezüglichen Ankündigungen des Gerichts im schriftlichen Verfahren. Ergänzend hierzu ist am 06.06.2023 die Klägerin auch insofern ausführlich mündlich angehört worden. Der Beklagte ist durch die Klageabweisungen aus Ziff. 1., 2. und die für ihn günstige Kostenentscheidungen unter Ziff. 6. überdies auch nicht beschwert.

 

2.

 

Die Abtrennung der Klagen S 12 AS 1358/23 und S 12 AS 1359/23 unter Ziff. 1. bzw. 2. des Entscheidungstenors vom 06.06.2023 beruhte jeweils auf § 202 SGG in Verbindung mit § 145 Abs. 1 Satz 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Danach kann das Gericht durch begründeten Beschluss anordnen, dass mehrere in einer Klage erhobene Ansprüche in getrennten Prozessen verhandelt bzw. entschieden werden, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist.

 

In Anbetracht der jeweiligen Streitgegenstände war hier die Abtrennung beider Klagen jeweils aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung geboten. Sie ermöglichte den Erlass anfechtbarer Teilurteile (vgl. Ziff. 1. bzw. 2. des Entscheidungstenors) und diesbezügliche Kostengrundentscheidungen (unter Ziff. 6. des Entscheidungstenors), soweit es für die Entscheidung des Rechtsstreits S 12 AS 2208/22 keiner Aussetzung des Verfahrens (nach Ziff. 3. des Entscheidungstenors) bzw. keiner Vorlage von Gesetzen an das Bundesverfassungsgericht (gemäß Ziff. 4. bzw. 5. des Entscheidungstenors) bedurfte.

 

Entscheidungserheblich sind die dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten Gesetze nämlich für den Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 nur, soweit das Verfahren in seiner ursprünglichen Gestalt die nicht von ihm abgetrennten Streitgegenstände betraf. Hingegen war im Übrigen keine Aussetzung erforderlich, weil es wegen der abgetrennten Streitgegenstände auf die Vereinbarkeit von §§ 70, 73 SGB II mit dem Grundgesetz für den Erfolg der Rechtsverfolgung der Klägerin gar nicht ankommt. Die darin geregelte Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Höhe existenzsichernder Leistungen stellt sich nämlich nur, soweit diese Leistungen überhaupt dem Grunde nach zu gewähren sind. Eben dies war zur vollen Überzeugung der Kammer aber hinsichtlich der abgetrennten und unter den Aktenzeichen S 12 AS 1358/23 bzw. S 12 AS 1359/23 fortgeführten Teile des Rechtsstreits gerade nicht der Fall. Aus Gründen nicht verfassungsrechtlicher Art kann die Klägerin nämlich jeweils ohnehin die erstmalige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die bereits zum Zeitpunkt der Leistungsantragstellung bzw. Folgeantragstellung verstrichenen Monate nicht beanspruchen. Eben dies gilt gleichermaßen für Januar 2021 (vgl. dazu unmittelbar im Anschluss hieran unter Ziff. II. 3.) und Oktober 2021 (dazu im Anschluss daran unter Ziff. II. 4.).

 

 

3.

 

Die Klage hat keinen Erfolg, soweit das Gericht unter Ziff. 1. seines Entscheidungstenors vom 06.06.2023 den Klageteil mit dem Aktenzeichen S 12 AS 1358/23 betreffend die Leistungsgewährung für Januar 2021 mittels Teilurteil abgewiesen hat.

 

Die Klage S 12 AS 1358/23 ist zunächst zulässig.

 

In Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheiden gemäß § 51 Abs. 1 Ziff. 4a. SGG die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nach dem SGB II der hier vorliegenden Art. Innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit ist § 8 SGG zufolge für die Klage S 12 AS 1358/23 ein Sozialgericht zuständig, denn danach entscheiden die Sozialgerichte im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten, für die der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht, soweit durch Gesetz – wie hier – nichts anderes bestimmt ist. Örtlich zuständig ist das Sozialgericht Karlsruhe nach § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 1 Ausführungsgesetz zum Sozialgerichtsgesetz Baden-Württemberg (AGSGG), da die Klägerin zur Zeit der Klageerhebung ihren Wohnsitz in Karlsruhe und damit im Gerichtsbezirk des Sozialgerichts Karlsruhe hatte.

 

(Aktiv) beteiligtenfähig ist die Klägerin als natürliche Person gemäß § 70 Ziff. 1 Var. 1 SGG. Ebenfalls (passiv) beteiligtenfähig ist das hier beklagte Jobcenter, da es als gemeinsame Einrichtung nach §§ 6d, 44b SGB II einer juristischen Person des öffentlichen Rechts gleich (vgl. MKLS/B. Schmidt, 13. Aufl. 2020, SGG § 70 Rn. 2b) gleichsteht.

 

Die Prozessfähigkeit der uneingeschränkt geschäftsfähigen Klägerin folgt aus § 71 Abs. 1 SGG. Vor dem Sozialgericht Karlsruhe kann sie den Rechtsstreit § 73 Abs. 1 Var. 1 SGG zufolge auch selbst bzw. ohne einen (rechtsanwaltlichen) Bevollmächtigten führen, während der Beklagte als Behörde gemäß § 71 Abs. 3 Var. 3 SGG durch seinen gesetzlichen Vertreter bzw. Vorstand handelt; d. h. durch seinen Geschäftsführer.

 

Betreffend die im Verfahren S 12 AS 1358/23 streitbefangene Leistungsgewährung für den Bewilligungsmonat Januar 2021 wurde das erforderliche Vorverfahren durch Widerspruchsbescheid vom 03.08.2022 abgeschlossen (vgl. § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG).

 

Nach dessen Bekanntgabe ist die Klage zum Sozialgericht innerhalb der einmonatigen Frist aus § 87 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 01.09.2029 erhoben worden.

 

In ihrer diesbezüglichen Klageschrift vom 31.08.2022 hat die Klägerin dem Schriftformerfordernis gemäß § 90 Alt. 1 SGG Rechnung getragen.

 

Zugleich hat sie durch die Benennung und die Vorlage des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 den Streitgegenstand hinreichend bestimmt im Sinne von § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG.

 

Bei der Bestimmung des Klagebegehrens können indes sowohl der vorgetragene als auch der aktenkundige oder sonst im Verfahren festgestellte Sachverhalt als Anknüpfungspunkt dienen. Indes lässt sich der angegriffene Verwaltungsakt auch ohne bestimmten Antrag und nähere Begründung daraufhin prüfen, ob nach dem aktenkundigen Sachverhalt weitergehende Ansprüche bestehen. Der Streitgegenstand (bzw. der vom Kläger erhobene Anspruch) reduziert sich nicht etwa dadurch, dass der Kläger bestimmte Gesichtspunkte geltend macht, die nach seiner Auffassung eine höhere oder längere Leistung rechtfertigen sollen. Eine nur teilweise Anfechtung oder eine teilweise Klagerücknahme kann deshalb nur angenommen werden, wenn der Wille des Klägers zur Begrenzung des Streitgegenstands klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen ist. Fehlt es an einer solchen ausdrücklichen Beschränkung, verbleibt es hingegen bei dem Grundsatz, dass ein möglicher (höherer) Anspruch unter jeglichem tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkt streitgegenständlich und vom Gericht zu prüfen ist (Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 123 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 19, 20, 23).

 

Gemessen hieran war Gegenstand des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 bzw. des anschließenden sozialgerichtlichen Klageverfahrens die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch den Überprüfungsbescheid vom 11.03.2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 02.08.2022 betreffend den Ausgangsbescheid vom 06.07.2021 sowohl hinsichtlich der Regelbedarfsleistungen sowie der Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung.

 

Eine theoretisch in Bezug auf Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II grundsätzlich zulässige Beschränkung des Streitgegenstandes (vgl. Eicher/Luik/Harich/Luik, 5. Aufl. 2021, SGB II § 22 Rn. 34) ist im vorliegenden Fall weder außergerichtlich noch bei der Klageerhebung noch im Nachgang hierzu erfolgt. Dergleichen lässt sich dem Wortlaut aller im schriftlichen (Widerspruchs- bzw. Klage-) Verfahren (bis zur Fortführung der Klage wegen des Bewilligungsmonats Januars 2021 unter dem Aktenzeichen S 12 AS 1358/23 unter dem Aktenzeichen S 12 AS 2208/22) eingegangenen Schreiben der Klägerin bzw. ihren Klarstellungen in der mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 nicht entnehmen.

 

Namentlich kann dergleichen auch nicht allein daraus geschlussfolgert werden, dass die Klägerin den im Antragsschreiben vom 01.02.2021 geltend gemachten COVID-19-Mehrbedarf (insbesondere für FFP2-Masken) sowohl außergerichtlich als auch in ihren prozessbegleitenden Schriftsätzen bis zur mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 nicht mehr thematisierte, zumal dieser Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II ohnehin keinen eigenständigen und von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abtrennbaren Streitgegenstand darstellt (vgl. Eicher/Luik/Harich/S. Knickrehm, 5. Aufl. 2021, SGB II § 21 Rn. 12).

 

Der wegen dieses Streitgegenstandes angebrachte Rechtsbehelf der Klägerin ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Indes zielt der Anfechtungsteil des Klageantrags auf die teilweise Aufhebung des Überprüfungsbescheids (vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022), die Verpflichtungsklage auf die teilweise Aufhebung bzw. Abänderung des Ausgangsbescheids (vom 06.07.2021) und die Leistungsklage auf die Verurteilung des Beklagten zur Erbringung der dann zu beanspruchenden Leistung (in gesetzlicher bzw. verfassungskonformer Höhe) ab (vgl. Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 44 SGB X Rn. 154).

 

Hierbei ist nicht zu beanstanden, dass die Klägerin mit dem am 06.06.2023 vor dem Sozialgericht gestellten Sachantrag ihre Leistungsansprüche nur dem Grunde nach (und nicht in einer bezifferten Höhe) erhebt. Eben dies ist in der sozialgerichtlichen Praxis aus Gründen der Prozessökonomie gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig und absolut gängig. Rechtsdogmatisch handelt es sich um eine verfahrensrechtlich wegen der Besonderheiten des Sozialrechts ausnahmsweise zugelassene Zurückverweisung an die Behörde, welche erst im Nachgang zum Klageverfahren die Höhe der Leistung nach Maßgabe der gerichtlichen Entscheidung feststellt (vgl. BSG, 20.4.1999, B 1 KR 15/98 R,).

 

Die Klägerin ist zur Rechtsverfolgung auch befugt. Allein die Möglichkeit der Verletzung eigener Rechte im Sinne einer formellen Beschwer begründet die Klagebefugnis (MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 54 Rn. 9).

Hier lehnte der Beklagte durch die angefochtenen Bescheide die Leistungsbewilligung von Alg 2 für den Bewilligungsmonat Januar 2021 an die Klägerin ab.

Überdies behauptet die Klägerin, in ihrem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und in dem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt zu sein, soweit sie meint, die Leistungsgewährung des Beklagten sei mit diesen Grundrechten unvereinbar, weil der Beklagte bei der Berechnung der Höhe der Sozialleistungen keinen mtl. Mehrbedarf für Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie berücksichtigt.

 

Der Zulässigkeit der Klage S 12 AS 1358/23 stehen auch weder eine anderweitige Rechtshängigkeit (vgl. § 202 S. 1 SGG iVm § 17 Abs. 1 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz) noch eine rechtskräftige Entscheidung (vgl. § 141 SGG oder ein fehlendes Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entgegen.

 

Die damit insgesamt zulässige Klage ist für den Monat Januar 2021 aber unbegründet.

 

Die Klägerin ist durch den ablehnenden Überprüfungsbescheid wegen des Januars 2021 nämlich nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG in eigenen Rechten verletzt worden. Diesbezüglich ist der Überprüfungsbescheid rechtmäßig, weil der Beklagte nicht aus § 44 Abs. 1 SGB X verpflichtet war, seinen Ausgangsbescheid vom 06.07.2021 für Januar 2021 zurückzunehmen. Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X liegen für diesen Monat nicht vor.

 

Zwar ist ein Verwaltungsakt nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Hier hatte der Beklagte bei Erlass seines Ausgangsbescheides vom 06.07.2021 jedoch im Hinblick auf den Bewilligungsmonat Januar 2021 das Recht richtig angewandt und war auch nicht von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist. Namentlich war im Ausgangsbescheid die Leistungsablehnung für Januar 2021 rechtmäßig erfolgt. Die Klägerin hat für diesen Leistungsmonat keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.

 

Deren Bewilligung kann die Klägerin für Januar 2021 nicht beanspruchen. Indes kann dahinstehen, ob die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen aus §§ 7 ff SGB II für Januar 2021 erfüllt waren. Denn ungeachtet dessen steht insoweit der streitbefangenen Anspruchsberechtigung jedenfalls in formeller Hinsicht § 37 SGB II entgegen.

 

Die Norm bestimmt, dass Leistungen nach dem SGB II nur auf Antrag erbracht werden (§ 37 Abs. 1 Satz 1 SGB II) und nicht für Zeiten vor der Antragstellung (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB 2). Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wirkt nur auf den Monatsersten zurück (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB 2). Im vorliegenden Fall ging jeweils aber nicht mehr vor Ablauf des 31.01.2021 ein Weiterbewilligungsantrag der Klägerin beim Beklagten ein.

 

Soweit die Klägerin im Laufe ihrer Rechtsverfolgung dazu übergegangen ist, auch vorzutragen, der Beklagte habe „alle“ ihre Briefe ebenso verloren wie (zuletzt von ihr vorgelegte) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, wertet das Gericht dies als unglaubhaftes, gesteigertes Vorbringen der in Bezug auf die rechtzeitige Antragstellung beweisbelasteten Klägerin.

 

Indessen verkennt das Sozialgericht gerade nicht, dass infolge der Digitalisierung der Jobcenter und Sozialgerichte sowie der hiermit verbundenen Unzulänglichkeiten des Elektronischen Rechtsverkehrs mitnichten die Vollständigkeit und Richtigkeit von Verwaltungs- und Prozessakten vorausgesetzt und gegenteiliges Vorbringen nicht generell als pauschale Schutzbehauptung abgetan werden kann (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 10. März 2023 – S 12 AS 2454/22 –,juris; Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 9. Mai 2023 – S 12 AS 3350/22 –, juris). So wäre in eben diesem Klageverfahren S 12 AS 2208/22 unter Zugrundelegung der automatisch elektronisch erfassten Übertragungsdaten aus dem elektronischen Rechtsverkehr bzw. den elektronischen Akten davon auszugehen, dass die Klageerwiderung vom 08.09.2022 dem Sendebericht des Jobcenters vom selben Tag zufolge bereits am 08.09.2022 erfolgreich an das Sozialgericht Karlsruhe übermittelt worden ist, wo sie hingegen ausweislich der hier automatisch generierten Übertragungsdokumentation in der elektronischen Gerichtsakte am 14.11.2022 erstmalig registriert worden ist.

 

Diesen gerichtsbekanntermaßen nicht generell zu leugnenden Unzulänglichkeiten der Digitalisierung der Justiz und Verwaltung zum Trotz kann sich die 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe im vorliegenden Einzelfall des Verfahrens S 12 AS 2208/22 aber nach dem Ergebnis ihrer freien richterlichen Beweiswürdigung nicht davon überzeugen, dass die beweisbelastete Klägerin bereits rechtzeitig im Januar 2021 einen beim Beklagten verloren gegangenen Leistungsantrag gestellt habe.

 

Die Zweifel am diesbezüglichen Vorbringen der Klägerin ließen sich weder durch ihre persönliche Anhörung in der mündlichen Verhandlung noch anderweitig ausräumen. Insbesondere vermochte die Klägerin dem Gericht nicht im Wege des Urkundenbeweises eine Kopie des vermeintlich rechtzeitig übermittelten Antragsschreibens vorzulegen, um ihrem Vorbringen mehr Substanz zu verleihen. Ihr Vortrag zum angeblichen Löschen eben dieses Schreibens während des diesbezüglich bereits laufenden Klageverfahrens wirkt auf das Gericht konstruiert und damit unglaubhaft.  Zudem hat die Klägerin selbst die Verzögerungen bei der Antragstellung zunächst (und noch in der mündlichen Verhandlung am 06.06.2023 wiederholend) nicht nur mit angeblichen Lücken in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen begründet, sondern auch mit ihren individuellen gesundheitlichen Einschränkungen. Insofern sind hier im Rahmen der Beweiswürdigung auch Zweifel vernünftig, dass sich die Klägerin möglicherweise im Laufe des Januars 2021 auch infolge einer krankheitsbedingten Antriebsminderung nicht rechtzeitig zum Papierkram aufraffen konnte bzw. schmerzgeplagt den Spaziergang zum Briefkasten des Jobcenters vermied.

 

Auch im Hinblick auf diese gesundheitlichen Beschwerden hat die Klage S 12 AS 1358/23 indes keinen Erfolg in Bezug auf den Bewilligungsmonat Januar 2021. Dabei kann sogar dahingestellt bleiben, ob für die unterbliebene Antragstellung die chronischen Krankheitsbilder tatsächlich noch bis zum Ablauf des Monatsletzten (mit‑)ursächlich waren. Dies erschien den zuständigen Richtern der 12. Kammer insofern zweifelhaft, als die Klägerin nur einen Tag später (d. h. am 01.02.2021) nachweislich durchaus imstande war, ihr Schreiben wegen der „monatlichen Zuzahlungen“ für „FFP2-Masken“ sowohl abzusetzen als auch beim Beklagten einzuwerfen. Es erscheint den Richtern nämlich wenig glaubhaft, dass die Wiedergenesung der Klägerin ausgerechnet zwischen dem 31.01.2021 und dem 01.02.2021 ein hinreichendes Maß erreicht haben sollte. Vielmehr halten sie es für lebensnah, dass zur Vernachlässigung der rechtzeitigen Antragstellung beim Beklagten im Januar 2021 nicht unwesentlich beitrug, das die Klägerin die Hoffnung pflegte, im Wege einer beruflichen Selbständigkeit nicht mehr auf Grundsicherungsleistungen angewiesen zu sein, was immerhin in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang – d. h. noch im Februar 2022 – zur Gewerbeanmeldung des – pandemiebedingt später aber nicht betriebenen – heimischen Kosmetiksalons führte.

 

Auf die behauptete Kausalität der gesundheitlichen Beschwerden für die Verzögerungen bei der Antragstellung nach § 37 SGB II kommt es jedoch aus Rechtsgründen ohnehin nicht an. Auch wenn die Beschwerden für die unterbliebenen Antragstellung im Januar 2021 tatsächlich (mit‑)ursächlich gewesen sein sollten, könnte der Klägerin allein deswegen keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 SGB X gewährt werden. Eine solche scheidet nämlich aus, wenn ein Hilfebedürftiger den gemäß § 37 SGB II erforderlichen Weiterbewilligungsantrag trotz schriftlichen Hinweises des Grundsicherungsträgers nicht rechtzeitig stellt (vgl. Sozialgericht Mainz, 01.12.2016, S 10 AS 816/15, juris). Im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 Abs. 1 SGB X) kann eine frühere Antragstellung nicht fingiert werden, da es sich bei der Regelung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht um die Setzung einer gesetzlichen Frist handelt. Eine Wiedereinsetzung ist nach Sinn und Zweck der Vorschrift ausgeschlossen bei allen Bestimmungen, die eine Rückwirkung begrenzen oder ausschließen und damit anordnen, dass die Leistungen nur der Sicherung des gegenwärtigen Lebensunterhalts dienen sollen (vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 37 (Stand: 24.01.2023), Rn. 55).

 

Nach alldem kann die Klägerin für Januar 2021 vom beklagten Jobcenter keine Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach dem SGB II beanspruchen. Mangels Anspruch auf irgendwelche Grundsicherungsleistungen kann die Klägerin für denselben Bewilligungsmonat erst recht auch nicht die Verurteilung des Beklagten zur Leistungsgewährung in verfassungskonformer Höhe unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Mehrbedarfs zur Deckung ihrer Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie verlangen. Also ist durch das angerufene Gericht das beklagte Jobcenter auch nicht zu irgendeiner diesbezüglichen Rücknahme des Ausgangsbescheides vom 06.07.2021 für den Januar 2021 zu verpflichten. Folglich kann die Klägerin auch nicht die Aufhebung des diesbezüglichen Überprüfungsbescheides vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 in Bezug auf den Monat Januar 2021 beanspruchen. Insgesamt war aus diesen Gründen der wegen dieses Leistungsmonats unter dem Aktenzeichen S 12 AS 1358/23 fortgeführte Klageteil durch Teilurteil unter Ziff. 1. des Entscheidungstenors vom 06.06.2023 als unbegründet abzuweisen.

 

4.

 

 

Aus teilweise deckungsgleichen Gründen war durch Teilurteil unter Ziff. 2. des Entscheidungstenors vom 06.06.2023 auch der wegen des Leistungsmonats Oktober 2021 fortgeführte Klageteil unter dem Aktenzeichen S 12 AS 1359/23 abzuweisen.

 

Indes ist zunächst auch die Klage S 12 AS 1359/23 zulässig. Die diesbezüglichen Ausführungen betreffend die Klage S 12 AS 1358/23 (siehe oben unter Ziff. II. 3.) gelten für die Klage S 12 AS 1359/23 gleichermaßen. Denn auch soweit hier der Bewilligungsmonat Oktober 2021 (und nicht der Januar 2021) streitbefangen ist, war die Klägerin aus den oben genannten Gründen beteiligtenfähig, prozessfähig, postulationsfähig und klagebefugt. Ebenso verhält es sich mit den gerichtsbezogenen Sachurteilsvoraussetzungen (Rechtswegeröffnung, örtliche und sachliche bzw. funktionelle Zuständigkeit) sowie dem Verbot doppelter Rechtshängigkeit, dem Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung und dem (fortbestehenden) Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin.

 

Auch das Schriftformerfordernis und die Klagefrist wahrte die Klägerin im Hinblick auf die im Verfahren S 12 AS 1359/23 streitbefangene Leistungsgewährung für Oktober 2021 mit derselben – am 01.09.2021 eingegangenen – Klageschrift vom 31.08.2022.

 

Darin benannte die Klägerin zugleich auch hinreichend den Streitgegenstand des Verfahrens S 12 AS 1359/23. Sie monierte nämlich u. a. sinngemäß, das beklagte Jobcenter habe ihr für Oktober 2021 Grundsicherungsleistungen weder bewilligt noch ausgezahlt. Wörtlich formulierte die Klägerin:

 

„(…) Jobcenter Karlsruhe hat für Januar 2020 und Oktober 21 an mich die Leistungen nicht akzeptiert und nicht bezahlt. Auf dem Grund Verschlächterung meinen Psychischen Zustand, konnte ich nicht rechtzeitig WBA beim Jobcenter abgeben. Aber über meinen Gesundheitszustand habe ich Jobcenter Karlsruhe informiert. (…)

Mit der Klageschrift legte die Klägerin dem Gericht zugleich den (Ausgangs-) Bescheid des Beklagten vom 10.01.2022 vor, der u.a. die Gewährung von Alg 2 für Oktober 2021 betraf.

 

Insofern steht der Zulässigkeit der Klage S 12 AS 1359/23 gerade nicht der Mangel einer unterlassenen außergerichtlichen Befassung des Beklagten entgegen (vgl. zum andernfalls fehlenden Rechtsschutzbedürfnis: MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 54 Rn. 20). Anders als der Beklagte meint, betrafen die im Verfahren S 12 AS 1359/23 angefochtenen Bescheide nämlich gerade auch den Monat Oktober 2021. Zwar bezog sich der Ausgangsbescheid vom 10.01.2022 ausdrücklich auf den „Antrag vom 22.11.2021“. Auch enthielt er seinem Wortlaut zufolge eine Leistungsbewilligung „für die Zeit vom 01.11.2021 bis 30.04.2022“. Eben dies bedeutete indes zugleich eine sinngemäße Leistungsablehnung des Weiterbewilligungsantrags der Klägerin den Oktober 2021. Denn für den Regelungsgehalt eines Verwaltungsaktes kommt es maßgeblich auf den äußerlich erkennbaren Regelungswillen nach dem objektiven Empfängerhorizont des Bescheid-Adressaten an und eine ggfs. nicht erkennbare, gegensätzliche behördeninterne Fehlvorstellung muss dahinstehen (vgl. Schütze/Engelmann, 9. Aufl. 2020, SGB X § 31 Rn. 42-46). Demnach ist nicht per sé ausgeschlossen, dass ein Jobcenter die Leistungsgewährung für einen Leistungsmonat durch Bescheid und Widerspruchsbescheid ablehnt, ohne dies selbst zu wollen oder auch nur zu bemerken.

 

Die im Verfahren S 12 AS 1359/23 angefochtenen Verwaltungsakte bezogen sich demnach auch auf den Oktober 2021. Dabei handelte es sich um denjenigen Bewilligungsmonat, der sich unmittelbar an den Ablauf des 30.09.2021 anschloss. Auf den bereits am „30.09.2021“ unterschriebenen „Weiterbewilligungsantrag“ betreffend das „Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts 30.09.2021“ beziehen sich nämlich der Ausgangsbescheid vom 10.01.2022 bzw. der diesbezügliche Überprüfungsbescheid vom 11.05.2022 sowie der diesbezügliche Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022. Durch sie traf der Beklagte ausdrücklich eine Regelung auf den klägerischen „Antrag vom 22.11.2021“. An jenem 22.12.2022 ging beim Beklagten aber gerade der am 30.09.2021 unterschriebene Weiterbewilligungsantrag betreffend das Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts 30.09.2021 ein. Aus der maßgeblichen Sicht der Klägerin bedeutete bei verständiger und unvoreingenommener Würdigung der Umstand, dass der Beklagte ihr sodann das Alg 2 erst ab November 2021 bewilligte, gerade nicht, dass der Beklagte über den Leistungsanspruch der Klägerin für Oktober 2021 noch gar nicht entschieden hätte, sondern, dass der Beklagte die auch für Oktober 2021 beantragte Bewilligung ablehnte. Für diese Auslegung spricht nicht zuletzt der verfassungskräftige Justizgewährleistungsanspruch der Klägerin aus Art. 19 Abs. 4 GG. Eine gegenteilige Betrachtung bedeutete nämlich im Endeffekt, dass der Beklagte durch eine 18 Monate währende behördliche Untätigkeit ohne zureichenden Grund vereitelt hätte, dass die Klägerin wegen des bereits im November 2021 eingegangenen Leistungsantrags noch im Juni 2023 keinen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen könnte, obwohl die Klägerin immer wieder außergerichtlich schriftlich sinngemäß daran erinnert hatte, auch wegen des Monats Oktober 2021 eine gerichtliche anfechtbare Behördenentscheidung zu begehren.

 

Betreffend eben diese Leistungsablehnung für Oktober 2021 ist durch den Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 08.09.2022 auch das nach § 78 SGG erforderliche Vorverfahren abgeschlossen worden. Der Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 bezog sich nämlich auf den am 10.06.2021 eingegangenen Widerspruch der Klägerin vom 07.06.2022. Diesen richtete die Klägerin gegen die sinngemäße Leistungsablehnung für den Oktober 2021 durch den Überprüfungsbescheid vom 11.05.2021. Ihr in der Widerspruchsschrift im Hinblick auf den Oktober 2021 missverständlich ausgedrückte Widerspruchsbegehren stellte die Klägerin auf Rückfrage des Beklagten spätestens im Rahmen ihrer telefonischen Beratung durch den Beklagten am 15.07.2022 fernmündlich klar. Zudem bekräftigte die Klägerin auf das damalige telefonische Geheiß des Beklagten mit nachfolgendem Schreiben vom 31.08.2022 (Eingang beim Beklagten am 05.09.2022), dass es ihr um die „Widerspruchswiederholung wegen nicht ausbezahlter Leistungen Oktober 2021“ gehe. Nach alldem hatte der Beklagte außergerichtlich auch über das Nichtbestehen der Leistungsansprüche für Oktober 2021 mittels des angefochtenen Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 in dessen Fassung durch seinen Überprüfungsbescheid vom 11.05.2023 in dessen Gestalt durch seinen Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 bzw. durch Verwaltungsakt entschieden und die Klägerin deswegen erfolglos ein Vorverfahren angestrengt.

 

Indessen sind die Sachurteilsvoraussetzungen auch gegeben, wenn der Widerspruchsbescheid – wie hier im Verfahren S 12 AS 1359/23 – erst nach der (bereits am 01.09.2022 erfolgten) Klageerhebung erlassen wurde (vgl. MKLS/B. Schmidt, 13. Aufl. 2020, SGG § 78 Rn. 3) und mit dem Widerspruchsbescheid – wie hier – der Widerspruch als unzulässig verworfen wurde, sofern – wie hier – Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 7 ff. SGB II im Streit stehen, deren Bewilligung nicht im behördlichen Ermessen steht (vgl. BSG, 24.11.2011, B 14 AS 151/10 R; Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 78 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 20-22).

 

Der wegen des Oktobers 2021 angebrachte Rechtsbehelf der Klägerin ist (ebenfals analog zur Klage S 12 1358/23 wegen des Januars 2021; vgl. oben unter Ziff. II. 3.) als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Indes zielt der Anfechtungsteil des Klageantrags insoweit auf die teilweise Aufhebung des Überprüfungsbescheids (vom 11.05.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022), die Verpflichtungsklage auf die teilweise Aufhebung bzw. Abänderung des Ausgangsbescheids (vom 10.01.2022) und die Leistungsklage auf die Verurteilung des Beklagten zur Erbringung der dann zu beanspruchenden Leistung (in gesetzlicher bzw. verfassungskonformer Höhe) ab (vgl. Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 44 SGB X Rn. 154). Auch wegen des Klageantrags für Oktober 2021 ist – aus den oben unter Ziff. II. 3. bereits ausgeführten Rechtsgründen – nicht zu beanstanden, dass die Klägerin die Ansprüche nur dem Grunde nach erhebt.

 

Die nach alldem insgesamt zulässige Klage S 12 AS 1359/23 ist aber unbegründet. Auch betreffend den Leistungsmonat Oktober 2021 ist im Ergebnis ebenfalls zurecht durch Änderungsbescheid vom 11.05.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 eine Abänderung des Bewilligungsbescheides vom 10.01.2022 abgelehnt und kein Alg 2 an die Klägerin (nach‑)gezahlt worden. Sie kann diese Grundsicherungsleistungen aus den bereits mit Bezug auf den Januar 2021 (oben unter Ziff. II. 3.) dargelegten Rechtsgründen vom Beklagten nicht beanspruchen.

 

§ 37 SGB II steht der Leistungsgewährung auch für den Oktober 2021 entgegen, weil die Klägerin trotz entsprechender Hinweise des Beklagten bis 31.10.2021 keinen Leistungsantrag beim Beklagten gestellt hat und der bereits am 30.09.2021 ausgefüllte und unterschriebene Formularvordruck „Weiterbewilligungsantrag betreffend das „Ende des laufenden Bewilligungsabschnitts: 30.09.2021“ erst am 22.11.2021 beim Beklagten einging. Zur vollen Überzeugung des Gerichts hat die Klägerin vorher keinen Folgeleistungsantrag für Oktober 2021 beim Beklagten gestellt, auch wenn sie diesbezüglich inzwischen Gegenteiliges behauptet.

 

Auch ihr schriftliches und mündliches Vorbringen zur Antragstellung im Oktober 2021 wertet das Gericht in freier richterlicher Beweiswürdigung als unglaubhaft. Denn unter Ansehung der aktenkundigen Ungereimtheiten in Bezug auf den Bewilligungsmonat Januar 2021 (siehe oben unter Ziff. II. 3.) erscheint die Klägerin unglaubwürdig, soweit sie Angaben zum Zeitpunkt ihrer Antragstellungen macht. Überdies hat sie auch im Hinblick auf den Oktober 2021 keine Beweisurkunde vorgelegt, um ihre Angaben zu plausibilisieren. Im Übrigen sind die diesbezüglichen Ausführungen der Klägerin sehr detailarm und weisen keinerlei Realkennzeichen auf, derentwegen die beweisrechtliche Nullhypothese widerlegt wäre, wonach die insofern beweisbelastete Klägerin im Oktober 2021 keinen rechtzeitigen Antrag gestellt hat.

 

Da ihr schon aus (den oben ebenfalls unter Ziff. II. 3. bereits ausgiebig ausgeführten) Rechtsgründen auch für den Oktober 2021 keine Wiedereinsetzung in die Antragsfrist zu gewähren war, kann die Klägerin wegen dieses Leistungsmonats die Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 11.05.2023 in dessen durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 erlangten Gestalt ebenso wenig beanspruchen wie die sozialgerichtliche Verpflichtung des Beklagten zur diesbezüglichen Rücknahme seines Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 oder dessen Verurteilung zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Oktober 2021 in gesetzlicher (bzw. verfassungskonformer Höhe unter Anerkennung eines COVID-19-Mehrbedarfs).

 

Aus eben diesen Gründen war auch der wegen des Leistungsmonats Oktober 2021 unter dem Aktenzeichen S 12 AS 1359/23 fortgeführte Klageteil durch das unter Ziff. 2. des Entscheidungstenors vom 06.06.2023 verkündete Teilurteil als unbegründet abzuweisen.

 

5.

 

Der unter Ziff. 3. des Entscheidungstenors erfolgte Aussetzungsbeschluss beruht auf Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG.

 

Gemäß Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG ist ein angerufenes Gericht verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, wenn das angerufene Gericht das Gesetz für verfassungswidrig hält.

 

Gemessen hieran musste das Sozialgericht Karlsruhe den Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 aussetzen, bevor es über diejenigen weiteren Klageansprüche entscheiden darf, welche nicht vom Verfahren S 12 AS 2208/22 abgetrennt und dementsprechend nicht bereits als Klagen S 12 AS 1358/23 bzw. S 12 AS 1359/23 durch Teilurteil vom 06.06.2023 abgewiesen worden sind. Dies Aussetzungspflicht ergibt sich aus der Vorlagepflicht der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe, soweit sie zu der vollen richterlichen Überzeugung gelangt ist,

 

  • § 70 Satz 1 SGB II in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10.03.2021 mit Wirkung vom 01.04.2021 (vgl. dazu unmittelbar im Anschluss hieran unter Ziff. II. 6.)

und

  • § 73 SGB II in der Fassung des Artikel 1 Nummer 5 des Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze vom 23.05.2022 mit Wirkung vom 01.06.2022 (vgl. dazu im Anschluss unter Ziff. II. 7.)

 

seien jeweils sowohl streitentscheidend als auch voraussichtlich verfassungswidrig.

 

6.

 

 

Der aus Ziff. 4. des Entscheidungstenors ersichtliche Vorlagebeschluss betreffend § 70 Satz 1 SGB II n.F. folgt aus Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.

 

 

In Ergänzung zu Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG verpflichten § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG das Vorlagegericht zur Begründung, inwiefern seine Sachentscheidung von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die vorgelegte Rechtsvorschrift unvereinbar sei.

 

 

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss dem Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen das Gericht bei der Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Nichtigkeit. Das vorlegende Gericht muss im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darlegen. Dabei muss das Gericht auf naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen. Insbesondere kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern, die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung maßgebend genannt worden sind (BVerfGE 129, 186 (204 f.)).

 

 

Gemessen daran muss das Vorlagegericht insbesondere begründen, warum § 70 Satz 1 SGB II n.F. einen tauglichen Vorlagegegenstand darstellt (vgl. dazu unmittelbar im Anschluss hieran unter Ziff. II. 6. A)) für das Klageverfahren S 12 AS 2208/22 entscheidungserheblich ist (vgl. dazu unmittelbar anschließend unter Ziff. II. 6. B)), sowie, warum die vorgelegte Vorschrift voraussichtlich verfassungswidrig ist (vgl. dazu Ziff. II. 6. C)).

 

A)

 

§ 70 Satz 1 SGB II n.F. bestimmt, dass Leistungsberechtigte, die für den Monat Mai 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben und deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet, für den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2021 zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150,- € erhalten.

 

Diese Rechtsvorschrift stellt zuvörderst einen tauglichen Gegenstand eines Vorlagebeschlusses dar, weil es sich um ein formelles, nachkonstitutionelles Bundesgesetz handelt. Der Zulässigkeit einer Richtervorlage steht auch keine Bindungswirkungen einer diesbezüglichen Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus § 31 BVerfGG entgegen, weil eine solche über die Verfassungsmäßigkeit von § 70 Satz 1 SGB II bislang nicht ergangen ist.

 

 

B)

 

Von der Gültigkeit dieser Rechtsvorschrift ist auch die Entscheidung des Vorlagegerichts im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 abhängig. Inwieweit diese Klage Erfolg hat, hängt nämlich von der Anwendbarkeit bzw. Nichtigkeitserklärung des § 70 Satz 1 SGB II n.F. ab. Diese ist indes Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m.§ 78 Satz 1 i.V.m. § 82 Abs. 1, 80 Abs. 1 BVerfGG zufolge dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.

 

In Abhängigkeit davon, ob das Bundesverfassungsgericht § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II entweder als verfassungswidrig erachtet und für nichtig erklärt oder aber als verfassungsgemäß ansieht und als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, würde das Sozialgericht Karlsruhe die jedenfalls zulässige Klage S 12 AS 2208/22 entweder als begründet stattgeben oder aber als unbegründet abweisen. Denn die jedenfalls zulässigen Klage S 12 AS 2208/22 (vgl. dazu unmittelbar im Anschluss hieran unter Ziff. II. 6. B) a)) wäre in dem hypothetischen Fall der Verfassungskonformität und Vereinbarkeit der Norm als unbegründet abzuweisen (vgl. dazu Ziff. II. 6. C) b)). Im hypothetisch umgekehrten Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 70 Satz 1 SGB II n.F. würde das Vorlagegericht hingegen der Klage S 12 AS 2208/22 vollumfänglich stattgeben (vgl. dazu Ziff. II. 6. B) c)).

 

 

a)

 

Für die Entscheidung des Rechtsstreits S 12 AS 2208/22 ist indes zunächst die Verfassungsmäßigkeit und Wirksamkeit von § 70 Satz 1 SGB II nicht etwa allein deswegen irrelevant, weil das Vorlagegericht im Verfahren S 12 AS 2208/22 ohnehin kein Sachurteil fällen könnte. Vielmehr ist die Klage S 12 AS 2208/22 jedenfalls nicht als unzulässig abzuweisen, denn aus nachfolgenden Gründen sind alle prozessrechtlichen Voraussetzungen für eine gerichtliche Entscheidung in der Sache gegeben.

 

Dabei kann wegen der Zulässigkeit der Klage S 12 AS 2208/22 zur Vermeidung wortgleicher Wiederholungen auf die ausführlichen Entscheidungsbegründungen zur Zulässigkeit der Klagen S 12 AS 1358/23 (oben unter Ziff. II. 3.) bzw. S 12 AS 1359/23 (oben unter Ziff. II. 4) verwiesen werden. Denn im Verfahren S 12 AS 2208/22 streiten jeweils auf demselben Rechtsweg vor demselben Gericht dieselben Verfahrensbeteiligten über dieselben Bescheide, in denen (zugleich) die Klagen S 12 AS 1358/23 bzw. S 12 AS 1358/23 durch Teilurteil abgewiesen wurden.

 

Namentlich gelten die auf den Bewilligungsmonat Januar 2021 bezogenen Ausführungen zur Zulässigkeit der Klage S 12 AS 1358/23 (siehe oben unter Ziff. II. 3.) sinngemäß gleichermaßen für die Klage S 12 AS 2208/22, soweit darin noch über die Rechtsmäßigkeit desselben Ausgangsbescheides (vom 06.07.2021) bzw. Überprüfungsbescheides (vom 11.03.2022) bzw. Änderungsbescheides (vom 02.08.2022) sowie des diesbezüglichen Widerspruchsbescheides (vom 03.08.2022)  gestritten wird und die darin geregelten (nach der Abtrennung des Januar 2021 noch übrigen Folge-) Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 betroffen sind.

 

Die auf den Bewilligungsmonat Oktober 2021 bezogenen Ausführungen zur Zulässigkeit der Klage S 12 AS 1359/23 (siehe oben unter Ziff. II. 4.) gelten hingegen sinngemäß gleichermaßen für die Klage S 12 AS 2208/22, soweit darin noch über die Rechtsmäßigkeit desselben Ausgangsbescheides (vom 10.01.2022) bzw. Überprüfungsbescheides (vom 11.05.2022) sowie des diesbezüglichen Widerspruchsbescheides (vom 08.09.2022)  gestritten wird und die darin geregelten (nach der Abtrennung des Oktober 2021 noch übrigen Folge-) Bewilligungsmonate November 2021 bis April 2022 betroffen sind.

 

Insofern ist hier lässlich, ein weiteres Mal im Detail auszubuchstabieren, warum auch im Verfahren S 12 AS 2208/22

  • … der Rechtsweg eröffnet und das Sozialgericht Karlsruhe (sachlich wie örtlich) zuständig ist (s.o.),
  • … die personenbezogenen Sachurteilsvoraussetzungen (Beteiligtenfähigkeit, Prozessfähigkeit, Postulationsfähigkeit und Klagebefugnis) vorliegen (s.o.) und
  • … die übrigen prozessrechtlichen Anforderungen (Klageform, Klagefristen, Benennung der Streitgegenstände, Abschluss der Vorverfahren, statthafte Klagearten, Verbot doppelter Rechtshängigkeit, Verbot entgegenstehender Rechtskraft, Rechtsschutzbedürfnis, Zulässigkeit unbezifferter Geldleistungsanträge) eingehalten sind (s.o.).

 

Eigenständig ausführungsbedürftig ist die Zulässigkeit der Klage S 12 AS 2208/22 nur, soweit die Klägerin erst in der mündlichen Verhandlung am 06.06.2023 erstmalig klargestellt hat, Klageanträge nicht nur wegen der Leistungsmonate Januar 2021 und Oktober 2021 stellen zu wollen, sondern auch wegen der Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022. Diese – für das Vorlagegericht überraschende – Klarstellung ist allerdings vom sozialgerichtlichen Verfahrensrecht gedeckt. Denn in den im Verfahren S 12 AS 2208/22 angefochtenen Bescheiden hatte der Beklagte auch Regelungen zum grundsicherungsrechtlichen Leistungsanspruch der Klägerin getroffen für die Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022. Den also auch insofern grundsätzlich statthaften Streitgegenstand hatte die Klägerin nämlich im (Widerspruchs- bzw. Klage-) Verfahren nicht auf die später jeweils abgetrennten Monate Januar 2021 bzw. Oktober 2021 beschränkt.

 

Vor der persönlichen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hatte das Vorlagegericht im Rahmen seiner vorläufigen Würdigung des Sach- und Streitstandes zwar irrtümlich eine diesbezügliche Beschränkungsabsicht prognostiziert.  Im schriftlichen Klageverfahren hatte das Vorlagegericht deswegen folgefehlerhaft und vorschnell auch auf die vermeintliche Aussichtslosigkeit der (gesamten) Rechtsverfolgung hingewiesen und dem Beklagten mit Hinweis hierauf das Entsenden eines Beschäftigten zur mündlichen Verhandlung freigestellt. Anders als in ihren außergerichtlichen Schreiben an den Beklagten und zur Klagebegründung – als die Klägerin wiederholt nur auf die unterbliebenen Leistungsbewilligungen für Januar 2021 bzw. Oktober 2021 rekurriert hatte – hat die Klägerin dann aber im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung während der mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 ihr Klagebegehren klargestellt und in zeitlicher Hinsicht unmissverständlich auch höhere Leistungen für Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022 unter anspruchserhöhender Berücksichtigung eines COVID-19-Mehrbedarfs vor dem Sozialgericht geltend gemacht.

 

Hieran war die Klägerin durch ihr vorheriges Prozessverhalten gerade nicht gehindert nach Maßgabe der für die Beschränkung von Streitgegenständen allgemein anerkannten Beurteilungsmaßstäbe: Danach kann eine nur teilweise Anfechtung oder eine teilweise Klagerücknahme nur angenommen werden, wenn der Wille des Klägers zur Begrenzung des Streitgegenstands klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen ist. Fehlt es an einer solchen ausdrücklichen Beschränkung, verbleibt es hingegen bei dem Grundsatz, dass ein möglicher (höherer) Anspruch unter jeglichem tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkt streitgegenständlich und vom Gericht zu prüfen ist. Bei der Bestimmung des Klagebegehrens können sowohl der vorgetragene als auch der aktenkundige oder sonst im Verfahren festgestellte Sachverhalt als Anknüpfungspunkt dienen. Indes lässt sich der angegriffene Verwaltungsakt auch ohne bestimmten Antrag und nähere Begründung daraufhin prüfen, ob nach dem aktenkundigen Sachverhalt weitergehende Ansprüche bestehen. Denn der Streitgegenstand (bzw. der vom Kläger erhobene Anspruch) reduziert sich nicht etwa dadurch, dass der Kläger bestimmte Gesichtspunkte geltend macht, die nach seiner Auffassung eine höhere oder längere Leistung rechtfertigen sollen. (Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 123 SGG (Stand: 15.06.2022), Rn. 19, 20, 23).

 

Gemessen hieran verfolgt die Klägerin im Verfahren S 12 AS 2208/22 in zulässiger Weise ihre Rechte in zeitlicher Hinsicht auch wegen der Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022 weiter. Sie hatte zuvor zu keiner Zeit klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, insofern keine höheren Leistungen mehr zu begehren. Namentlich kann dergleichen auch gerade nicht allein daraus geschlussfolgert werden, dass die Klägerin den in ihrem Antragsschreiben vom 01.02.2021 geltend gemachten COVID-19-Mehrbedarf insbesondere für FFP2‑Masken bis zur mündlichen Verhandlung vom 06.06.2023 nicht mehr regelmäßig thematisiert hatte in ihren außergerichtlichen Überprüfungs- bzw. Erinnerungsschreiben an den Beklagten sowie ihren prozessbegleitenden Schriftsätzen an das Vorlagegericht. Überdies stellt der für die Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022 zwischen den Verfahrensbeteiligten umstrittene Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in rechtlicher Hinsicht ohnehin keinen eigenständigen und von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abtrennbaren Streitgegenstand dar (vgl. Eicher/Luik/Harich/S. Knickrehm, 5. Aufl. 2021, SGB II § 21 Rn. 12).

 

Nach alldem macht die Klägerin im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 ihre Klageansprüche in jeder Hinsicht in zulässiger Weise geltend, sodass sich die Entscheidungserheblichkeit der Vereinbarkeit von § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II mit dem Grundgesetz allein im Hinblick auf die Begründetheit der Klage S 12 AS 2208/22 bemisst. Die Begründetheit der Klage S 12 AS 2208/22 würde indes das Sozialgericht Karlsruhe unterschiedlich beurteilen, je nachdem, ob § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß oder als verfassungswidrig erachtet und für nichtig erklärt wird. Es besteht nämlich eine Diskrepanz des Inhalts der durch das Sozialgericht Karlsruhe jeweils hypothetisch zu treffenden Sachentscheidung im Verfahren S 12 AS 2208/22 in Abhängigkeit von der Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Norm. Im hypothetisch ersten Falle der Verfassungsmäßigkeit bzw. Vereinbarkeit von § 70 SGB II würde das Vorlagegericht die Klage S 12 AS 2208/22 als vollständig unbegründet abweisen. Im hypothetisch umgekehrten Falle einer Verfassungswidrigkeit von § 70 SGB II und seiner Nichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht gäbe das Sozialgericht Karlsruhe hingegen der Klage S 12 AS 2208/22 vollumfänglich statt.

 

 

b)

 

Aus nachfolgenden Gründen hätte das Sozialgericht Karlsruhe im hypothetischen Falle der Gültigkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit von § 70 Satz 1 SGB II die Klage S 12 AS 2208/22 als unbegründet abzuweisen.

 

Ggfs. wäre sowohl die auf die teilweise Rücknahme bzw. Abänderung des Ausgangsbescheides vom 06.07.2021 gerichtete und gegen den Überprüfungsbescheid vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 unter Ziff. 1. angekündigte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage unbegründet als auch wie die unter Ziff. 2. angekündigte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage, welche auf die teilweise Rücknahme bzw. Abänderung des Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 gerichtet ist und den diesbezüglichen Überprüfungsbescheid vom 11.05.2022 in dessen Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 08.09.2022 betrifft.

 

Falls das Bundesverfassungsgericht § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II als verfassungskonform erachten würde, könnte die Klägerin nämlich zuvörderst nicht die Aufhebung des Überprüfungsbescheides vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 oder die Verpflichtung des Beklagten zur Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 06.07.2021 und ebenso wenig die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung weiterer Leistungen zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen für den Zeitraum 01.02.2021 bis 30.06.2021 verlangen.

 

Insoweit hätte das Sozialgericht Karlsruhe die Klage nämlich abzuweisen, weil der Beklagte insofern keine eigenen Rechte der Klägerin verletzt hätte. Der diesbezügliche Überprüfungsbescheid des Beklagten vom 11.03.2022 in dessen Fassung durch den Änderungsbescheid vom 02.08.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.08.2022 stellte sich als rechtmäßig dar. Durch seinen Erlass hätte der Beklagte die (wiederholten) Antragsschreiben der Klägerin (u.a. vom 17.11.2021, 22.12.2021 und 01.03.2022) auf Überprüfung des Ausgangsbescheides vom 06.07.2021 zurecht abgelehnt.

 

Diese bereits unanfechtbare Leistungsbewilligung hätte der Beklagte in rechtmäßiger Weise nicht zugunsten der Klägerin zurückgenommen, um ihr nachträglich höheres Alg 2 zu gewähren als er ihr vormals bewilligt hatte. Zu der Rücknahme wäre der Beklagte nicht gemäß § 44 SGB I Satz 1 SGB X verpflichtet gewesen. Dessen Tatbestandsvoraussetzung hätten nicht vorlegen. Der Beklagte wäre bei Erlass des überprüften Ausgangsbescheides vom 06.07.2021 in Bezug auf den COVID-19-Mehrbedarf weder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen noch hätte er das Recht unrichtig angewandt gehabt. Insofern stünden der Klägerin nämlich keine weiteren Leistungen in gesetzlicher Höhe zu, als ihm der Beklagte bereits durch die angefochtenen Bescheide bewilligt hatte. Eben diese Leistungsbewilligung wäre für den Zeitraum 01.02.2021 bis 30.06.2022 als rechtmäßig anzusehen. Die Höhe des durch den Beklagten außergerichtlich bewilligten Alg 2 hätte die subjektive Rechte der Klägerin nicht verletzt, sondern den gesetzlichen Regelungen des SGB II entsprochen.

 

Die Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf höhere Leistungen stellten §§ 19 ff. i.V.m. §§ 7 ff. SGB II dar: Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind und (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhalten nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II Arbeitslosengeld 2. Nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) haben. Die Leistungen umfassen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung (§ 19 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II). Nach § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des SGB XII sowie weiterer Gesetze vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).

 

Nach diesen Beurteilungsmaßstäben wäre die Klägerin zunächst vom 01.02.2021 bis 30.06.2021 dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II, was zwischen den Beteiligten aus nachfolgenden Gründen auch nicht umstritten ist.

 

In formeller Hinsicht hatte die Klägerin bereits den nach § 37 SGB II erforderlichen Leistungsantrag bereits durch ihr Schreiben vom 01.02.2021 mit Eingang beim Beklagten am selben Tag rechtzeitig am 01.02.2021 und damit im Laufe des Bewilligungsmonats Februar 2021 auf für die Folgemonate bis einschließlich Juni 2021 rechtswirksam gestellt.

In materiell-rechtlicher Hinsicht hatte die Klägerin die Altersgrenze für eine Berentung von Alters wegen aus § 7a SGB II i.V.m. Recht der gesetzlichen Rentenversicherung in Anbetracht ihres Geburtsjahres – 1969 – im Jahr 2021 noch (lange) nicht erreicht. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die von der Klägerin genannten Krankheiten bzw. Behinderungen (hier: insbesondere eine Depression und eine Schmerzerkrankung) über gelegentliche Zeiten der Arbeitsunfähigkeit hinaus ein Ausmaß erreichten, welches zu einer Erwerbsminderungsrente berechtigten und an der Erwerbsfähigkeit der Klägerin ernstlich zweifeln ließe (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 SGB II).

 

Sie wäre auch deutsche Staatsangehörige und hätte im Jahr 2021 ihren gewöhnlichen Aufenthalt durchgehend in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Auch anderweitige Gründe für den Ausschluss der Klägerin von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II lägen zwischen Februar 2021 und Juni 2021 nicht vor.

 

In diesen Bewilligungsmonaten wäre die Klägerin nach den übereinstimmenden Rechtsauffassungen der Verfahrensbeteiligten und des Vorlagegerichts auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1 SGB II) gewesen. Die Klägerin war sodann jeweils nicht in der Lage war, ihre grundsicherungsrechtlichen Bedarfe aus eigenem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen vollständig zu decken, weil sie sowohl einkommens- als auch vermögenslos war. Namentlich erzielte die Klägerin insbesondere auch kein Erwerbseinkommen als Inhaberin eines Kosmetiksalons in den heimischen vier Wänden, da sie ihre diesbezüglich beim Gewerbeamt angemeldete Selbständigkeit nie tatsächlich vollzogen hat.

 

Nach den insofern zutreffenden Feststellungen des Beklagten im Verwaltungsverfahren konnte die Klägerin deswegen in keinem der fünf Monate des Bewilligungszeitraums Februar 2021 bis Juni 2021 irgendein Bruttoeinkommen mit dem Vertrieb von Dienstleistungen und Gütern in einem heimischen Kosmetiksalon erzielen, sodass in ihrem Fall ein zur Lebensunterhaltssicherung berücksichtigungsfähiges Einkommen von 0,- € gegeben ist, welches sich naturgemäß nicht leistungsmindernd auf die Höhe ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld 2 auswirkt.

 

Die Klägerin hätte indes im Falle einer Verfassungsmäßigkeit von § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II nur Anspruch auf Alg 2 in der ihr mit dem Bescheid des Beklagten vom 06.07.2021 darin zutreffend bemessenen Höhe. In Ermangelung eines berücksichtigungsfähigen Einkommens oder Vermögens hätte der Beklagte der Klägerin nur den gesetzlichen Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Leistungen für Unterkunft und Heizung in genau der jeweils bewilligten Höhe berücksichtigen müssen. Darüber hinaus hätten der Klägerin keine weiteren Leistungen zugestanden. Insbesondere hätte die Klägerin nicht die Berücksichtigung eines Mehrbedarfes zum Ausgleich ihrer im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemi stehenden Mehraufwendungen beanspruchen können. Im Einzelnen:

 

Den Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts hatte der Beklagten bereits außergerichtlich in der gesetzlich vorgesehenen Höhe von mtl. 446,- € in Ansatz gebracht nach Maßgabe von § 20 Abs. 1 Satz 3 SGB II in seiner jeweils maßgeblichen Fassung. Danach war 2021 der Regelbedarf als mtl. Pauschalbetrag zu berücksichtigten. Der pauschalierte Regelbedarf war indes unter Anwendung von § 21 Abs. 1a Satz 1 SGB II in Höhe der jeweiligen Regelbedarfsstufe entsprechend § 28 des Zwölften Buches i.V.m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz und den §§ 28a und 40 des Zwölften Buches i.V.m. der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung anzuerkennen. Soweit 2021 in dem SGB II auf einen Regelbedarf oder eine Regelbedarfsstufe verwiesen wurde, war § 20 Abs. 1a Satz 2 SGB II zufolge auf den Betrag der für den jeweiligen Zeitraum geltenden Neuermittlung entsprechend § 28 des Zwölften Buches (SGB XII) i.V.m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) abzustellen. In Jahren wie 2021, in denen keine Neuermittlung nach § 28 SGB XII erfolgt, war auf den Betrag abzustellen, der sich für den jeweiligen Zeitraum entsprechend der Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung nach den §§ 28a und 40 SGB XII ergibt (vgl. § 20 Abs. 1a Satz 4 SGB II). § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II bestimmte 2021, dass als Regelbedarf bei Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren Partnerin oder Partner minderjährig ist, mtl. ein Betrag in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt werde. Zulelzt waren indes die Regelbedarfe durch das RBEG 2021 (BGBl I 2020, 2855) auf der Grundlage der EVS 2018 für das Jahr 2018 neu ermittelt und entsprechend der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII i.V.m. § 7 RBEG 2021 fortgeschrieben worden. Im hier betroffenen Zeitraum (01.02.2022 bis 30.06.2021) war danach in der für die volljährige alleinstehende Klägerin Regelbedarfsstufe 1 maßgeblich und ein Betrag von mtl. 446 € anzusetzen (vgl. Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 20 (Stand: 08.02.2021), Rn. 117_1). Da der Beklagte eben diesen Regelbedarfs-Betrag mit den angefochtenen Bescheiden für alle fünf Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 zugrunde gelegt hat, erwiese sich die Leistungsberechnung des Beklagten in Bezug auf die Gewährung des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts als rechtmäßig.

 

Neben diesen Regelbedarfsleistungen hätte der Beklagte auch die Leistungsansprüche der Klägerin für Unterkunft und Heizung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorgaben zutreffend bestimmt. Bedarfe für Unterkunft und Heizung wurden gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nämlich 2021 in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Gemessen an diesen Gesetzesvorgaben verletzten die angefochtenen Bescheide des Beklagten auch in Bezug auf Leistungen für Unterkunft und Heizung keine eigenen Rechte der Klägerin und wären insofern ebenfalls rechtmäßig. Diesbezüglich hätte der Beklagte durch die angefochtenen Bescheide zurecht die Hälfte der Unterkunfts- und Heizkosten der – sodann nur noch durch sie selbst und ihre schwerbehinderte Tochter genutzten – Mietwohnung anerkannt. Das hierbei zugrunde gelegte sog. Kopfteilprinzip entspricht der allgemeinen Rechtsauffassung (Bundessozialgericht, 25.04.2018, B 14 AS 14/17 R; Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 22 (Stand: 06.02.2023), Rn. 84), zumal hier die andere (bzw. zweite) Hälfte derselben Gesamtmietwohnungskosten bereits vom örtlich zuständigen Sozialamt als grundsicherungsrechtlicher Bedarf der im Sozialhilfebezug nach dem SGB XII stehenden Tochter der Klägerin  (grundsicherungsleistungserhöhend) berücksichtigt wurden, die Verfahrensbeteiligten im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 bislang mit keinem Wort über die Höhe der Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung gestritten haben und wegen der Bemessung der Leistungen für Unterkunft und Heizung der Klägerin in eben dieser Höhe auch für das angerufene Sozialgericht keine Fehler des Beklagten bei der Rechtsanwendung von Amts wegen ersichtlich sind.

 

Zusätzlich zu den danach bereits in zutreffender Höhe gewährten Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie den in gesetzlicher Höhe ohne Einkommens- oder Vermögensanrechnung bewilligten und ausgezahlten Leistungen nach Maßgabe der für Arbeitsuchende günstigsten Regelbedarfsstufe 1 hätte der Beklagte im hypothetischen Falle der Verfassungskonformität und Rechtsgültigkeit von § 70 Satz 1 SGB II n.F. keine anspruchserhöhenden Leistungen für Mehrbedarfe zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen der Klägerin regelbedarfsanspruchserhöhend berücksichtigen müssen. Die diesbezüglich in den angefochtenen Bescheiden erfolgte Leistungsablehnung des Beklagten wäre insofern ebenfalls rechtmäßig und verletzte die Klägerin aus nachfolgenden Gründen nicht in ihren Rechten.

 

Ein solcher Anspruch auf leistungserhöhende Berücksichtigung ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stünde der Klägerin im Zeitraum 01.02.2021 bis 30.06.2021 nicht zu. Als Rechtsgrundlage käme hierfür allein die sogenannte Härtefallklause in § 21 Abs. 6 SGB II in Betracht. Deren Voraussetzungen wären aber nicht erfüllt.

 

Nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II wird bei Leistungsberechtigten zwar ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht (Halbs. 1); bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Abs. 1 SGB II ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist (Halbs. 2).

 

Gemessen hieran scheiterte ein Anspruch der Klägerin auf den von ihr geltend gemachten COVID-19-Mehrbedarf für die Anschaffung von Hygieneartikeln, insbesondere in Gestalt von FFP2-Masken, auf der Grundlage von § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II, falls das Bundesverfassungsgericht § 70 Satz 1 SGB II als verfassungskonform ansehen sollte und die darin durch den Gesetzgeber vorgenommene Sonderregelung als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt würde.

 

Eben dies wurde in allen obergerichtlichen Entscheidungen anlässlich der Geltendmachung eines Mehrbedarfs zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen von der obergerichtlichen Rechtsprechung der Landessozialgerichtbarkeiten einhellig erkannt, soweit dies zum Zeitpunkt dieses Vorlagebeschlusses aufgrund bereits veröffentlichter Gerichtsentscheidungen ersichtlich ist (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.12.2020, - L 7 AS 1634/18; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 03. Mai 2021 – L 9 AS 534/21 ER-B; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 07. Mai 2021 – L 9 AS 158/21 B ER, Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Juli 2021 – L 7 AS 846/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Mai 2021 – L 7 AS 567/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.05.2021 - L 21 AS 525/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 19.04.2021 - L 19 AS 391/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 29.03.2021 - L 12 AS 377/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 03.03.2021 - L 9 SO 18/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Mai 2021 – L 7 AS 593/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06. Mai 2021 – L 6 AS 527/21 B ER, L 6 AS 528/21 B; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.03.2021 - L 13 AS 125/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. April 2021 – L 7 AS 429/21 B ER; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. März 2021 – L 6 AS 43/21 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. April 2021 – L 7 AS 498/21 B ER, L 7 AS 499/21 B; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.08.2021 – L 21 AS 1125/21 B; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Februar 2022 – L 19 AS 1236/21 –, Rn. 43, juris).

 

Nach dieser einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung der Landessozialgerichte läge zwar ein „besonderer Bedarf“ im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II vor (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Februar 2022 – L 19 AS 1236/21 –, Rn. 46 ff., juris). Jedoch scheiterte die Subsumtion des COVID-19-Mehrbedarfs ggfs. an den beiden gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen aus § 21 Abs. 6 SGB II, wonach die Anerkennung des Mehrbedarfs einen "im Einzelfall "unabweisbaren Bedarf" erfordere. Dieser Anspruchsvoraussetzung wäre nämlich unter normativer Mitberücksichtigung der gesetzgeberischen Entscheidung in § 70 Satz SGB II n.F. nicht Genüge getan. Die Infektionsschutzmaßnahmen des Bundes und der Länder zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie begründeten im Falle der Rechtswirksamkeit von § 70 Satz 1 SGB II gerade keinen „im Einzelfall unabweisbaren Bedarf“ im Sinne von § 21 Abs. 6 SGB II. Vielmehr hätte der Gesetzgeber sogar zum generellen Ausgleich aller aus Anlass der COVID-19-Pandemie für jedermann entstandenen Mehraufwendungen in § 70 Satz SGB II n.F. eine Einmalzahlung von 150,- € für alle Arbeitsuchenden der Regelbedarfsstufe 1 beschlossen. Unter Zugrundelegung der darin zum Ausgleich für den Corona-Mehrbedarf vorgesehenen generell beanspruchbaren Einmalzahlung in Höhe von 150,- € sei namentlich auch der aus den Coronaschutzverordnungen ergebende Bedarf an Mund-Nasen-Bedeckungen zu befriedigen gewesen, zumal Arbeitsuchende aufgrund der Erweiterung der Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung vom 14.12.2020 einen Anspruch auf einmalig zehn kostenfreie FFP2-Masken oder vergleichbare Masken hatten (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Februar 2022 – L 19 AS 1236/21 –, Rn. 57, juris). Unter Berücksichtigung all dessen gäbe es nach der einhelligen landessozialgerichtlichen Rechtsprechung ggfs. kein außergewöhnliches und erhebliches Abweichen des individuellen Bedarfes des betroffenen Leistungsberechtigten vom durchschnittlichen Bedarf aller Hilfsbedürftigen im Sinne des SGB II im Einzelfall. Umgekehrt begründeten derartige Mehrausgaben aus Anlass der Covid-19-Pandemie gleichermaßen einen Bedarf für alle Hilfebedürftigen im Sinne des SGB II (stellvertretend für viele: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Februar 2022 – L 19 AS 1236/21 –, Rn. 50 f., juris).

 

Auch die Klägerin des Verfahrens S 12 AS 2208/22 beriefe sich im hypothetischen Fall der Verfassungsmäßigkeit von § 70 Satz 1 SGB II gerade nicht auf das Vorliegen eines „im Einzelfall unabweisbaren Bedarfs“ im Sinne der gerade zitierten landessozialgerichtlichen Rechtsprechung zu § 21 Abs. 6 SGB II. Vielmehr macht die Klägerin ausschließlich eben solche Mehraufwendungen geltend, die im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie allgemein anfielen und andere Hilfsbedürftige im Sinne des SGB II durchschnittlich ebenso betrafen wie sie persönlich. Dass die Klägerin in größerem Umfang zum Tragen einer FFP2-Maske verpflichtet oder hierauf angewiesen wäre als die übrige Bevölkerung, ist für das Sozialgericht Karlsruhe auch von Amts wegen aus dem Inhalt der beigezogenen und sehr umfangreichen Aktenvorgänge des Beklagten und denen des Prozessgerichts nicht ersichtlich. Dergleichen hat die Klägerin auch weder außergerichtlich noch gerichtlich vorgetragen. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass der COVD-19-Bedarf der Klägerin allein wegen ihres Zusammenlebens mit ihrer geistig schwer behinderten Tochter oder einer tatsächlichen Inbetriebnahme des heimischen Kosmetiksalons erheblich erhöht gewesen wäre.

 

Im Falle der Verfassungskonformität von § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II stünde also nach der einheitlichen landessozialgerichtlichen Rechtsprechung die vorgelegte Vorschrift des § 70 Satz 1 SGB II einer behördlichen Ergänzung der Regelbedarfsleistungsbewilligung nach § 21 Abs. 6 SGB II für den im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 im Klageantrag zu Ziff. 1. streitbefangenen Zeitraum vom 01.02.2021 bis 30.06.2021 entgegen. Das dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Gesetz sähe ausdrücklich vor, dass während dessen sechsmonatigen Abgeltungszeitraums von Januar 2021 bis Juni 2021 zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen nur eine Einmalzahlung im Mai 2021 zu leisten sei. Demgemäß wären im Umkehrschluss zu § 70 Satz 1 SGB II zum Ausgleich der innerhalb desselben sechsmonatigen Zeitraums mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen nicht laufend höhere Leistungen unter Anerkennung monatlicher COVID-19-Mehrbedarfe nach § 21 Abs. 6 SGB II zu gewähren gewesen. Im Falle einer Vereinbarkeit der Neuregelung in § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II mit der Verfassung könnte die Klägerin also für keinen der bereits durch § 70 Satz 1 SGB II kraft Gesetzes abgegoltenen Bewilligungsmonate Februar 2021 bis Juni 2021 die regelbedarfsanspruchserhöhende Anerkennung eines COVID-19-Mehrbedarfa beanspruchen. Folglich wäre der am 06.06.2023 unter Ziff. 1. gestellte Klageantrag der Klägerin als unbegründet abzuweisen, denn der Beklagte hätte mit den darin angefochtenen Bescheiden zurecht nicht mehr gewährt als die gesetzlich eingeführte Einmalzahlung im Mai 2021 (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Mai 2021 – L 7 AS 567/21 B ER –, Rn. 12, juris).

 

In dem hier weiterhin hypothetisch maßgeblichen Fall, dass § 70 Satz 1 SGB II n. F. für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 die Gewährleistung des Existenzminimums in einer den allgemeinen Gleichheitssatz achtenden Weise sicherstellen und demgemäß durch das Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt würde, stünde diesem Zwischenergebnis auch nicht die Möglichkeit entgegen, wegen des Ausgleichs der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie parallel sowohl die gesetzliche Neuregelung zur Einmalzahlung aus § 70 Satz 1 SGB II als auch die „Härtefallklausel“ aus § 21 Abs. 6 SGB II im Wege der ergänzenden Anerkennung monatlich laufender Mehrbedarfe anzuwenden.

 

Gegebenenfalls wäre § 21 Abs. 6 SGB II nämlich keiner dezidiert verfassungskonformen Auslegung zugänglich, wonach erst durch seine ergänzende Anwendung die Grundrechte der Klägerin gewahrt würde.

 

Es ist zwar verfassungsgerichtlich geklärt, dass von mehreren Möglichkeiten der Auslegung eines Parlamentsgesetzes diejenige geboten ist, die zu einem Auslegungsergebnis im Einklang mit dem vorrangigen Grundgesetz führt. Dies gilt namentlich auch für Regelungen des SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen. Derartige Regelungen sind verfassungskonform auszulegen, wenn die Gefahr einer Bedarfsunterdeckung im Einzelfall besteht (BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, BVerfGE 137, 34 Rn. 116;).

 

Wenn jedoch die Gefahr einer Bedarfsunterdeckung in Bezug auf Grundsicherungsleistungen zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie stehende Mehraufwendungen schon wegen des hier hypothetisch maßgeblichen Falles ihrer verfassungskonformen Deckung durch § 70 Satz 1 SGB II nicht bestünde, läge auch kein Anwendungsfall für eine dezidiert verfassungskonforme Auslegung von § 21 Abs. 6 SGB II vor.

 

In dem hier hypothetisch maßgeblichen Fall der Verfassungskonformität von § 70 Satz 1 SGB II dürfte das Konkurrenzverhältnis dieser Neuregelung zur Härtefallklausel in § 21 Abs. 6 SGB II von den Rechtsanwendern in Behörden und Gerichten gerade nicht einschränkend dergestalt interpretiert und angewandt werden, dass die Verabschiedung von § 70 Satz 1 SGB II der Anwendbarkeit von § 21 Abs. 6 SGB II in Bezug auf die Anerkennung eines Mehrbedarfs zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie für den Abgeltungszeitraum Januar 2021 bis Juni 2021 nicht entgegenstünde.

 

Eine derartige Auslegung widerspräche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach ist eine verfassungskonforme Auslegung nur möglich, wenn der Wortlaut des Gesetzes, seine Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck eine solche überhaupt zulassen. Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung endet dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch träte. Anderenfalls könnten die Gerichte der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen oder diese unterlaufen. Das Ergebnis einer verfassungskonformen Auslegung muss demnach nicht nur vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein, sondern auch die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahren. Das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden (BVerfG, 16.12.2014, 1 BvR 2142/11 - juris Rn. 86 m.w.N.).

 

Gemessen an diesen Beurteilungsmaßstäben darf § 70 Satz 1 SGB II nicht dergestalt einschränkend und verfassungskonform ausgelegt werden, dass seine Verabschiedung der Anwendbarkeit von § 21 Abs. 6 SGB II nicht entgegenstünde. Ein derartiges Verständnis von § 70 SGB II wäre nicht mehr als Auslegung des gesetzgeberischen Willens anzusehen, sondern würde dessen Willen sehenden Auges unterlaufen. Nach dem Willen des Gesetzes soll § 70 SGB als speziellere Rechtsnorm die allgemeinere Rechtsnorm des § 21 Abs. 6 SGB II verdrängen. Wegen der zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen soll der eigens hierfür verabschiedete § 70 Satz 1 SGB II abschließend sein. Wenn dessen Voraussetzungen nicht gegeben sind, soll zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen kein Rückgriff auf die allgemeine „Härtefallklausel“ in § 21 Abs. 6 SGB II erfolgen können. Ein anderes Verständnis von § 70 SGB II würde den bewussten Wertentscheidungen des Bundesgesetzgebers bei der Einführung dieses Gesetzes zuwiderlaufen.

 

Zwischen § 70 Satz 1 SGB II und § 21 Abs. 6 SGB II besteht eine Gesetzeskonkurrenz, weil beide Gesetze denselben Lebenssachverhalt betreffen, und § 70 SGB II hierbei die sachnähere Regelung trifft als § 21 Abs. 6 SGB II. Korrekt ausgelegt betrifft § 70 SGB II insofern denselben Lebenssachverhalt wie § 21 Abs. 6 SGB II, als dass beide die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums an volljährige erwerbsfähige alleinstehende arbeitsuchende Menschen in existentieller Not regeln. Zugleich ist § 70 SGB II insofern spezieller, als er eine sachnähere Regelung trifft für die zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen, während § 21 Abs. 6 SGB II als „Härtefallklausel“ viel allgemeiner gefasst ist und sämtliche Mehrbedarfe des Einzelfalls umfassen kann, soweit sie unabweisbar und besonders im Sinne der Norm sind.

 

Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass gerade kein Fall einer Gesetzeskonkurrenz bestehe, weil nur § 21 Abs. 6 SGB II eine existenzsichernde Funktion zukomme, nicht aber § 70 SGB II. Der Einmalzahlung von 150,- € ihre existenzsichernde Funktion abzusprechen, widerspräche

  • dem Wortlaut der Norm;
  • der Entstehungsgeschichte der Norm;
  • dem Gesetzeszusammenhang der Norm;
  • dem Sinn und Zweck der Norm.

 

Im Einzelnen:

 

Nach dem Wortlaut von § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II und des ihn verabschiedenden Parlamentsgesetzes dient die Einmalzahlung der Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erwachsener alleinstehender erwerbsfähiger Menschen aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem Allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG.

 

Dies ergibt sich sowohl aus der im SGB II als § 70 Satz 1 SGB verankerten Anspruchsgrundlage selbst als auch dem Titel desjenigen Parlamentsgesetzes, mit dem die Norm in das SGB II eingeführt worden ist.

 

Der Titel des wegen der Einmalzahlung verabschiedeten Parlamentsgesetzes lautet:

 

Gesetz zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III)“.

 

Dieser Gesetzesbezeichnung zufolge dient die Einmalzahlung von 150,- € ausdrücklich dazu, die Gewährleistung des Existenzminimums anlässlich der COVID-19-Pandemie anzupassen, weil der Begriff der Grundsicherung als Synonym des Begriffs „Existenzsicherung“ zu verstehen ist.

 

§ 70 Satz 1 SGB II regelt seinem Wortlaut zufolge die

zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen

von

Leistungsberechtigten, die für den Monat Mai 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben und deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet“.

 

Diese Formulierung des Gesetzes bringt die Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck, mithilfe der Einmalzahlung die Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums sicherzustellen. Ihr liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass diejenigen Menschen, die als leistungsberechtigte Empfänger von Arbeitslosengeld 2 bzw. Sozialgeld ohnehin zur Gewährleistung ihres Existenzminimums auf staatliche Fürsorge angewiesen sind, im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie mehr Aufwendungen tätigen müssen, als sie ohne das Infektionsgeschehen tätigen müssten.

 

Zudem drückt die finale Formulierung „zum Ausgleich“ die Vorstellung des Gesetzgebers aus, durch die Gewährleistung der Einmalzahlung von 150,- € eben diese mehraufwendungsbedingte Lücke in der Existenzsicherung im Wege einer neuen existenzsichernden Geldleistung zu decken.

 

In Anbetracht dieser Formulierungen kommt die rechtswissenschaftliche Literatur nicht um die Feststellung umhin, dass die ausdrückliche Zweckbestimmung im Wortlaut des Gesetzestextes von § 70 Satz 1 SGB, wonach die Leistung dem „Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen“ diene, bei ihrer unvoreingenommenen Lektüre dafürspreche, sie als existenzsichernde Leistung zu erachten (Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021), Rn. 15).

 

Auch nach entstehungsgeschichtlicher Betrachtungsweise wollte der Gesetzgeber ausweislich seiner Gesetzesbegründung durch die Verabschiedung von § 70 SGB II das Existenzminimum gewährleisten.

 

Der Gesetzesbegründung der Neuregelung in § 70 Satz 1 SGB II zufolge wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass eben solche Bedarfe gedeckt werden, welche vom existenzsichernden Regelbedarf aus § 20 SGB II umfasst sind, aber unter den pandemiebedingt veränderten Lebens-, Einkommens- und Verbrauchsverhältnissen im Falle von Menschen in existentieller Notlage nicht mehr gedeckt werden können, weil keine rechtzeitige Regelbedarfsanpassung an die sich ändernden Verhältnisse erfolgte. Aufgrund der Gesetzesbegründung bestehen keine Zweifel daran, dass der Gesetzgeber selbst bei der Verabschiedung des Gesetzes am 10.03.2021 bereits wusste, dass die an die Pandemie nicht angepasste Höhe der Regelbedarfe nicht mehr ausreichte und es infolgedessen eines ergänzenden Anspruchs zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen bedurfte. Über dieses Wissen und diesen Willen verfügte der Gesetzgeber nicht nur eingedenk der sachverständig gegenüber dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales erteilten und oben auszugsweise zusammengefassten Auskünfte, wonach die Bedarfslücke mtl. 100,- € umfasste. 

 

Daneben hat der Gesetzgeber auch in seiner Gesetzesbegründung für die Neuregelung in § 70 SGB II bewusst ausgeführt, dass er durch eine zusätzliche Einmalzahlung solche Bedarfspositionen abdecken will, die vom existenzsichernden Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II umfasst werden sollen, aber unter Pandemiebedingungen tatsächlich nicht mehr abgedeckt werden. Dies ergibt sich aus Ausführungen in der Gesetzesbegründung, wonach das Gesetz verabschiedet werde, weil es Leistungsberechtigten wegen der unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie teilweise nur unter erschwerten Bedingungen möglich gewesen sei, für diese Belastungen Vorsorge zu treffen, und sich zusätzliche finanzielle Belastungen z. B. ergeben hätten aus der Notwendigkeit, Schnelltests auf eigene Kosten durchzuführen, um ältere Verwandte besuchen zu können oder aus der Versorgung mit nötigen Hygieneprodukten und Gesundheitsartikeln, und, weil weitere Zusatzbelastungen z. B. durch Ausgaben für die häusliche Freizeitgestaltung, insbesondere für Familien mit Kindern, entstanden seien (BT-Drs. 19/26542, S. 19.).

 

Die einschlägige rechtswissenschaftliche Literatur teilt einhellig die Einschätzung, wonach die Entstehungsgeschichte für eine existenzsichernde Funktion von § 70 Satz 1 SGB II spricht.

 

So hat Blüggel zufolge der Gesetzgeber aus Anlass der Covid-Pandemie der Gefahr einer Unterdeckung existenznotwendiger Bedarfe durch die Einmalzahlung aus § 70 SGB II begegnen wollen (Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 5). Er führt ferner aus, die Entstehungsgeschichte spreche dafür, dass der Gesetzgeber innerhalb des zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereiches des § 70 SGB II die pandemiebedingten Mehraufwendungen über § 70 SGB II umfassend und abschließend ausgleichen wollte (Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 23).

 

Auch Harich meint, die Begründung des Gesetzentwurfs sei anscheinend so zu verstehen, dass § 70 SGB II die Aufwendungen für notwendige persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens ausgleichen soll, für die eine Vorsorge nicht möglich war (BeckOK SozR/Harich, 63. Ed. 1.12.2021, SGB II § 70 Rn. 3). Dementsprechend geht Harig davon aus, der Gesetzgeber beabsichtige mit der Einfügung der Einmalzahlung zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen in § 70 Satz 1 SGB II erkennbar, verfassungsrechtlichen Bedenken zu begegnen (BeckOK SozR/Harich, 63. Ed. 1.12.2021, SGB II § 70 Rn. 1).

 

Drescher nimmt ebenfalls an, die Einmalzahlung nach § 70 Satz 1 SGB II erfülle eine existenzsichernde Funktion (Drescher, Einmalig 150 Euro sind zu wenig, SozSich 2021, 133).

 

Auch Leopolds Ausführungen dürften implizieren, dass er von einem existenzsichernden Charakter der Einmalzahlung überzeugt ist, da ihm zufolge das sogenannte „Sozialschutzpaket III“ verdeutliche, dass die parlamentarische Demokratie durchaus in der Lage sei, den von Grundsicherungsleistungen abhängigen Personen eine helfende Hand zu reichen, um die Pandemiesituation wenigstens in wirtschaftlicher Hinsicht erträglicher zu machen (Leopold, Sozialschutzpaket III – ein weiterer Schritt zur Abfederung der Covid-19-Pandemie, jM – juris Monatszeitschrift, 2021, 200, 202).

 

Deutlich impliziert auch Lenze ihre Annahme, wonach die Einmalzahlung der Gewährleistung des Existenzminimums diene, indem sie ausführt, dass der im Mai 2021 an erwachsene Grundsicherungsempfänger ausgezahlte Corona-Bonus in Höhe von 150,- € (nur) einen Teil der Corona-bedingten Mehrkosten für die zurückliegenden 14 Pandemie-Monate kompensiere, und, dass Vieles dafür spreche, dass die Einmalzahlung dafür zu niedrig gewesen sei (Lenze, Verfassungsrechtliches Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022, 30.09.2021, zuletzt aufgerufen am 19.01.2022 unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armut_abschaffen/doc/Kurzgutachten_Lenze_09.2021.pdf, m.w.N.).

 

Henneke merkt ausdrücklich an, dass die Schaffung einer Regelung für pandemiebedingten Mehrbedarf in den Grundsicherungssystemen verfassungsrechtlich geboten gewesen sein dürfte (Henneke, Pandemiegedingte Einmalzahlung im SGB XII verstößt gegen Aufgabenübertragungsverbot, ZG – Zeitschrift für Gesetzgebung, 2021, 130-144).

 

Soweit teilweise einerseits zur Kenntnis genommen wird, dass der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung ausdrücklich auf bestimmte pandemiebedingte Bedarfssituationen rekurriere, aber andererseits zugleich (im Widerspruch hierzu) vorgebracht wird, § 70 SGB käme keine existenzsichernde Funktion zu, (vgl. Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie), wird nicht erwogen, bei der Gesetzesinterpretation auch der entstehungsgeschichtlich eindeutigen Perspektive Bedeutung einzuräumen.

 

An anderer Stelle wird hingegen sinngemäß vertreten, § 70 SGB II wäre deswegen verfassungskonform, weil der Gesetzgeber durch dieses Gesetz keine unmittelbar existenzsichernde Leistung habe schaffen wollen, da der Gesetzgeber andernfalls, d. h. wenn die Einmalzahlung der Sicherstellung tatsächlich der verfassungsgerichtlichen Ausgestaltung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dienen sollte, die Leistungsgewährung bedarfserhöhend konzipieren, den Betrag von 150,- € statistisch-empirisch begründen und den Gesetzeswortlaut ohne eine insofern irreführende Zweckbestimmung, welche eine existenzsichernde Funktion nahelegt, formulieren müssen hätte (wohl so zu verstehen: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021)). Eine derartige Argumentationskette stellte aber einen unzulässigen Zirkelschluss dar. Die vermeintliche Verfassungskonformität eines Gesetzes kann nicht darauf gestützt werden, dass der Gesetzgeber sich durch dessen Formulierung, Gesetzesbegründung und Regelungszusammenhang dermaßen offenkundig über verfassungskräftige Bindungen hinweggesetzt hätte, dass dies von Verfassungswegen nicht zu beanstanden sei, weil der Gesetzgeber andernfalls wohl bewusst verfassungswidrig gehandelt hätte. Verfassungspraktisch liegen die Dinge viel einfacher als Groth meint: Der Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung des „Sozialschutz-Paket III“ die hinlänglich erkannten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts schlechterdings bewusst gröblich außer Acht gelassen. Denn nach der sozialrichterlichen Berufserfahrung ist es gerade nicht lebensfern, dass auch mal wahr sein kann, was nicht wahr sein darf.

 

Auch unter systematischen Gesichtspunkten handelt es sich bei § 70 SGB II um ein Gesetz mit existenzsichernder Funktion.

 

Das Gesetz knüpft den Anspruch auf die Einmalzahlung ausdrücklich an das Bestehen eines Anspruchs auf solche Leistungen, die ihrerseits ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten sollen. § 70 SGB II ist nämlich akzessorisch zum Bestehen eines Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 bis 3 SGB II, § 20 Abs. 1a Satz 2, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 SGB II. Die Anwendbarkeit von § 70 Satz 1 SGB II setzt ausdrücklich die Berechtigung zu Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem zweiten Abschnitt des Dritten Kapitel des SGB II bzw. gemäß §§ 19 bis 34c SGB II voraus. Der Anwendungsbereich der Einmalzahlung beschränkt sich nach § 70 Satz 1 SGB II wörtlich auf

 

Leistungsberechtigte, die für den Monat Mai 2021 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben und deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet“.

 

§ 70 SGB II verweist dergestalt auf § 20 Abs. 1a Satz 2, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 SGB II sowie auf § 19 Abs. 1 Satz 1 bis 3 SGB II. Die Leistungsberechtigten mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld im Sinne des § 70 Satz 1 SGB II werden von § 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II bestimmt, wobei gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II beide Leistungen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung umfassen. Die Regelbedarfsstufe 1 wird indessen in § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II und die Regelbedarfsstufe 2 in § 20 Abs. 4 SGB II geregelt, wobei für beide Regelbedarfsstufen § 20 Abs. 1a Satz 2 SGB II klarstellt, dass der Regelbedarf in Höhe der jeweiligen Regelbedarfsstufe nach den jeweils geltenden Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzen bzw. Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnungen anerkannt wird. Aufgrund all dessen knüpft § 70 SGB II nach seinem Regelungszusammenhang unbedingt an die Berechtigung zu Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 19 bis 34c SGB II an. Deren existenzsichernde Funktion folgt bereits aus ihrer Bezeichnung in § 1 Abs. 3 Ziff. 3 i.V.m. §§ 19 ff – 34c SGB II. Außerdem bestimmen § 1 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 1 Abs. 3 Ziff. 3 es ausdrücklich zum Ziel der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, es Leistungsberechtigten zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Eingedenk dieses Regelungszusammenhangs stellt § 70 Satz 1 SGB II unzweifelhaft eine gesetzliche Vorschrift dar, welche das menschenwürdige Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG gewährleisten soll.

 

Systematisch betrachtet soll § 70 Satz 1 SGB II damit die Höhe der Existenzsicherung an die unter den pandemiebedingt veränderten Lebens-, Verbrauchs-, Einkommens- und Ausgabenbedingungen anpassen. Diese veränderten Bedingungen erfordern wegen der bis zur EVS 2023 unterlassenen Überarbeitung der Regelbedarfs-Ermittlungsgesetze bzw. Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnungen die Anerkennung eines Corona-Mehrbedarfs von Verfassungs wegen.

 

Die systematische Nähe von § 70 SBG II zur Bestimmung des Regelbedarfs und der zur Sicherung des Existenzminimums in besonders gelagerten Einzelfällen eines unabweisbaren Mehrbedarfs im Wege der Härtefallvorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II wird auch in der wissenschaftlichen Literatur bejaht (vgl. Knickrehm in: Gagel, SGB II/SGB III, Werkstand: 83. EL August 2021, SGB II § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie).

 

Überdies spricht für die existenzsichernde Funktion von § 70 SGB II, dass im Recht der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ als dem Existenzsicherungsrecht schlechthin jegliche Leistungen systemfremd wären, welche keinen existenzsichernden Charakter haben. Vormalige Regelungen ohne eine solche existenzsichernde Funktion im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind im Nachgang zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 im Verfahren 1 BvL 1/09 entsprechend den verfassungsgerichtlich erkannten Maßstäben ersatzlos außer Kraft gesetzt worden. Dies trifft auf den befristeten Zuschlag nach dem Bezug von Arbeitslosengeld gemäß § 24 SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung ebenso zu wie auf die zusätzliche Leistung für die Schule nach § 24a SGB II in seiner bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung.

 

Systematisch betrachtet folgt die existenzsichernde Funktion von § 70 Satz 1 SGB II schließlich daraus, dass der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des ihn einführenden

 

Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III)

 

vom 10.03.2021 mit Wirkung vom 01.04.2021 inhaltsgleiche Regelungen auch für alle (drei) übrigen Systeme existenzsichernder Leistungen geschaffen hat, nämlich

  • für das Recht der Sozialhilfe durch Art. 2 Ziff. 4. „Sozialschutz-Paket III“ in § 144 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII);
  • für das Recht der Asylbewerberleistungen durch Art. 5 „Sozialschutz-Paket III“ in § 3 Abs. 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG);
  • für das Recht der Kriegsopferfürsorge durch Art. 3 Ziff. 3 „Sozialschutz-Paket III“ in § 88d Bundesversorgungsgesetz (BVG).

 

Hierauf rekurriert auch Leopold, wenn er im Rahmen einer systematischen Betrachtungsweise davon ausgeht, dass § 70 SGB II eine existenzsichernde Funktion erfüllt, weil der Gesetzgeber bei dessen Schaffung zugleich einen allgemeinen pandemiebedingten Zusatzbedarf unterstellt zugunsten aller Empfänger von Leistungen der vier verschiedenen Grundsicherungssysteme nach dem SGB II, dem SGB XII, dem BVG und dem AsylbLG (vgl. Leopold, Sozialschutzpaket III – ein weiterer Schritt zur Abfederung der Covid-19-Pandemie, JM – juris Monatszeitschrift, 2021, 200, 201, juris).

 

Schließlich kommt § 70 Satz 1 SGB II auch nach seinem objektiven Sinn und Zweck eine existenzsichernde Funktion zu.

 

Objektiv betrachtet trägt die Einmalzahlung dazu bei, das Existenzminimum von Menschen zu gewährleisten, welche die mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen nicht mit eigenen Mitteln decken können und deswegen auf staatlichen Schutz und Fürsorge angewiesen sind. Die Gründe hierfür sind weiter unten im Zusammenhang mit der evident unzureichend hoch bemessenen Leistungshöhe der Einmalzahlung auszuführen (dazu sogleich unter: Ziff. II. 6. C) b)). Da sogar die einmalig gezahlten 150,- € voraussichtlich verfassungswidrig niedrig bemessen waren, wäre es mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erst recht unvereinbar gewesen, wenn der Gesetzgeber aus Anlass der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen anstelle der Einmalzahlung von nur 150, € eine noch geringere oder gar keine existenzsichernde Zusatzleistung zugunsten der Menschen in existentieller Not eingeführt hätte.

 

Auch Gilsbach zufolge komme der Einmalzahlung von 150,- € im Mai 2021 aus § 70 SGB II ein objektiv existenzsichernder Zweck zu. Sie meint, der Regelbedarf nach dem SGB II reiche nicht aus, damit sich Menschen im Bezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit ausreichend FFP2-Masken versorgen könnten, ohne dass hierdurch ihr menschenwürdiges Existenzminimum unterschritten würde. Ihr zufolge seien mehr Geldleistungen nicht nur notwendig gewesen zum Schutz der Gesundheit der Leistungsempfänger selbst sowie Dritter, sondern auch, zwecks – im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG – gleichen Gewährleistung ihrer weiteren Grundrechte, welche durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, insbesondere durch den „Lockdown“, eingeschränkt worden seien (Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386).

 

Auch Groth erkennt sinngemäß an, dass der Gesetzgeber die einfachgesetzliche Ausgestaltung des verfassungskräftigen Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nach seinem objektiven Sinn und Zweck bedarfserhöhend bzw. bedürftigkeitsauslösend konzipieren müssen hätte, um zu verhindern, dass die existenzsichernden Leistungen das erforderliche Maß ggfs. unterschreiten, was hier indes als „Entstehen von Abbruchkanten“ verharmlost wird [Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021), Rn. 15).

 

Richtiger Weise ist der Gesetzgeber unter den pandemiebedingt veränderten Lebens-, Einkommens- und Ausgabenverhältnisse auch von Verfassungs wegen verpflichtet gewesen, der Sondersituation in Gestalt der COVID-19-Pandemie zu begegnen (a.A. Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie). Der Gesetzgeber muss fortwährend sicherstellen, dass das Existenzminimum gedeckt ist. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 125, 175 (223 f); BVerfGE 132, 134 (160)). Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen (BVerfGE 152, 68, juris, Rn. 120). Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Methode zur Ermittlung von Bedarfen und zur Bestimmung von Leistungshöhen verändert nicht die grundrechtlichen Maßstäbe; diese sind in jedem Fall gleichermaßen zu beachten. Daher darf bei der Bestimmung der konkreten Leistungen zur Existenzsicherung keine Methode gewählt werden, die Bedarfe von vornherein ausblendet, wenn diese ansonsten als existenzsichernd anerkannt worden sind (BVerfGE 132, 134 (163)). Die Anforderungen des Grundgesetzes, im Ergebnis tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, dürfen nicht verfehlt werden (vgl. BVerfGE 132, 134 (162 f.); 142, 153 (379)).

 

Der Einmalzahlung von 150,- € eine existenzsichernde Funktion abzusprechen, widerspräche nach alldem Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesetzeszusammenhang sowie Sinn und Zweck von § 70 SGB II. Infolgedessen ist im Verhältnis zur sogenannten „Härtefallklausel“ in § 21 Abs. 6 SGB II ein Fall der Gesetzeskonkurrenz gegeben. Die allgemeine Norm für atypische, individuell besondere Bedarfe des Einzelfalls aus § 21 Abs. 6 SGB II ist deshalb nicht ergänzend zu § 70 SGB II heranzuziehen. Eine vermeintlich verfassungskonforme Auslegung von § 70 SGB II darf demgemäß auch nicht im Wege eines derartig eingeschränkten Verständnisses von § 70 SGB II erfolgen. Hierdurch würde missachtet, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG an die vom Gesetzgeber verabschiedeten Gesetze gebunden sind und dessen Entscheidungen nicht unterlaufen dürfen, weil sie hierfür nicht gleichermaßen demokratisch legitimiert sind wie die von den Bundesbürgern unmittelbar gewählten Abgeordneten im Bundestag und die von den Landesregierungen bestellten Mitglieder des Bundesrates.

 

Auch unter dem besonderen Gesichtspunkt einer dezidiert verfassungskonformen Auslegung könnte die Klägerin im Verfahren S 12 AS 2208/22 also mit der gerichtlichen Durchsetzung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II zum Ausgleich ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie scheitern, falls das Bundesverfassungsgericht § 70 Satz 1 SGB II für verfassungskonform hielte und die Norm als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.

 

Ggfs. bliebe mithin ihre kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsantrag erfolglos wegen des Ausgangsbescheides des Beklagten vom 06.07.2021 sowie des diesbezüglichen Überprüfungsbescheides vom 11.03.2022 in der Fassung des diesbezüglichen Änderungsbescheides vom 02.08.2022 in der Gestalt des diesbezüglichen Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 03.08.2022. Der im Verfahren S 12 AS 2208/22 unter Ziff. 1. anhängige Klageantrag betreffend die Leistungsgewährung für den früheren der beiden Bewilligungszeiträume (hier: Februar 2021 bis Juni 2021) wäre somit vollständig abzuweisen.

 

Unter derselben Hypothese, dass das Bundesverfassungsgericht § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II als verfassungskonform erachten würde, bliebe die Klage S 12 AS 2208/22 auch im Hinblick auf den weiteren (am 06.06.2023 als Ziff. 2. gestellten) kombinierten Anfechtungs- Verpflichtungs- und Leistungsantrag betreffend den Überprüfungsbescheid des Beklagten vom 11.05.202 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 08.09.2022 erfolglos. Die Klägerin könnte weder dessen Aufhebung beanspruchen noch die Verpflichtung des Beklagten zur teilweisen Rücknahme ihres Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 noch dessen Verurteilung zur Gewährung weitere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfes für Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie für den späteren der beiden Bewilligungszeiträume (hier: 01.11.2021 bis 30.04.2022). Auch insofern stünde der nach wie vor einkommens- und vermögenslosen Klägerin zwar Alg 2 zu, da sie die Anspruchsvoraussetzungen aus § 7 SGB II auch insoweit erfüllte, und insbesondere weiterhin hilfebedürftig im Sinne des SGB II war. Allerdings könnte die Klägerin vom Beklagten auch kein höheres Alg 2 beanspruchen, als der Beklagte ihr aufgrund der insofern angefochtenen Bescheiden bereits außergerichtlich für November 2021 bis April 2022 gewährte hätte.

 

Für November 2021 bis April 2022 leistete der Beklagte nämlich außergerichtlich ebenso bereits die Regelbedarfsleistungen nach § 20 SGB II in der größtmöglichen Bewilligungshöhe nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1 für alleinstehende Volljährige (einschließlich der diesbezüglichen Regelbedarfsanpassung zum 01.01.2022 von 446,- € auf 449,- € für jeden Monat zwischen Januar 2022 und April 2022) und erkannte zusätzlich auch erneut die nach der Kopfteilmethode auf die Klägerin entfallende  Hälfte aller tatsächlich entstandenen Kosten für Unterkunft und Heizung im Sinne des § 22 SGB II erneut als anspruchsbegründend an, sodass insofern jeweils keine subjektive Rechtsverletzung der Klägerin vorläge. Dies träfe im Falle der Verfassungskonformität von § 70 Satz 1 SGB II gleichermaßen auf die abgelehnte Anerkennung eines mtl. berücksichtigungsfähigen COVID-19-Mehrbedarfs zu.

 

Denn aus den oben bereits für den früheren Bewilligungszeitraum (Februar 2021 bis Juni 2021)  dargelegten Gründen bestünde für den späteren Bewilligungszeitraum (November 2021 bis April 2022) ebenfalls kein Raum, die vom Gesetzgeber gezielt (nur für die zwischen Januar 2021 und Juni 2021 aus Anlass der COVID-19-Pandemie  entstandenen Mehraufwendungen in Gestalt der dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten Norm) geschaffene Sonderregelung zu unterlaufen im Wege der Heranziehung der „Härtefallklausel“ aus § 21 Abs. 6 SGB II. Diese würde hier ggfs. nicht eingreifen, da sie generell nachrangig ist, für gesetzgeberisch unbenannte „besondere“ Bedarfe „im Einzelfall“ gilt und im Hinblick auf die generell beklagenswerten pandemie(-inflations-)bedingten Belastungen ggfs. gerade keinen „besonderen“ Bedarf „im Einzelfall“ der Klägerin im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II decken würde, sondern einen allgemein zulasten jedermann entstandenen Bedarf, der in § 70 Satz 1 SGB II vorrangig und abschließend geregelt wäre (s.o.).

 

Nach alldem wäre die Klage S 12 AS 2208/22 vollständig abzuweisen, wenn § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar wäre.

 

c)

 

Da hingegen in dem hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit des § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II die Klage S 12 AS 2208/22 hinsichtlich beider Klageanträge bzw. Bewilligungszeiträume (Februar 2021 bis Juni 2021 und November 2021 bis April 2022) aus den nachfolgenden Erwägungen begründet wäre, ist die Vorlagefrage unter Ziff. 4. des Entscheidungstenors vom 06.06.2023 entscheidungserheblich.

 

In dem hypothetisch umgekehrten Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Vorlagefrage wie das Vorlagegericht als verfassungswidrig ansehen und § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II nach §§ 82 Abs. 1, 78 Satz 1 BVerfGG für nichtig erklären sollte, hätte das Sozialgericht Karlsruhe beiden am 06.06.2023 zu Protokoll erklärten Klageanträgen nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht ggfs. erkannten Beurteilungsgrundsätze stattzugeben. Der Beklagte wäre sodann – erstens – unter Aufhebung seines Überprüfungsbescheides vom 11.03.2021 in der Fassung seines Änderungsbescheides vom 02.08.2021 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 03.08.2021 zu verpflichten, seinen Ausgangsbescheid vom 06.07.2021 teilweise zurückzunehmen, und zu verurteilen, der Klägerin weitere Leistungen zum Ausgleich ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie für den Bewilligungszeitraum 01.02.2021 bis 30.06.2021 zu gewähren. Der Beklagte wäre sodann – zweitens – unter Aufhebung seines weiteren Überprüfungsbescheides vom 11.05.2022 in der Gestalt seines weiteren Widerspruchsbescheides vom 08.09.2022 zu verpflichten, seinen weiteren Ausgangsbescheid vom 10.01.2022 teilweise zurückzunehmen, und überdies zu verurteilen, der Klägerin weitere Leistungen zum Ausgleich ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie auch für den Bewilligungszeitraum 01.11.2021 bis 30.04.2022 zu gewähren.

 

Auch im hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 70 Satz 1 SGB II wäre die Klägerin in diesen beiden Bewilligungszeiträumen aus den oben dargelegten Gründen dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II nach Maßgabe der §§ 19 ff. i.V.m. §§ 7 ff. SGB II (s.o. unter Ziff. II. 6. B) b). Die Klägerin könnte indes ggfs. ebenso wenig die die Anerkennung eines höheren als des gesetzlich vorgesehenen und bereits berücksichtigten Regelbedarfssatzes oder die Gewährung höherer Leistungen für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe verlangen, da insofern nichts anderes gelten würde als im Falle der Verfassungskonformität der vorgelegten Norm, die insofern nicht entscheidungserheblich ist (s.o. unter Ziff. II. 6. B) b).

 

Allerdings könnte die Klägerin im hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit von § 70 Satz 1 SGB II die anspruchserhöhende Berücksichtigung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II ungeachtet der Frage beanspruchen, ob ihre persönlich mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen der Höhe nach erheblich diejenigen mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen überstiegen, welche generell bzw. im Durchschnitt für Arbeitsuchende der Regelbedarfsgruppe ihrer Stufe entstanden. Der Klägerin wären insofern für jeden der elf Bewilligungsmonate (Februar 2021 bis Juni 2021 bzw. November 2021 bis April 2022) höhere Geldleistungen zu gewähren. Die eben dies jeweils ablehnenden Ausgangsbescheide des Beklagten wären im Sinne des § 44 SGB X rechtswidrig. Der Beklagte wäre durch das Gericht unter Aufhebung seiner diesbezüglichen Überprüfungsbescheide (bzw. Änderungs- und Widerspruchsbescheide) jeweils zu ihrer teilweisen Rücknahme zu verpflichten sowie zur nachträglichen Leistungsgewährung an die Klägerin zu verurteilen.

 

Im hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit von § 70 Satz 1 SGB II wäre § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II nämlich in seiner hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des SGB XII sowie weiterer Gesetze vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855) als Rechtsgrundlage für den zusätzlichen Leistungsanspruch der Klägerin auf die Gewährung weiterer Leistungen zum Ausgleich der durchschnittlichen Mehraufwendungen Arbeitsuchender im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie für beide Bewilligungszeiträume heranzuziehen und im Wege seiner verfassungskonformen Auslegung im Ergebnis zu bejahen, um verfassungswidrige Grundrechtsverletzungen zu vermeiden. Denn unterdessen würde die Härtefallklausel als einfaches Gesetzesrecht Anwendung finden im Lichte des verfassungskräftig ausstrahlenden Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sowie des Allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 des GG.

 

Im hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit von § 70 Satz 1 SGB II stünden nämlich der Wortlaut dieser vorgelegten Norm, ihre

Entstehungsgeschichte, ihr Gesetzeszusammenhang und ihr Sinn und Zweck einer verfassungskonformen Auslegung von § 21 Abs. 6 SGB II gerade nicht entgegen, denn sie würde vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt. Ohne die einfachgesetzlichen Maßgaben aus § 70 Satz 1 SGB II ergäbe sich der verfassungskonforme normative Gesamtmaßstab für die qualitative und quantitative Feststellung des Mehrbedarfs zum Ausgleich der Mehraufwendungen von Grundsicherungsempfängern im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie aus einer integrativen Betrachtung des nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland garantierten Existenzminimums an sozialer Teilhabe, der nach dem Strafgesetzbuch gebotenen Abwendung von Gesundheitsschädigungen, des zur Gefahrenabwehr primär nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz und sekundär nach den Corona-Verordnungen der Länder gebotenen, kostenaufwändigen Vornahme von Infektionsschutzmaßnahmen wie dem Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen in hierfür geeigneter Qualität und Quantität sowie den beiden Struktur-Prinzipien des SGB II, d. h. des „Forderns“ (zumutbarer Eigenbemühungen) und des „Förderns“ (individuell wie strukturell bedingt dauerhaft) hilfebedürftiger Mitmenschen in prekären Lebensverhältnissen (mit einer entsprechend herabgesetzten Anpassungsfähigkeit an die lebenspraktischen Anforderungen) aus Anlass der COVID-19-Pandemie (vgl. SG Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

Von diesem – rechtlich extrem komplexem und anstrengendem – Maßstab darf in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht zugunsten eines – griffigeren, aber verkürzten – anderen Maßstabs abgewichen werden, selbst wenn dies vordergründig aus sog. „Praktikabilitätserwägungen“ bzw. „Pragmatismus“ oder „prozessökonomischen Erwägungen“ wünschenswert erscheint. Ein pauschaler Verweis auf diese Argumente rechtfertigt in aller Regel keine Abweichung der Rechtsprechung oder der vollziehenden Gewalt von ihrer verfassungskräftigen Bindung an Recht und Gesetz aus Art. 20 Abs. 3 GG. Wer als Leser eines der Argumente „Prozessökonomie“, „Pragmatismus“ oder „Praktikabilität“ vor den Latz geknallt bekommt, sollte hellhörig werden, denn wer als Beamter oder Richter auf sie rekurriert, dürfte schlichtweg überlastet sein. Den hiermit bemühten Argumenten kommt indes kein Verfassungsrang zu. Bei der „Prozessökonomie“ handelt es sich zwar um ein Phänomen, dem Rechtsanwender und Rechtswissenschaftler als Argument nicht nur immer wieder begegnen, sondern auch nahezu gewohnheitsmäßig Verständnis bzw. Wohlwollen entgegenbringen. Doch nicht nur bleibt die ihr beigemessene Relevanz oft unbegründet. Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Säulen des Prozessökonomiearguments zeigt vielmehr, wie wenig belastbar das Argument ist (Pflughaupt, Prozessökonomie – Verfassungsrechtliche Anatomie und Belastbarkeit eines gern bemühten Arguments, 2011, Mohr Siebeck, S. 1 bis S. 380).

 

In aller Regel verklausulieren die Worthülsen von „Praktikabilitätsgründe“, „Pragmatismus“ bzw. „Prozessökonomie“ den zumeist uneingestandenen Rückzug vor chronischer Überforderung. Durch den Hinweis auf derartige Scheinargumente entziehen sich ggfs. die vollziehende Gewalt bzw. die Rechtsprechung im Rechtsanwendungsnotstand dem sachlichen Diskurs. Sie kapitulieren im Angesicht der Vielzahl tatsächlicher und rechtlicher Komplexitäten, die sie ggfs. mit den von den jeweiligen Haushaltsgesetzgebern gegebenen Sach- und Personalausstattungen schlechterdings nicht mehr zu bewältigen wissen, obwohl das materielle Recht und das Verfahrensrecht sie hierzu verpflichteten. Auf die „Prozessökonomie“ rekurrierende Staatsdiener kündigen ggfs. – oft unbewusst und schleichend aus Ohnmacht größtenteils – ihre eigene Bindung an Recht und Gesetz im Einzelfall innerlich auf, um – paradoxer Weise: in bester Absicht – ihre unerfüllbare Aufgabenflut in ihrer Gesamtheit so gut als eben möglich zu erfüllen. Richter entscheiden ggfs. hiernach nur noch äußerlich im Namen des Volkes, beugen sich innerlich aber längst um- und ungeschriebenen Normen bzw. informell prozessökonomisch optimierten Handlungsprogrammen ihrer Kaste, aus deren Binnenkohäsion es kein Entkommen gibt, weil der kollektive Selbst- und Fremdbetrug nur in der Schicksalsgemeinschaft recht gelingen mag. Mit den drei Allheilmitteln – „Prozessökonomie“, „Pragmatismus“ und „Praktikabilitätserwägungen“ – erledigt die Staatsgewalt so zwar jede Schwierigkeit im Handumdrehen. Unterdessen dissimuliert sie kollektive (Verfassungs-) Rechtsbeugungen, die Erosion des Rechtsstaats an sich und die ernstliche Gefahr des Verfalls der westlichen Demokratien (SG Karlsruhe, Urteil vom 12. Januar 2021 – S 12 SO 3577/18 –, Rn. 26, juris).

 

Für die Bemessung des generellen Bedarfes an Mund-Nasen-Bedeckungen nach § 21 Abs. 6 SGB II ist richtigerweise gerade nicht nur von der CoronaVO des jeweiligen Bundeslandes in ihrer jeweils maßgeblichen Fassung auszugehen. Stattdessen muss der das Grundsicherungsrecht für Arbeitsuchende prägenden Grundsatz des „Forderns“ aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II den Ausgangspunkt der weiteren Mehrbedarfsprüfung bilden (Fortführung von: vgl. SG Karlsruhe, 11.11.2021, S 12 AS 213/21 ER und SG Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; SG Karlsruhe, Beschluss vom 24. März 2021 – S 12 AS 711/21 ER –, Rn. 65, juris). Da der streitbefangene Mehrbedarf aber nicht nur dem Infektionsschutz der Arbeitsuchenden selbst dient, sondern zuvörderst die Allgemeinheit vor der besonderen Gefahr einer weiteren Verbreitung von SARS-Cov-2 durch Arbeitsuchende ohne effektive Mund-Nasen-Bedeckung zu schützen, wird der spezifisch grundsicherungsrechtliche Maßstab aus § 21 Abs. 6, § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Bezug auf Mund-Nasen-Bedeckung durch den speziellen Infektionsschutzzweck aus § 21 Abs. 6 SGB II i.V.m. § 1, § 28a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2, Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 bis 3, § 32 Satz 1 IfSG (i.V.m. der jeweils maßgeblichen Coronaverordnung des jeweiligen Bundeslandes) gefahrenabwehrrechtlich überlagert (Fortführung von: vgl. SG Karlsruhe, 11.11.2021, S 12 AS 213/21 ER und SG Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; SG Karlsruhe, Beschluss vom 24. März 2021 – S 12 AS 711/21 ER –, Rn. 65, juris).

 

Diesem Ergebnis stünde namentlich auch nicht der Wortlaut von § 21 Abs. 6 SGB II entgegen. Danach wird zwar Mehrbedarf bei Leistungsberechtigten zwar nur anerkannt, soweit im Einzelfall ein besonderer unabweisbarer Bedarf besteht. Eben dieser Wortlaut ließe aber im Wege der verfassungskonformen Auslegung auch eine Subsumtion der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen zu, falls es keine diesbezügliche Spezialregel gäbe (in Gestalt des vorgelegten und ggfs. für nichtig erklärten § 70 SGB II). Namentlich wäre es aus den nachfolgenden Gründen erstens geboten, die Formulierung „im Einzelfall“ nicht personenbezogen auszulegen. Sie wäre vielmehr anlassbezogen dahingehend zu verstehen, dass sie vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene, historisch einzigartige Entwicklungen (auch ohne Rücksicht auf die Größe des hiervon betroffenen Personenkreises) erfasst, wobei die unvorhergesehene COVID-19-Pandemie einen eben solchen historisch einzigartigen „Einzelfall“ ebenso darstellte wie der nachfolgende Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die durch beides entstandene Inflation. Und zweitens wäre § 21 Abs. 6 SGB II aus den ebenfalls nachfolgenden verfassungskräftigen Gründen geboten, die Formulierung „unabweisbarer Bedarf“ dahingehend zu verstehen, dass jene Mehrbedarfe erfasst werden, die bei der letztmaligen EVS 2018 noch unberücksichtigt geblieben waren. Dies war insbesondere der Fall für jene Dienstleistungen und Güter wie z. B. Hygieneartikel, die jedenfalls ab dem 01.02.2021 zur Minderung der Corona-Ansteckungsgefahr beschafft wurden bzw. infolge pandemieinflationsbedingter Preissteigerungen viel mehr kosteten als mit der EVS 2018 empirisch erhoben bzw. im Rahmen zwischenzeitlicher Regelbedarfsbemessungen berücksichtigt worden war und nachträglich auch nicht anderweitig gedeckt wurde in allen anderen Monaten als denjenigen des Zufluss‘ der zwei Einmalzahlungen aus § 70 Satz 1 SGB II bzw. § 73 SGB II, d.h. Mai 2021 bzw. Juli 2022.

 

Im Einzelnen:

 

Bei der Schaffung der Rechtsgrundlage für die gesetzliche Härtefallregelung in § 21 Abs. 6 SGB II hat der Gesetzgeber weitgehend die Formulierungen einer vormaligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.) als tatbestandliche Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Norm übernommen (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 84).

 

Darin hatte das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass es mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sei, dass im SGB II eine Regelung fehle, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung eines menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsehe (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.). Als zwei Alternativen, in denen die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gefährdet sein könne, hatte das BVerfG einen atypischen Bedarf außerhalb der (vormaligen) Regelleistung des § 20 SGB II und der zusätzlichen Hilfen sowie einen besonderen Bedarf identifiziert, der zwar seiner Art nach berücksichtigt werde, dies jedoch nur in durchschnittlicher Höhe (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.). In seiner weiteren Begründung hatte das BVerfG ausgeführt, dass der Pauschalbetrag der Regelleistung bei Anwendung des Statistikmodells so bestimmt sei, dass ein Ausgleich möglich sei. Der Leistungsberechtigte habe bei besonderem Bedarf zunächst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der Regelleistung enthalten sei (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.). Der besondere Bedarf entstehe erst, wenn dieser so erheblich sei, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleiste (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 ff.). Gleichzeitig hatte das BVerfG angeordnet, dass zur Vermeidung der Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in der Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden Härteklausel die verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab Verkündung des Urteils durch eine entsprechende Anordnung des BVerfG geschlossen werden müsse (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 82).

 

Mit der Bezugnahme auf einen besonderen Bedarf will der Gesetzgeber in § 21 Abs. 6 SGB II – wie sich den Gesetzesmaterialien entnehmen lässt – einen in Sondersituationen auftretenden Bedarf nicht erfasster Art oder atypischen Ursprungs oder einen höheren, überdurchschnittlichen Bedarf einbeziehen, der nicht oder nicht aussagekräftig von der statistischen Durchschnittsbetrachtung in der EVS erfasst wird Beide Fallgestaltungen sind bereits der Entscheidung des BVerfG zu entnehmen (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 86; BT-Drs. 17/1465, S. 8.). Da § 21 Abs. 6 SGB II und die Darlehensregelung des § 24 Abs. 1 SGB II in ihrer Gesamtschau sicherstellen müssen, dass kein atypischer oder besonderer Bedarf ungedeckt bleibt, dient das Tatbestandsmerkmal des „laufenden Bedarfs“ allein der Abgrenzung zum einmaligen Bedarf und ist weit auszulegen (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 89).

 

Für die Anerkennung als „laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf“ (§ 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II) ist daher nicht maßgeblich, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein einmaliger Bedarf ist. Die konkrete Einzelfallgestaltung nimmt dem Bedarf nicht seine Gestalt, die er prognostisch typischerweise hat und die für die Einordnung als laufender Bedarf maßgeblich ist (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 90).

 

Das sozialrechtlich zu gewährende menschenwürdige Existenzminium aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG umfasst auch die Sicherstellung einer ausreichenden menschenwürdigen Versorgung. Bei den von dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfassten Kosten für die Gesundheitspflege können sich im Einzelfall einmalige oder laufende Bedarfe ergeben, die nicht aus dem im Regelbedarf hierauf enthaltenen Anteil, welcher nach der EVS 2018 nur mtl. 16,11 € (für einen Einpersonenhaushalt ab 01.01.2019) getragen werden können. Wie bereits den Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist, wollte der Gesetzgeber mit der Härteregelung des § 21 Abs. 6 SGB II z.B. einen dauerhaft erhöhten Hygienebedarf bei schweren Erkrankungen ausgleichen (Behrend/König in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 (Stand: 21.12.2022), Rn. 120).

 

Der aufgrund der Rechtsprechung des zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) in das SGB II eingeführte zusätzliche Anspruch

auf einen Härtefallmehrbedarf soll unter anderem Sondersituationen Rechnung tragen, in denen ein seiner Art oder Höhe nach auftretender Bedarf von der Statistik nicht aussagekräftig erfasst wird und sich der Regelbedarf als unzureichend erweist (BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09 u. a., Rn. 206 ff., 220; BSG, 08.05.2019, B 14 AS 13/18 R). Der Gesetzgeber hat ausweislich der Gesetzesmaterialien mit der Härteregelung des § 21 Abs. 6 SGB II unter anderem einen dauerhaft erhöhten Hygienebedarf bezogen auf schwere Erkrankungen ausgleichen wollen (Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 21 [Stand: 06.01.2021], Rn. 120). Nach allgemeiner Auffassung ist der Anwendungsbereich des § 21 Abs. 6 SGB II deshalb e eröffnet in Fällen der Notwendigkeit besonderer Hygieneartikel zum Schutze Dritter vor der Ansteckung mit einem gefährlichen Virus. Unter anderem wird das Bestehen eines grundsicherungsrechtlichen Mehrkostenaufwandes nach § 21 Abs. 6 SGB II anerkannt, soweit Hygienemittel zur Abwehr der Gefahr der Ansteckung Dritter mit dem „Humane Immundefizienz-Virus“ (abgekürzt: „HIV“ oder „HI-Virus“) genutzt werden (vgl. Adolph in: Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, 67, UPD November 2020, § 21, Rn. 66). Der mit dem für die Beschaffung von Hygieneartikeln eines HIV-Infizierten zum Schutz vor Kontakt mit ansteckenden Körperflüssigkeiten generell anerkannte Mehrbedarf ist vergleichbar mit dem Mehrbedarf für die Beschaffung von Hygieneartikeln zum effektiven Schutz vor respiratorischem Kontakt mit SARS-CoV-2-haltigen Aerosolen (Fortführung von: SG Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER und SG Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER, SG Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

Ein Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II besteht unter anderem für solche laufend individuell anfallenden dritt- oder allgemeinnützigen Aufwendungen, welche dem Arbeitsuchenden aufgrund der Einführung eines – in Bezug auf die jeweils letzte Verbraucherstichprobe – neuen dritt- oder allgemeinnützigen rechtsverbindlichen Gebotes in nicht unerheblicher Höhe durch gebotskonformes Verhalten durchschnittlich entstehen, solange und soweit der Sozialgesetzgeber zwecks grundsicherungsrechtlicher Berücksichtigung eben dieser Mehrbelastung weder eine spezielle Anspruchsgrundlage geschaffen noch die Regelbedarfshöhe angepasst hat. Der Grundsicherung bedarf ein Arbeitsuchender nämlich nicht nur, soweit er oder ein Mitglied seiner Bedarfsgemeinschaft eigene existentielle Bedürfnisse befriedigen muss. Stattdessen bedarf ein einkommens- und vermögensloser Arbeitsuchender der Sicherung seines Existenzminimums auch, soweit er aufgrund eines neuen dritt- oder allgemeinnützigen Gebotes rechtsverbindlich zu bestimmten dritt- oder allgemeinnützigen Aufwendungen verpflichtet ist und die ihm hierdurch entstehende individuelle Mehrbelastung erheblich ist (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 43, juris).

 

Ein eben solches Verständnis des in § 21 Abs. 6 SGB II verwendeten Begriffes „Bedarf“ gebietet eine systematische Auslegung des SGB II. Es erkennt die Notwendigkeit fremdnütziger Aufwendungen zugunsten der Bedarfsgemeinschaft nicht zugehöriger Personen oder der Allgemeinheit regelmäßig dann als anspruchserhöhend an, wenn das uneigennützige, kostenaufwändige Verhalten des Arbeitsuchenden der Erfüllung ihm unveräußerlicher Rechtspflichten dient. Systematisch betrachtet muss die Erfüllung gesetzlicher Pflichten im Grundsicherungsrecht schon wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung als erforderlich angesehen und folgerichtig auch bei der Bemessung existenzsichernder Leistungen bedarfserhöhend berücksichtigt werden. Auch ließen es teleologische Erwägungen nicht zu, den Beziehern existenzsichernder Leistungen abzuverlangen, mit eben diesen sehr begrenzten Mitteln in mehr als nur unerheblichem Umfang die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder den Schutz Dritter zu finanzieren (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 44, juris).

 

Exemplarisch zeigt sich eine eben solche Auslegung des diesbezüglich erklärten Willens des Sozialgesetzgebers zur Drittschutzpflichtbezogenheit des grundsicherungsrechtlichen Bedarfsbegriffs unter anderem in den bereits bestehenden Regelungen zur Absetzbarkeit dritt- oder allgemeinheitsbezogener Aufwendungen vom leistungsmindernden Einkommen in § 11b Abs. 1 Satz 1 SGB II: Der Anspruch auf Arbeitslosengeld 2 mindert sich nach dessen Nr. 1 nicht in der Höhe der zu entrichteten Steuern. Ferner bleibt gemäß § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 SGB II Einkommen für die Grundsicherungsleistungshöhe außer Betracht, soweit Aufwendungen zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltsverpflichtungen bis zu dem in einem Unterhaltstitel oder in einer notariell beurkundeten Unterhaltsvereinbarung festgelegten Betrag erfolgen. Gleichermaßen reduziert sich der Anspruch auf Arbeitslosgengeld 2 § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB II zufolge auch nicht in Höhe des nach den Vorschriften der Ausbildungsförderung berücksichtigten Betrages bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, soweit ihr Einkommen nach dem Vierten Abschnitt des Bundesausbildungsförderungsgesetzes oder nach § 67 oder § 126 des Dritten Buches bei der Berechnung der Leistungen der Ausbildungsförderung für mindestens ein Kind berücksichtigt wird (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 45, juris).

 

Gemessen hieran ist die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit einer vom Regelbedarf nicht erfassten, atypischen Bedarfslage nach sämtlichen Gütern und Dienstleistungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bejahen, soweit deren Beschaffung nach dem jeweiligen Wissensstand in verhältnismäßiger Weise dem Infektionsschutz unter den Lebensbedingungen der COVID-19-Pandemie diente. Namentlich begründeten Verschärfungen der allgemeinen Pflicht zum Gebrauch bestimmter Hygieneartikel einen jedenfalls ab 01.02.2021 auf die grundsicherungsrechtliche Bewertung der Frage nach einem geenerellen Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II durchschlagenden normativen Wandel. Insbesondere war daher wegen der Kosten für FFP2-Masken ein im Einzelfall der Corona-Pandemie unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger Bedarf gegeben, denn auch Arbeitsuchende kamen nicht umhin, die rechtsverbindlichen Vorgaben aus §§ 12 Abs. 2, § 22 Abs. 2, § 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) zu beachten.

 

Allein die (in ihrer jeweils maßgeblichen Fassung geltenden) Bestimmungen der jeweiligen Corona-Verordnungen der Landesregierungen stellen hingegen schon deshalb keinen ausreichenden Maßstab für die Prüfung des Mehrbedarfs an Mund-Nasen-Bedeckungen dar, weil die Landesregierungen als Normgeber nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes weder über die Verbandskompetenz noch über die Organkompetenz verfügten, Grundsicherungsleistungsansprüche nach dem SGB II eigenmächtig auszugestalten, und die Corona-Verordnungen überdies nicht den vom Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellten Anforderungen an Rechtsgrundlagen im Bereich existenzsichernder Leistungen genügten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 36, juris). Nach den einschlägigen verfassungsgerichtlichen Vorgaben fehlt dem Bundesland Baden-Württemberg im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland bereits das Rechtsvermögen, Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende selbst zu regeln (vgl. Art. 70 ff. GG, Art. 91e GG, Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 37, juris). Zudem fehlt der Landesregierung als Exekutivorgan das dem „Gesetzgeber“ vorbehaltene Privileg, förmliche Parlamentsgesetze erlassen zu dürfen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 38, juris).

 

Dementsprechend genügte etwa die CoronaVO des Landes Baden-Württemberg als vergleichsweise nur sehr mittelbar demokratisch legitimierte Landesrechtsverordnung unter normenhierarchischen Gesichtspunkten im Gegensatz zu den förmlichen Parlamentsgesetzen SGB II, StGB und IfSG bzw. zur Verfassung der Bunderepublik Deutschland nicht den vom Bundesverfassungsgericht unmissverständlich klargestellten Anforderungen für Rechtsgrundlagen im Bereich existenzsichernder Leistungen. Bestehen, Inhalt, Umfang und Dauer von Grundsicherungsleistungsansprüchen sind nach dem Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 im Verfahren 1 BvL 1/09 durch Bundestag und Bundesrat in einem Bundesgesetz zu regeln und nicht in einer Landesverordnung (zum Infektionsschutz). Das Verfassungsgericht hat unmissverständlich herausgearbeitet, dass die Konkretisierung und stetige Aktualisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG durch den (Bundes-) Gesetzgeber erfolgen muss. Der (Bundes-) Gesetzgeber muss die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen ausrichten und den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken. Der (Bundes-) Gesetzgeber muss daneben einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen, der einen darüber hinaus gehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf deckt (BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, Rn. 136; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 39, juris).

 

Die – in Bezug auf die Grundsicherung bestehenden – kompetenzrechtlichen und normenhierarchischen Makel etwa der (5. ÄnderungsVO zur) CoronaVO BW sind auch nicht allein deswegen entbehrlich, weil sie (möglicherweise) inhaltlich mit einem „Beschluss“ der Bundeskanzlerin und der Regierungschef:innen der Länder vom 19.01.2021 übereinstimmten (wohl in diese Richtung: SG Karlsruhe, 01.01.2021, S 4 AS 470/21 ER, Rn. 48). Dem sog. „Corona-Kabinett“ standen nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes keinerlei Gesetzgebungskompetenzen zu. Bei dem Recht zum Erlass von Parlamentsgesetzen handelt es sich um die Kernkompetenz der beiden Legislativorgane, Bundestag und Bundesrat. Die fundamentalen Rechte der beiden Gesetzgebungskammern bzw. die Rechte ihrer (gewählten) Repräsentanten werden nicht hinfällig durch rechtliche unverbindliche Entschließungen der Bundeskanzlerin und der Regierungschef:innen der Länder im sog. „Corona-Kabinett“. Derartig weitreichende Kompetenzverschiebungen könnte selbst der Verfassungsgesetzgeber den Exekutivorganen nicht einräumen (wenn er es denn wollte), weil die Mitwirkung der Gesetzgebungsorgane des Bundes an der Bundesgesetzgebung zum Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zählt, vgl. Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 40, juris).

 

Richtigerweise ist für die Bemessung des Bedarfes an Mund-Nasen-Bedeckungen nach § 21 Abs. 6 SGB II gerade nicht nur von den jeweilgen CoronaVO der Länder in ihrer jeweils maßgeblichen Fassung auszugehen. Stattdessen muss der das Grundsicherungsrecht für Arbeitsuchende prägenden Grundsatz des „Forderns“ aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II den Ausgangspunkt der weiteren Mehrbedarfsprüfung bilden (Fortsetzung von: SG Karlsruhe,11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER, Rn. 92; entgegen: SG Karlsruhe, 01.03.2021, S 4 AS 470/21 ER). Da der streitbefangene Mehrbedarf aber nicht nur dem Infektionsschutz der Arbeitsuchenden selbst dient, sondern zuvörderst die Allgemeinheit vor der besonderen Gefahr einer weiteren Verbreitung von SARS-Cov-2 durch Arbeitsuchende ohne effektive Mund-Nasen-Bedeckungen zu schützen – d. h. um den Infektionsschutz grundsicherungsrechtlich zu flankieren – wird der spezifisch grundsicherungsrechtliche Maßstab aus § 21 Abs. 6, § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Bezug auf Mund-Nasen-Bedeckungen durch den speziellen Infektionsschutzzweck aus § 21 Abs. 6 SGB II i.V.m. § 1, § 28a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2, Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 bis 3, § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. §§ 1h, 1i CoronaVO gefahrenabwehrrechtlich überlagert (Fortsetzung von: SG Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER, Rn. 92 bis 97; entgegen: SG Karlsruhe, 01.03.2021, S 4 AS 470/21 ER; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 41, juris).

 

Infektionsschutz- bzw. gefahrenabwehrrechtlich sind für die Frage nach einem Masken-Mehrbedarf die bloß untergesetzlichen Wertungen der CoronaVO BW und anderer CoronaVO nur ergänzend zu berücksichtigen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 42, juris). Nach der – hier exemplarisch herangezogenen – 5. ÄnderungsVO der CoronaVO Baden-Württemberg war seit dem 25.01.2021 für eine Vielzahl öffentlicher Örtlichkeiten des täglichen Lebens eine allgemeine Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske in der Gestalt einer FFP2-Maske (DIN EN 149:2001) respektive KN95/N95-Maske: Gemäß § 1h Abs. 1 und 2 CoronaVO war der Zutritt von Besuchern und externen Personen zu Krankenhäusern und stationären Einrichtungen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf nur (nach vorherigem negativen Antigentest und) mit einem Atemschutz zulässig, welcher die Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards erfüllt. Daneben ordnete § 1i Satz 1 CoronaVO eine allgemeine Pflicht zum Tragen Mund-Nasen-Bedeckungen an für die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, insbesondere in Eisenbahnen, Straßenbahnen, Bussen, Taxen, Passagierflugzeugen, Fähren, Fahrgastschiffen und Seilbahnen, an Bahn- und Bussteigen, im Wartebereich der Anlegestellen von Fahrgastschiffen und in Bahnhofs- und Flughafengebäuden, in Arztpraxen, Zahnarztpraxen, Praxen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe und der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker sowie in Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, im Einzelhandel, in Arbeits- und Betriebsstätten sowie an Einsatzorten und während Veranstaltungen von Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften zur Religionsausübung sowie Veranstaltungen bei Todesfällen. Verstöße gegen diese Vorgaben wurden durch § 19 Nr. 7 und § 1h Abs. 1 und 2 CoronaVO i.V.m. dem Bußgeldkatalog für Ordnungswidrigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz im Zusammenhang mit der CoronaVO in der Fassung vom 26.01.2021 (CoronaBußgeldKat) ab dem 27.01.2021 mit einem Bußgeld von 100,- € bis 500,- € geahndet. Bei Verstößen gegen die Pflicht zum Tragen medizinischer Masken bei der Nutzung des öffentlichen oder touristischen Personenverkehrs drohte ab dem 27.01.2021 ein Bußgeld von 100,- € bis 250,- € (§ 19 Nr. 8, § 1i und § 3 Abs. 1 Nr. 1 CoronaVO i.V.m. CoronaBußgeldKat). Zuwiderhandlungen gegen die Medizin-Maskenpflicht in Einrichtungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 8, § 19 Nr. 8 i.V.m. § 1i i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 und 8 CoronaVO wurden ab dem 27.01.2021 mit einem Bußgeld von 50,- bis 250,- € geahndet. Mit einer Sechsten ÄnderungsVO vom 30. Januar 2021 hatte die Landesregierung ihre Fünfte ÄnderungsVO vom 23.01.2021 nochmal hinsichtlich der Maskenpflichten §§ 1h und 1i CoronaVO verschärft, insbesondere auch für Veranstaltungen bei Todesfällen das Tragen med. Mund-Nasen-Bedeckungen vorgeschrieben und Krankhäuser verpflichtet, ihren Besuchern die erforderliche Durchführung der Antigenschnelltests kostenlos anzubieten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 47, juris).

 

Auch gemessen hieran war der Mehrbedarfsanspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie generell in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen auf Hygieneartikel und infektionsschützende Dienstleistungen inhaltlich zunächst in Bezug auf die Leistungsform konkretisieren. Die Gewährung des Mehrbedarfs musste danach bereits ab 01.02.2021 zuschussweise erfolgen, da sich Arbeitsuchende zur Finanzierung nicht auf Darlehen der Träger der Grundsicherung verweisen lassen mussten, denn ihre Mehrkosten fielen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht nur einmalig an, sondern laufend, da bereits Anfang Februar 2021 gerade nicht davon auszugehen war, dass eine einmalige Beschaffung ausreichen würde, denn es blieb damals unklar, wie lange die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung gültigen Schutznormen noch gelten bzw. verlängert oder abgeändert würden (vgl. https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/aktuelle-infos-zu-corona/faq-corona-verordnung/#c110436, zuletzt aufgerufen am 10.02.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 51, juris).

 

Der generelle Inhalt des Anspruchs auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs an Hygieneartikeln in Gestalt von Mund-Nasen-Bedeckungen lässt sich dahingehend konkretisieren, dass er durch solche Exemplare zu decken war, welche mindestens den besonderen Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards entsprechen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 52, juris).

 

Auf nichtmedizinische Mund-Nasen-Bedeckungen (auch: „Alltagsmasken“, „DIY-masken“, „Behelfs-Mund-Nasen-Masken“ oder „Community-Masken“) mussten sich Arbeitsuchende ab dem 25.01.2021 nicht mehr verweisen lassen. Dies folgte bereits aus einer insofern gebotenen normativen Betrachtungsweise nach Maßgabe der in den Coronaverordnungen der Länder aufgrund des Bund-Länder-Gipfels eingeführten Neuregelungen (exemplarisch für Baden-Württemberg in § 1h und 1i CoronaVO). Den dortigen Geboten hätten Arbeitsuchende durch das bloße Tragen nichtmedizinischer Mund-Nasen-Bedeckungen zuwidergehandelt, sobald sie eine der darin aufgezählten unterschiedlichen privaten oder öffentlichen Örtlichkeiten in geschlossenen Räumen oder unter freiem Himmel ohne eine infektionsschutzspezifisch höherwertige medizinische Mund-Nasen-Bedeckung aufgesucht hätten. Auf ein verbotenes und zudem mit empfindlichen Bußgeldern bewährtes Verhalten können Arbeitsuchende von staatlichen Stellen wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung aber nicht verwiesen werden. Die hierzu widersprüchliche Kammer-Rechtsprechung (Sozialgericht Karlsruhe, 10.06.2020, S 12 AS 1310/20 ER) war spätestens seit dem Inkrafttreten der 5. Änderung der CoronaVO Bade-Württemberg am 25.01.2021 (und auch nach dem Inkrafttreten der 6. Änderung der CoronaVO am 01.02.2021) überholt. Das gleiche gilt für die inhaltlich übereinstimmende Rechtsprechung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zu der gleichermaßen veralteten Maskenpflicht nach der ab dem 27.04.2020 gültigen Fassung der insoweit maßgeblichen Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit SARS-CoV-2 für das Land Nordrhein-Westfalen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, 30.04.2020, L 7 AS 625/20 B ER; vgl. SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 53, juris).

 

Auch ein uneingeschränkter Verweis auf OP-Masken der DIN EN 14683:2019-10 hätte bereits ab 01.02.2021 gegen Recht und Gesetz verstoßen. Arbeitsuchende wären hierdurch in ihrem verfassungskräftigen Gleichheitsgrundrecht auf gleiche Teilhabe aus Art. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG verletzt worden. Sozialverwaltung und Sozialgerichtsbarkeit müssen den generalklauselhaften Auffangtatbestand des § 21 Abs. 6 SGB II aber im Lichte der das einfache Recht prägenden Wertungsvorgaben des Grundgesetzes auslegen. Wenn ihre existenzsichernden Leistungen ohne Rücksicht auf ihren Bedarf an FFP2-Masken bemessen würden, hätten Arbeitsuchende wegen der gleichzeitigen Pflicht zur Verwendung von FFP2-Masken aus § 1h CoronaVO Krankenhäuser und stationäre Pflegeeinrichtungen im Gegensatz zu wirtschaftlich besser gestellten Bevölkerungskreisen nicht mehr aufsuchen können. Durch die ihnen für den Fall einer Zuwiderhandlung vorgesehene Auferlegung eines Bußgeldes von mindestens 100,- € und bis zu 500,- € wäre der Besuch von Angehörigen in Krankenhaus und stationären Pflegeeinrichtung sowie die Inanspruchnahme einer ihnen dort ggfs. persönlich zustehenden (ambulanten) Leistungsgewährung nach dem SGB V bzw. SGB XI unangemessen erschwert worden. In Anbetracht dessen darf nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit das Vorliegen eines grundsicherungsrechtlichen „Bedarfs“ an FFP2-Masken jedenfalls nicht kategorisch verneint werden. Grundrechtskonform ausgelegt ist § 21 Abs. 6 SGB II daher so zu verstehen, dass ein Mehrbedarf an FFP2-Masken jedenfalls anlässlich des Zutritts eines Arbeitssuchenden zu einem Krankenhaus oder zu einer stationären Pflegeeinrichtung vorliegt (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 54, juris).

 

Darüber hinaus wäre – weiterhin unter der umgekehrten Hypothese der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit der Sonderregelung in § 70 Satz 1 SGB II – ein solcher einmaliger, im Einzelfall unabweisbarer besonderer Mehrbedarf an FFP2-Masken jedenfalls ab 01.02.2021 auch außerhalb von Krankenhäusern, stationären Pflegeeinrichtungen, den sonstigen in § 1h CoronaVO genannten und anderen Örtlichkeiten anzuerkennen gewesen. Auch dort genügen bloße OP-Masken der DIN EN 14683:2019-10 nicht zur Deckung des streitbefangenen Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II. Arbeitsuchende bedurften für einen effektiven Schutz gegen eine respiratorische Ansteckung von sich selbst und Dritten mit SARS-Cov-2 auch außerhalb von Krankenhäusern und stationären Pflegeeinrichtungen solcher med. Mund-Nasen-Bedeckungen, welche den besonderen Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards entsprachen. Ohne die Gewährung eines grundsicherungsrechtlichen Bedarfs an FFP2-Masken wären Arbeitsuchende nämlich bei der Verrichtung ganz alltäglicher Erledigungen laufend Gefahr gelaufen, gegen strafbewährte Verbotsgesetze aus § 223, § 224 Abs. 2 i.V.m. § 12 Abs. 2, § 22 Abs. II, § 23 Abs. 1 StGB zu verstoßen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 55, juris).

 

Indessen kann gegen die Bejahung eines Bedarfs an FFP2-Masken außerhalb von Krankenhäusern und stationären Pflegeeinrichtungen jedenfalls ab 01.02.2021 nicht eingewandt werden, dass gemäß den Coronaschutzverordnungen der Länder (vgl exemplarisch § 1h CoronaVO BW in der ab 01.02.2021 geltenden Fassung) nur an diesen Örtlichkeiten FFP2-Masken vorgeschrieben waren und die Maskenpflicht (vgl. exemplarisch § 1i CoronaVO BW) an anderen öffentlichen Orten außer FFP2-Masken auch OP-Masken genügen ließ. Der Verzicht des Verordnungsgebers auf eine Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken an den (exemplarisch in § 1i CoronaVO) genannten Örtlichkeiten konnte nicht als Erlaubnis zum Tragen von OP-Masken verstanden werden, soweit das dortige Tragen von OP-Masken gegen das höherrangige Verbot von Gesundheitsschädigungen nach den §§ 223 ff. StGB verstößt. Die infektionsschutzrechtlichen Coronaverordnungen der Länder regelten insofern nicht speziell oder abschließend, welcher Art von Mund-Nasen-Bedeckungen es an welchen Örtlichkeiten bedarf. Der grundsicherungsrechtliche Bedarf richtete sich daneben stattdessen vorrangig nach den bundesgesetzlichen Maßstäben in §§ 223 ff. StGB (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 56, juris).

 

Zwar waren die Landesregierungen vom Bund durch § 32 i.V.m. §§ 28 bis 31 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ermächtigt worden, mit Wirkung für das jeweilige Bundeslandesgebiet die Infektionsschutz-Maßnahmen gegen SARS-Cov-2 in einer Infektionsschutzverordnung zu regeln. Die Landesregierungen war deshalb insbesondere auch befugt, eine Maskenpflicht vorzuschreiben, diese auf bestimmte Örtlichkeiten und Kontexte zu begrenzen und unterschiedliche Maskenstandards hiernach differenzierend festzulegen. Die Landesregierungen wären aber allein deswegen nicht befugt gewesen, für bestimmte Örtlichkeiten zu erlauben, dort lediglich OP-Masken zu tragen, soweit hierdurch gegen §§ 223 ff. StGB verstoßen würde. Soweit die Coronaverordnungen der Länder gegen das höherrangige Strafgesetzbuch verstießen, wären sie grundsätzlich nichtig, denn das gilt für alle Rechtsfehler, einschließlich der inhaltlichen Überschreitung der Grenzen der Ermächtigung (vgl. Maunz/Dürig/Remmert, 92. EL August 2020, GG Art. 80 Rn. 137). Es war den Landesverordnungsgebern indes aber verwehrt, Regelungen zu erlassen, welche die Grenzen der Ermächtigung missachten und in der Sache auf eine Korrektur der Entscheidung des Gesetzgebers hinausliefen (vgl. BeckOK GG/Uhle, 45. Ed. 15.11.2020, GG Art. 80 Rn. 29a; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 57, juris).

 

Vorliegend hatte der Bundestag durch den Erlass des Strafgesetzbuches von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht aus Art. 72 Abs. 1 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 GG bereits bundesweit Gebrauch gemacht. Er hatte das vorsätzliche und das versuchsweise sowie das fahrlässige Schädigen der Gesundheit anderer Personen (mittels einer lebensgefährdenden Behandlung) durch den Erlass von §§ 12 Abs. 2, § 22 Abs. 2, § 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1 und § 224 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2, § 229 StGB bereits gesetzlich verboten. Vor diesem bundesgesetzlichen Hintergrund wären die Landesregierungen demnach nicht befugt gewesen, durch den Erlass einer baden-württembergischen Infektionsschutzverordnung solche Handlungen für Baden-Württemberg zu erlauben, die als Körperverletzungen nach dem bundesweit einheitlich geltenden Strafgesetzbuch bereits verboten sind (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 58, juris).

 

Gemäß § 223 Abs. 1 Alt. 2 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer eine andere Person an der Gesundheit schädigt. Gesundheitsschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom normalen Zustand der körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden (pathologischen) Zustandes, gleichgültig, auf welche Art und Weise er verursacht wird und ob das Opfer dabei Schmerz empfindet. Bei schweren Infektionskrankheiten bedeutet schon die Ansteckung eine solche Abweichung (Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl. 2018, StGB § 223 Rn. 5). Nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung begeht. Für eine lebensgefährdende Behandlung genügt nach der Rechtsprechung die objektive Eignung der Behandlung zur Lebensgefährdung, sodass im Nachgang der Tathandlung keine konkrete Gefahr eingetreten zu sein braucht. Auch ungeschützter Verkehr trotz Infektion mit einem lebensgefährliche (hier: HI-) Virus gehört unterfällt dieser Tatbestandsvariante (vgl. Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl. 2018, StGB § 224 Rn. 8). Gemäß § 223, § 224 Abs. 2 i.V.m. § 12 Abs. 2, § 22 Abs. II, § 23 Abs. 1 StGB ist es bereits als Versuch strafbar, nach seiner Vorstellung von der gefährlichen Gesundheitsschädigung zu deren Verwirklichung unmittelbar anzusetzen. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 229 StGB). Verursacht der Täter durch die Körperverletzung (§§ 223 bis 226a StGB) den Tod der verletzten Person, so ist § 227 Abs. 1 StGB die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 59, juris).

 

Gemessen an diesen normativen Vorgaben bedurften Arbeitsuchende bereits ab 01.02.201 auch außerhalb von Krankenhäusern und stationären Pflegeeinrichtungen der Bereitstellung von FFP2-Masken. Ohne diese setzen Arbeitsuchende zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der (gefährlichen) Körperverletzung im Wege der Gesundheitsschädigung durch eine Ansteckung in subjektiv bedingt vorsätzlicher Weise unmittelbar an, sobald sie beim Straßenbahnfahren oder Einkaufen (etc.) trotz Bewusstsein um einen möglicherweise präsymptomatischen oder asymptomatischen eigenen Infektionsverlauf nur eine OP-Maske trugen, ohne diese Örtlichkeiten (Supermarkt, Treppenhaus, Wartezimmer, Leichenhalle, etc.) stets sofort binnen kürzester Zeit wieder zu verlassen, dort fortwährend mindestens 1,5 m Abstand zu Mitmenschen einzuhalten, unentwegt zu lüften und hierdurch respiratorische Ansteckungen von sich selbst und den Mitmenschen mit SARS-Cov-2 auch ohne das Tragen einer neue FFP2-Maske zuverlässig zu vermeiden (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 60, juris).

 

Indes genügen für die grundsicherungsrechtliche Bedarfsbestimmung die genannten bundesgesetzlichen Wertungen in §§ 223ff. StGB, ohne dass es von Belang wäre, dass es zahlreiche Probleme im Bereich der Verfolgbarkeit der Strafbarkeiten im Zusammenhang mit COVID-19 gab. Allein der bundesgesetzlich erklärte Wille, wonach das Schädigen der Gesundheit anderer Personen mit SARS-Cov-2-Viren verboten ist, rechtfertigt es für die Dauer der Epidemie, den Arbeitsuchenden einen Bedarf an infektionsschutzmäßig geeigneten Mund-Nasen-Bedeckungen zuzusprechen, damit sie sich und andere Menschen effektiv vor gesundheitsschädlichen Virusinfektionen über die Atemluft schützen können. Indessen ist es grundsicherungsrechtlich unbeachtlich, ob von Arbeitsuchenden in Ermangelung von FFP2-Masken begangene Verstöße gegen §§ 223 ff. StGB ggfs. lebenspraktisch in dem für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Vollbeweismaß nachweisbar waren. Ebenso irrelevant war es für § 21 Abs. 6 SGB II, ob etwaige Verdachtsfälle (in der Größenordnung von tagtäglich mehreren Millionen) ggfs. von den Strafverfolgungsbehörden schon mangels hinreichender persönlicher und sachlicher Ausstattung grundsätzlich nicht verfolgt wurden und die Strafbarkeit damit rein theoretischer Natur war. Ebenso kann dahinstehen, ob Arbeitsuchende im Einzelfall der – im Strafrechtsjargon – Infektions-„Erfolg“ aufgrund eines selbstgefährdenden Verhaltens des „Opfers“ nicht objektiv zuzurechnen war, ob Arbeitsuchende ggfs. den subjektiven Tatbestand – im Vertrauen auf die eigene Gesundheit tatsachenirrtümlich nicht – erfüllten (vgl. § 16 StGB), ob ihr (vermeidbar oder unvermeidbar verbotsirrtümliches) Fehlverhalten sie ggfs. entschuldigte oder ihre Schuld minderte (§ 17 Satz 1 bzw. 2 StGB) oder einer Strafbarkeit eine wirksame Einwilligung des Infizierten in dessen Selbstgefährdung entgegenstand. Im Ergebnis grundsicherungsrechtlich unerheblich ist auch die Rechtsfrage, ob der Schwerpunkt des vorwerfbaren Handelns auf einem Tun (d. h.: das Ausstoßen virushaltiger Aerosole in Gegenwart anderer Personen) oder einem Unterlassen (d. h.: Nichttragen einer Mund-Nasen-Bedeckung eines bestimmten Mindeststandards) lag: Beide Handlungsformen waren ohnehin als modal äquivalent im Sinne von § 13, §§ 223 ff. StGB anzusehen, da jede Person rechtlich dafür einzustehen hat, dass die mit der Atemluft aus ihrem Körper möglicherweise ausströmenden SARS-Cov-2-Viren niemanden infizieren (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 45, juris).

 

Das Tragen von OP-Masken erlaubte gerade nicht die Vornahme verbotener Körperverletzungshandlungen. Dass gerade durch das Tragen einer OP-Maske ggfs. eine Fremdgefährdung Dritter verhindert werden sollte, spielte nach § 46 Abs. 1 bis 3 StGB nur bei der Strafzumessung im Sinne einer Strafmilderung eine Rolle; es hob den normativen Handlungs- und Erfolgsunwert einer Gesundheitsschädigung nicht vollkommen auf und erlaubte die verbotene Erfolgsverursachung nicht. Die Anwendung unzureichender Schutzmaßnahmen in Gestalt des Tragens einer bloßen OP-Maske als Mund-Nasen-Bedeckung hatte gerade nicht in den – für die strafrechtliche Bewertung – einschlägige normative Grundlagen des StGB vom hierfür zuständigen Bundesgesetzgeber Aufnahme gefunden, sondern nur in einer – strafrechtlich nicht maßgeblichen – Rechtsverordnungen der Bundesländer und ist daher für den Mehrbedarf an Mund-Nasen-Bedeckungen nach § 21 Abs. 6 SGB II nicht als ausreichend anzusehen (Fortsetzung von: SG Karlsruhe, 11.11.2021, S 12 AS 213/21 ER, Rn. 99-105; entgegen: SG Karlsruhe, 01.03.2021, S 4 AS 470/21 ER, Rn. 50; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 46, juris).

 

Es entsprach auch bereits ab 01.02.2021 dem Stand der Wissenschaft, dass der bloße Gebrauch von OP-Masken weder die eigene Gesundheit von Arbeitsuchenden noch die ihrer Mitmenschen ausreichend vor einer Infektion mit SARS-Cov-2 schützt. Dies war aus den verfügbaren epidemiologischen Erkenntnismitteln unter ergänzender Berücksichtigung der anlässlich des Auftretens der gefährlicheren Virusvarianten in zwischenzeitlich erfolgten Weiterentwicklungen der Infektionsschutzbestimmungen zu schlussfolgern. Es war danach möglich und allgemein bekannt, dass sich beim längeren Aufenthalt von asymptomatisch oder präsymptomatisch infizierten Personen in geschlossenen Räumen virushaltige Aerosole von SARS-Cov-2 in einer so hohen Konzentration unbemerkt ansammeln können, dass es zu Ansteckungen von Arbeitsuchenden und/oder Dritter kommen kann, es sei denn, es würden funktionstüchtige FFP2-Masken getragen. Bei der Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, beim Besuch humanmedizinischer Praxen und Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, des Einzelhandels, von Veranstaltungen der Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften, u. a. bei Todesfällen oder bei der Pflege persönlicher Bindungen konnte das bloße Tragen einer OP-Maske seitens eines asymptomatischen oder präsymptomatischen Arbeitsuchenden nicht verhindern, dass er sich und/oder andere Personen mit dem teilweise lebensgefährlichen Virus infiziert (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 61, juris).

 

Diese Schlussfolgerung stützte sich bereits zum 01.02.2021 auf die inzwischen öffentlich zugänglichen Erkenntnisse über SARS-CoV-2, seine Verbreitungswege, den unterschiedlichen Nutzen verschiedenartiger Mund-Nasen-Bedeckungen sowie die Risiken durch die im Dezember nach Deutschland gelangten, noch gefährlicheren Virusvarianten aus Groß-Britannien, Südafrika und Brasilien (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 62, juris).

 

SARS-CoV-2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2“) war danach ein neues Beta-Coronavirus, das Anfang 2020 als Auslöser von COVID-19 identifiziert wurde. Der Hauptübertragungsweg für SARS-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Partikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen entstehen. Je nach Partikelgröße bzw. den physikalischen Eigenschaften unterscheidet man zwischen den größeren Tröpfchen und kleineren Aerosolen, wobei der Übergang zwischen beiden Formen fließend ist. Während insbesondere größere respiratorische Partikel schnell zu Boden sinken, können Aerosole auch über längere Zeit in der Luft schweben und sich in geschlossenen Räumen verteilen. Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit einer Exposition gegenüber infektiösen Partikeln jeglicher Größe im Umkreis von 1-2 m um eine infizierte Person herum erhöht. Eine Mund-Nasen-Bedeckung kann das Risiko einer Übertragung durch Partikel jeglicher Größe im unmittelbaren Umfeld um eine infizierte Person reduzieren. Bei längerem Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine größere Distanz als 1,5 m erhöhen, insbesondere dann, wenn eine infektiöse Person besonders viele kleine Partikel (Aerosole) ausstößt, sich längere Zeit in dem Raum aufhält und exponierte Personen besonders tief oder häufig einatmen. Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole im Raum ist das Einhalten des Mindestabstandes zur Infektionsprävention ggf. nicht mehr ausreichend (Robert-Koch-Institut (RKI), Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Stand: 25.01.2021). Bis einschließlich 10.02.2021, 00:00 Uhr, warn in Deutschland insgesamt 2.299.996 Menschen an SARS-CoV-2 erkrankt und 62.969 Menschen an oder mit dem Virus gestorben (RKI: COVID-19: Fallzahlen in Deutschland und weltweit, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html; zuletzt aufgerufen am: 10.02.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 63, juris).

 

Bezüglich der Ansteckungen mit SARS-CoV-2 war bereits zum 01.02.2021 generell danach zu unterschieden, ob eine ansteckende Person zum Zeitpunkt der Übertragung bereits erkrankt (symptomatisch) war, ob sie noch keine Symptome entwickelt hatte (präsymptomatisches Stadium) oder ob sie auch später nie symptomatisch wurde (asymptomatische Infektion). Eine große Bedeutung haben die Übertragungen von infektiösen Personen, wenn sie bereits Krankheitszeichen (Symptome) entwickelt haben. Dabei können diese Symptome relativ subtil sein, wie z. B. Kopf- und Halsschmerzen. Eine solche Phase mit leichteren Symptomen kann einer späteren Phase mit „typischeren“ Symptomen, wie z. B. Fieber oder Husten, um ein oder zwei Tage vorausgehen. "Typischere" Symptome können aber auch ausbleiben. Darüber hinaus steckt sich ein relevanter Anteil von Personen bei infektiösen Personen innerhalb von 1-2 Tagen vor deren Symptombeginn an. Wie groß dieser Anteil ist, kann nicht genau beziffert werden, da in vielen der Studien der „Symptombeginn“ nicht oder nicht gut definiert wurde. Die Dauer von der Ansteckung (Infektion) bis zum Beginn der eigenen Ansteckungsfähigkeit (Infektiosität) ist genauso variabel wie die Inkubationszeit. Aus Einzelbeobachtungen lässt sich jedoch schließen, dass auch sehr kurze Intervalle bis zum Beginn der Ansteckungsfähigkeit möglich sind, d. h. eine Ansteckung anderer Personen am Tag nach der eigenen Infektion, möglicherweise sogar am selben Tag. Schließlich gibt es vermutlich auch Ansteckungen durch Personen, die zwar infiziert und infektiös waren, aber gar nicht erkrankten (asymptomatische Übertragung) (Robert-Koch-Institut (RKI), Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Stand: 25.01.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 64, juris).

 

Bereits nach dem zum 01.02.2021 verfügbaren Wissenschaftsstand boten gegenüber SARS-CoV-2-erregerhaltigen Aerosolen OP-Masken (oft auch „Operationsmasken“, „Medizinische Gesichtsmasken“, „Mund-Nasen-Schutz“ oder „MNS“ genannt) dem jeweiligen Träger weniger Schutz als FFP2-Masken. OP-Masken sind für den Fremdschutz entwickelte Medizinprodukte, die vor allem das Gegenüber vor abgegebenen infektiösen Tröpfchen des Mundschutzträgers schützen und z.B. eingesetzt werden, um zu verhindern, dass (vergleichsweise größere) Tröpfchen aus der Atemluft eines Arztes in offene Wunden eines Patienten gelangen, wegen ihrer Form und ihren Sitz aber einen Teil der Atemluft an den Rändern vorbei strömen lassen, sodass vor allem bei der Einatmung durch den sog. „Leckstrom“ ungefilterte Atemluft angesogen wird (BfArM, Hinweise zur Verwendung von Mund-Nasen-Bedeckungen, medizinischen Gesichtsmasken sowie partikelfiltrierenden Halbmasken FFP-Masken, Stand: 22.01.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 65, juris).

 

FFP-Masken (Englisch für: „Filtering Face Piece“; zu Deutsch: „Partikelfiltrierende Halbmasken“) sind hingegen so gestaltet, dass sie an den Rändern dicht dem Gesicht anliegen, und bestehen aus mehreren Lagen, in deren Mitte sich meistens 2-3 Lagen eines Filtervlies (sog. Meltblown Vlies) befinden, welches eine elektrostatische Ladung aufweist und es ermöglicht, feinste Aerosole festzuhalten, die durch die reine Faserdichte des Gewebes einer OP-Maske nicht aufgefangen werden (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 2). FFP-Masken sind Gegenstände der persönlichen Schutzausrüstung (PSA), die klare Anforderungen von Gesetzen bzw. technischen Normen – insbesondere zur Aerosol-Filterleistung des Maskenmaterials – einhalten müssen, wobei Masken des FFP2-Standards mindestens 94 % der Aerosole sowie Partikel und Tröpfchen filtern und bei sachgemäßer Einmalverwendung nachweislich einen wirksamen Fremd- und Eigenschutz bieten (BfArM, Hinweise zur Verwendung von Mund-Nasen-Bedeckungen, medizinischen Gesichtsmasken sowie partikelfiltrierenden Halbmasken (FFP-Masken, Stand: 2201.2021)). Indessen genügren hierfür FFP2-Masken mit Ausatemventil nicht, weil sie nur die eingeatmete Luft filtern und kaum Fremdschutz bieten (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 2; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 66, juris).

 

Gerade die Erkenntnis, dass OP-Masken für den SARS-CoV-2-Infektionsschutz nicht sicher genug sind, hatte lange vor dem 01.02.2021 bereits zum Erlass der "Verordnung zum Anspruch auf Schutzmasken zur Vermeidung einer Infektion mit dem SARS-CoV-2" des Bundesministeriums der Gesundheit vom 14.12.2020 geführt, derentwegen einige Risikogruppen Zugang zu kostenlosen bzw. vergünstigten FFP2-Masken erhalten hatten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 67, juris).

 

Seit Mitte Dezember 2020 war aus dem Vereinigten Königreich über die zunehmende Verbreitung der SARS-CoV-2 Linie B.1.1.7 (VOC 202012/01; VOC: variant of concern) berichtet worden, die sich durch eine ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen insbesondere im viralen S-Protein auszeichnet. Man ging bereits davon aus, dass diese Variante eine erhöhte Übertragbarkeit aufweist, die in einer höheren Reproduktionszahl resultiert. Ebenfalls im Dezember 2020 wurde erstmals vom vermehrten Auftreten einer SARS-CoV-2 Variante in Südafrika berichtet, die acht Aminosäureaustausche im S-Protein aufweist. Diese Variante, 501Y.V2, gehört zur Linie B.1.351. Auch diese Variante hatte andere Varianten verdrängt, so dass ihre erhöhte Transmissibilität bekannt war. In vitro experimentelle Untersuchungen deuteten zudem darauf hin, dass zumindest zwei der kennzeichnenden Aminosäureänderungen (K417N und E484K) die Wirksamkeit bestimmter neutralisierender Antikörper verringern. Klinisch bedeute dies, dass eine Komponente der Immunantwort gegen Viren weniger wirksam war, welche diese Änderung aufweisen. Ebenfalls unter Beobachtung stand bereits vo dem 01.02.2021 die aus Brasilien berichtete Virusvariante B.1.1.28.P1 (auch: 501Y.V3) mit 10 Änderungen im S-Protein, von denen einige mit den o.g. S-Protein- Mutationen der 501Y.V2 Variante nahezu übereinstimmen (K417T, E484K, N501Y). Auch in Deutschland waren bereits seit Dezember 2020 Infektionen mit diesen Varianten bekannt geworden: Am 24.12.2020 berichtete beispielsweise das Land Baden-Württemberg erstmals über einen Nachweis von B.1.1.7 und bis Februar 2021 waren Fälle in mehreren Bundesländern und einzelne Ausbrüche mit der Variante bekannt geworden. Bereits am 12.1.2021 hatte Baden-Württemberg auch erstmals über einen Nachweis von B.1.351 berichtet und auch insofern waren bis Februar Fälle und Ausbrüche in mehreren Bundesländern bekannt geworden. Am 22.1.2021 hatte das Land Hessen erstmals über einen Nachweis der Variante B.1.1.28 P.1 berichtet und weitere Fälle und Ausbrüche wurden im Februar 2021 bereits erwartet. Sodann war der Verbreitungsgrad der neuen Varianten in Deutschland noch nicht genau erfasst, weil die molekulare Surveillance noch ausgebaut wurde, weshalb noch unklar war, wie sich diese neuen Varianten auf die Situation in Deutschland auswirken würden, wobei angesichts der erhöhten Übertragbarkeit der neuen Virusvarianten zumindest die Möglichkeit bestand, dass noch mehr Menschen an SARS-Cov-2 erkranken und sich die Lage weiter verschärfen würden. Deshalb war es umso wichtiger, die bekannten Regeln – mindestens 1,5 Meter Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Masken tragen und lüften – konsequent einzuhalten, um generell eine Übertragung von SARS-CoV-2 zu verhindern, die Ausbreitung der neuen, noch leichter übertragbaren Variante einzudämmen und damit der Überbeanspruchung der Krankenhäuser und Gesundheitsämter entgegenzuwirken (RKI, Übersicht und Empfehlungen zu neuen SARS-CoV-2-Virusvarianten, Stand: 25.01.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 68, juris).

 

Die Erkenntnis, dass OP-Masken zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Verbreitung in Anbetracht der noch gefährlicheren, inzwischen auch in Deutschland angekommenen Virusvarianten des SARS-CoV-2 unzureichend war, bedingte eine weitere Überarbeitung der bisherigen Strategien in der Gestalt einer Verschärfung der bisherigen Corona-Schutzvorschriften. Zu diesen gehört das oben ausführlich dargestellte bußgeldbewährte Verbot zum Tragen bloßer OP-Masken in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen (vgl. exemplarisch: § 1h CoronaVO BW in der Fassung vom 23.01.2021). Zur Begründung der diesbezüglichen 5. ÄnderungsVO zur CoronaVO führt beispielsweise die Landesregierung des Landes Baden-Württemberg ausdrücklich aus, dass FFP2-Masken und die vergleichbaren Standards bei Erwachsenen einen deutlich besseren Infektionsschutz darstellen (vgl. Begründung zur 5. ÄnderungsVO vom 23. Januar 2021 zur 5. Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 30. November 2020, Seite 8, letzter Absatz; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 69, juris).

 

Aus der Sorge über die mögliche Ausbreitung von Virusvarianten durch Arbeitsuchende in Deutschland kündigten Bundesarbeitsminister Heil und der damalige Bundesgesundheitsminister Spahn am 28.01.2021 bereits gemeinsam an, künftig auch für Menschen in der Grundsicherung kostenlose FFP2-Masken bereit zu stellen, weil man die gesamte Gesellschaft im Blick behalten müsse und Schutzmittel, die jetzt notwendig seien, keine Frage des Geldbeutels sein dürften (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/kostenlose-masken-1846278; zuletzt aufgerufen am 31.01.2021; (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 70, juris).

 

Gegen die inhaltliche Ausgestaltung des generellen Mehrbedarfs zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen aus § 21 Abs. 6 SGB II entsprechend den Anforderungen der FFP2-Standards kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, entsprechende Aufwendungen wären bereits durch den Regelbedarf nach § 20 SGB II gedeckt gewesen. Die Bejahung eines Mehrbedarfsanspruchs ist zwar nur für denjenigen Bedarf angezeigt, der nicht schon von anderweitigen Bedarfen nach den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird und ein Mehrbedarf gemäß der Legaldefinition in § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II nur dann unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht, weshalb ein atypischer Mehrbedarf der streitbefangenen im Sinne des § § 21 Abs. 6 SGB II nur dann entsteht, wenn er so erheblich ist, dass durch die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen – das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist (vgl. BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09 u.a.; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 71, juris).

 

Indes gewährleisten in tatsächlicher Hinsicht die für die Leistungsberechnung des Arbeitslosengeldes 2 im Jahr 2021 maßgeblichen Regelbedarfssätze nicht mehr realitätsgerecht das zur Sicherung des Lebensunterhaltes während der Corona-Pandemie erforderliche Minimum einschließlich der zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen für Dienstleistungen und Güter auch in Gestalt der Mehrkosten für die Beschaffung von FFP2-Masken. Die pauschalierten Regelbedarfe umfassen neben den laufenden Bedarfen des § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II – insbesondere der Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens – grundsätzlich alle laufenden Bedarfe, die ihrer Natur und Zweckbestimmung nach mit gewisser Regelmäßigkeit wiederkehren, einmalige oder in größeren Zeitabständen auftretende Bedarfe. Welche verbrauchsrelevanten Ausgaben konkret und in welcher Höhe umfasst sind, ergibt sich aus den Festlegungen des Gesetzgebers auf der Grundlage einer regelmäßigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 20 [Stand: 06.01.2021], Rn. 37).

 

Im Bereich der Gesundheitsfürsorge ist die Absicherung gegen die Risiken von Krankheit und Pflegebedürftigkeit grundsätzlich durch die Einbeziehung der Arbeitslosengeld II- und Sozialgeldempfänger:innen in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung nach den §§ 5 Abs. 1 Nr. 2a; 10 SGB V, §§ 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a; 25 SGB XI und die Leistungen zur freiwilligen bzw. privaten Kranken- und Pflegeversicherung nach § 26 SGB II gewährleistet (Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 20 [Stand: 06.01.2021], Rn. 51). Zuletzt hat der Gesetzgeber eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 2016, S. 3159) vorgenommen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 72, juris).

 

Ein Regelbedarfsanteil für die Anschaffung von FFP2-Masken und anderen Gütern und Dienstleistungen zu Minderung der COVID-19-Ansteckungsgefahr war im Rahmen dieser letztmaligen Fortschreibung der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsangaben nicht ermittelt bzw. berücksichtigt worden. Damals wurde naturgemäß noch nicht vorhergesehen, das sich der entweder noch inexistente oder zumindest gänzlich unbekannte SARS-CoV-2 ab 2020 in Deutschland verbreiten würde. Erst recht wurde nicht statistisch ermittelt bzw. bei der Bedarfsfestsetzung zugrunde gelegt, welche Kosten der Gebrauch von FFP2-Masken gegen SARS-CoV-2 im Jahr 2021 in Anbetracht der nachfragebedingten Verknappung dieses zuvor in Krankenhäusern eingesetzten Schutzmittels auslösen würde. Es bestand schlechterdings noch kein Anlass, in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe statistisch zu untersuchen, in welchem Umfang FFP2-Masken privat genutzt werden. Damals wurden diese ausschließlich für Medizinberufe konstruiert und fabriziert. Infolge der erst nachträglich eingetretenen Corona-Pandemie wurde jedenfalls ab 01.02.2021 durch den bisherigen Regelbedarfssatz ohne eigenen Anteil für FFP2-Masken nunmehr das menschenwürdige Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht mehr gewährleistet, sodass schon deswegen der Gesamtbedarf aller zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Ausgaben einen im Einzelfall besonderen Mehrbedarf im Sinne der Norm darstellten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 73, juris).

 

Allein die Kosten für FFP2-Masken wichen so erheblich von einem durchschnittlichen Regelbedarf ab, dass sie selbst unter Berücksichtigung anderweitiger Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten und Zuwendungen Dritter nicht zu decken waren. Im Jahr 2021 entfielen auf den im Fall einer alleinstehenden volljährigen Arbeitsuchenden maßgeblichen Regelbedarfssatzes rechnerisch 17,02 € auf alle Bedarfe für die Gesundheitspflege. Dieser Betrag folgt aus dem absoluten Anteil der Abteilung Gesundheitsfürsorge entsprechend den regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben laut EVS, der Höhe des auf ihrer Grundlage nach § 8 RBEG als Regelbedarf festgelegten Satzes für alle Abteilungen zusammen sowie dessen jährlicher Anpassungen nach § 2 der jeweiligen Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung (RBSFV). Der ursprüngliche Betrag von 15,- € für den Bereich der Gesundheitspflege setzte sich dabei gemäß der Begründung des Entwurfs zum RBEG vom 17.10.2016 aus folgenden Verbrauchsausgaben eines Erwachsene zusammen:

 

 

- pharmazeutische Erzeugnisse – für gesetzliche Krankenversicherte – mit Rezept (vor Eigenanteil/Zuzahlung): 3,56 €;

- pharmazeutische Erzeugnisse mit/ohne Rezept (verauslagter Gesamtbetrag): 5,91 €;

- andere medizinische Erzeugnisse – für gesetzlich Krankenversicherte – mit Rezept (nur Eigenanteil/Zuzahlung): 0,52 €;

- andere medizinische Erzeugnisse mit/ohne Rezept (verauslagter Gesamtbetrag): 2,31 €;

- therapeutische Mittel und Geräte (einschl. Eigenanteile): 2,70 €

- Summe aller für die Gesundheitspflege regelbedarfsrelevanten Ausgaben: 15,00 € (vgl. BT-Drs. 18/9984 S. 41).

(SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 74f., juris).

 

Aus dem für sämtliche Ausgaben der Gesundheitspflege vorgesehenen Regelbedarfsanteil von mtl 17,02 € war jedenfalls ab 01.02.2021 der hier streitbefangene zusätzliche Finanzierungsbedarf an FFP2-Masken in einer bedarfsgerechten Anzahl nicht zu decken. Allein die hierfür allmonatlich anfallenden Kosten waren bereits für sich genommen höher als der für sämtliche Ausgaben der Gesundheitspflege im Jahr 2021 monatlich in Anschlag gebrachte Regelbedarfsanteil (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 76, juris).

 

Es war Arbeitsuchenden auch nicht zuzumuten, ihren vom Regelbedarfssatz für den Lebensbereich der Gesundheitsfürsorge nicht gedeckten Mehrbedarf an FFP2-Masken anderweitig auszugleichen. Arbeitsuchende können eigenverantwortlich über die konkrete Verwendung des pauschalierten Regelbedarfs entscheiden. Indessen ist aber zu berücksichtigen, dass ihre Einsparobliegenheiten nur in Bezug auf ihre hiermit korrespondierenden freiwilligen Auswahlfreiheiten zwischen verschiedenen eigennützigen Konsumgütern bzw. –leistungen bestehen. Soweit für Arbeitsuchende keinen Freiraum für Auswahlentscheidungen besteht, entfällt auch die hierzu korrespondierende Einsparobliegenheit. In Bezug auf den Einsatz von FFP2-Masken gestanden jedenfalls ab 01.02.2021 §§ 12 Abs. 2, § 22 Abs. 2, § 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 StGB (exemplarisch in Baden-Württemberg: i.V.m. §§ 1h und 1i CoronaVO) den Arbeitsuchenden aber gerade kein freies Recht zu, die dort verbindlich und straf- sowie bußgeldbewährt vorgeschriebenen Hygieneartikel nicht zu gebrauchen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 77, juris).

 

Erst recht konnte von Arbeitsuchenden nicht verlangt werden, dass sie zugunsten der dem Allgemeinwohl dienenden infektionsschutzbedingten Beschaffung von FFP2-Masken solche Einsparungen vornehmen, welche sich zulasten der Befriedigung ihrer eigenen individuellen existentiellen Grundbedürfnisse in anderen Lebensbereichen auswirken. Arbeitsuchenden müssen die ihnen zur eigenverantwortlichen Verwendung für sich selbst und ihre Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft in lediglich existenzsichernder Höhe überlassenen Mittel nicht zugunsten der Allgemeinheit in fremdverantwortlicher Weise einsetzen. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB II beschränkt insofern unmissverständlich die Obliegenheiten von Arbeitsuchenden in persönlicher Hinsicht auf sich selbst und die mit ihnen jeweils in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Im SGB II ist nicht die Rede davon, dass Arbeitsuchende mit ihrem Arbeitslosengeld 2 einen Beitrag zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung leisten müssten. Stattdessen haben sie gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB II nur zur Bestreitung „ihres“ eigenen Lebensunterhalts alle Möglichkeiten, Mittel und Kräfte in eigener Verantwortung zu nutzen. Eine Pflicht zur allgemeinnützigen Verwendung von Grundsicherungsleistungen ist dem SGB II hingegen fremd. Vielmehr decken die im SGB II vorgesehenen Leistungen gemäß § 3 Abs. 3 SGB II nur den Bedarf der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Auch nach den oben bereits dargestellten Wertentscheidungen des Gesetzgebers in § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 7 und 8 SGB II sollen rechtsverbindlich vorgeschriebene und Dritten oder dem Allgemeinwohl zugutekommende bzw. fremdnützige Aufwendungen den Arbeitsuchenden gerade nicht Einsparungen in anderen Lebensbereichen abverlangen, s. o. (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 78, juris).

 

Das den Arbeitsuchenden durch (die Corona-Verordnungen der Bundesländer sowie) §§ 12 Abs. 2, § 22 Abs. 2, § 23 Abs. 1, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 StGB abverlangte Tragen von FFP2-Masken bezweckte vorrangig den Schutz der Allgemeinheit vor der weiteren Verbreitung des SARS-CoV-2. Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Maskenpflicht in der CoronaVO war gerade nicht das SGB II, sondern § 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit §§ 28 bis 31 und § 36 Absatz 6 Satz 5 IfSG. Das IfSG dient § 1 IfSG zufolge nicht der Gewährleistung des individuellen Existenzminimums sozial hilfebedürftiger Menschen, sondern der Abwehr epidemiologischen Gefahren. Nichts Anderes gilt für die o. g. Vorschriften des StGB, welche bereits das unmittelbare Ansetzen dazu, eine andere Person mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung an der Gesundheit durch eine Ansteckung mit SARS-Cov-2 zu schädigen, sogar unter eine Mindestfreiheitsstrafe stellen. Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums würde daher verletzt, wenn zu Lasten der knapp fünf Millionen sozial schwächsten Mitglieder der Gesellschaft die Einsparungsobliegenheit statuiert würde, wonach sie ihre Bedürfnisse an „Bett, Brot und Seife“ in nicht mehr menschenwürdiger Art und Weise decken dürften, weil sie den wohlhabenderen Gesellschaftsschichten einen epidemiologischen FFP2-Masken-Dienst erweisen müssen und ihre Mitmenschen keine gefährlichen Körperverletzungen (in Form von ggfs. tödlich verlaufender Infektionskrankheiten) zufügen dürfen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 79, juris).

 

Ungeachtet all dessen bestanden keine „Lockdown“-/ bzw. Corona-bedingten Einsparungsmöglichkeiten für Arbeitsuchende. Dem Statistischen Bundesamt zufolge stieg in Deutschland im Laufe des Jahres 2021 (bzw. zwischen Dezember 2020 und Dezember 2021) der harmonisierte Verbraucherpreisindex um 5,7 Prozent an und war im Jahresdurchschnitt 3,2 Prozent höher als im Vorjahr (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 025 vom 19.01.2022, www. destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/01/PD22_025_611.html). Es ist daher zwar plausibel, dass sich die pandemiebedingt allgemein geänderten Lebensumstände zwangsläufig auch teilweise derart auf das durchschnittliche Verbrauchsverhalten auswirkten, dass in einigen Bezügen geringere Verbrauchsausgaben erfolgten als zuvor. Dass die Kosten der Lebensführung hierdurch insgesamt gesunken wären, ist indes – rückblickend – schlechterdings falsch und war bereits Anfang 2021 prognostisch ohne Weiteres vorhersehbar (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 80f., juris).

 

Die Nettofolgen der Corona-Pandemie auf den durchschnittlichen Grundsicherungshaushalt konnten ohne eine verlässliche Untersuchung nach wissenschaftlichen Maßstäben durchaus abgeschätzt werden. Dergleichen wurde jedenfalls von großen Teilen der Zivilgesellschaft gemutmaßt. So wurde beispielsweise am 25.01.2021 unter Hinweis auf die im Zuge der aktuellen Pandemie vermeintlich notwendigen Mehraufwendungen eine Anhebung des oben genannten Regelbedarfssatzes um 1/3 auf „mindestens 600,- €“ gefordert. Mitgetragen wurde dieser Aufruf unter anderem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, von ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, vom AWO Bundesverband e.V., vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V., von der Diakonie Deutschland - Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., vom Sozialverband Deutschland e.V., vom Sozialverband VdK e.V., vom Volkssolidarität Bundesverband e.V., vom Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V., vom Deutscher Kinderschutzbund Bundesverband e.V., vom Deutsches Kinderhilfswerk e.V., vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, von Friends of the Earth Germany, vom Deutscher Kulturrat e.V., vom Deutscher Mieterbund e.V., vom Tafel Deutschland e.V., vom foodwatch e.V., vom BAG Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V., vom Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen e.V., vom Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V., vom DEUTSCHE DIABETES FÖDERATION e.V., vom Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) e.V., vom Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V., vom Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V., vom Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe - DBfK Bundesverband e.V., vom Deutscher Wohlfahrtsverband für Gehör- und Sprachgeschädigte GSW e.V., vom Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS e.V.) vom PARITÄTisches Bildungswerk Bundesverband e.V., vom ADRA Deutschland e.V., von der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), von NaturFreunde Deutschlands /, vom Advent Wohlfahrtswerk e.V., vom PFAD Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien e.V., vom Sanktionsfrei e.V., vom Sozialwerk des dfb (Dachverband) e.V., vom Verband Deutscher Schullandheime e.V. und vom Zukunftsforum Familie e.V. (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 81, juris).

 

Es ist auch nicht ersichtlich, dass der zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie generell in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen für Dienstleistungen und Güter in Gestalt (auch) der Mehrkosten für die Beschaffung von FFP2-Masken anderweitig durch Zuwendungen ganz oder teilweise erfüllt worden wäre. FFP2-Masken konnten von Arbeitsuchenden mit Sicherheit nicht selbst in Heimarbeit hergestellt werden (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 82, juris).

 

Arbeitsuchende kamen in Ermangelung eines Arbeitgebers auch nicht in den Genuss von § 3 SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung (Corona-ArbSchV) vom 21. Januar 2021 oder anderen Spezialschutzvorschriften. Die aus dieser Rechtsverordnung des Arbeitsministeriums ableitbaren Wertungen sind auch nicht auf das Grundsicherungsrecht übertragbar. Sie betreffen das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und die Frage, wer für den Maskenbedarf in dieser privaten Vertragsbeziehung aufzukommen hat, wenn ein Arbeitnehmer aufgrund einer fremdnützigen Geschäftsbesorgung zum Selbst- und Fremdschutz einer Mund-Nasen-Bedeckung bedarf. Die hiermit geregelten Sachverhalte und Interessenkonflikte sind ganz anderer Natur als das öffentlich-rechtliche Grundsicherungsverhältnis zwischen Jobcenter und Arbeitsuchenden. Überdies: Wenn das Arbeitsministerium bei seinen ursprünglichen Überlegungen zur Corona-ArbSchV geblieben und ein grundsätzliches Mund-Nasen-Bedeckung-Nivau des FFP2-Standards eingeführt hätte, würde dieses Schutzniveau für jedwede Tätigkeit gelten; d. h. z. B. auch, wenn ein einsamer Landschaftsgärtner körperliche Arbeiten im Freien verrichtet. Der Verzicht hierauf seitens des Arbeitsministers indiziert nicht die Wertung, dass Arbeitsuchende beim Einkaufen, im Wartezimmer, im Pflegeheim, in der Straßenbahn, im Fahrstuhl, im Krankenhaus etc. keine FFP2-Masken tragen sollten (Fortsetzung von: SG Karlsruhe,11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER, Rn. 92; entgegen: SG Karlsruhe, 01.03.2021, S 4 AS 470/21 ER, Rn. 48; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 72, juris).

 

Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sah ebenfalls keine Anspruchsgrundlage für die Versorgung mit FFP2-Masken vor (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 83, juris). Dem persönlichen Anwendungsbereich von §§ 1 und 2 der Verordnung zum Anspruch auf Schutzmasken zur Vermeidung einer Infektion mit dem Corona Virus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung – SchutzmV) unterfielen Arbeitsuchende mangels Zugehörigkeit zu einer der darin gelisteten sog. „Risikogruppen“ regelmäßig nicht. In § 1 Abs. 1 und § 2 SchutzmV wurde sie dann am 14.12.2020 dahingehend ergänzt, dass alle Bezieher von Arbeitslosengeld II und alle, die mit einer solchen Person in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II leben, einen Anspruch auf einmalig zehn FFP2-Masken haben.

 

Die einmalige Sachleistung von zehn Mund-Nasen-Bedeckungen deckte indes den generellen Bedarf von Arbeitsuchenden nur für einen ganz unerheblichen Zeitraum (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 84, juris). Zehn Exemplare  waren jedenfalls nicht genug für die im Verfahren S 12 AS 2208/22 streitbefangenen elf Bewilligungsmonate (Februar 2021 bis Juni 2021 sowie November 2021 bis April 2021) bzw. sämtliche bis zum Ende der Covid-19 Pandemie nachfolgenden Leistungsmonate. Denn nach Maßgabe von § 28b Infektionsschutzgesetz war die Covid-19-Pandemie in Deutschland erst Ablauf mit des 07.04.2023, d. h. 26 Monate später beendet.

 

Grundlage dieser gerichtlichen Schätzung kann indes nicht allein der das Grundsicherungsrecht für Arbeitsuchende prägende Grundsatz des „Forderns“ aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II sein. Danach gilt zwar bei der Bemessung von solchen Grundsicherungsleistungen, die zur eigennützigen Verwendung für Konsumgüter und -dienstleistungen bestimmt sind, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen müssen. Im vorliegenden Einzelfall des § 21 Abs. 6 SGB II kann dieser Maßstab aus teleologischen Gründen zur Bemessung der Höhe des fremdnützigen Mehrbedarfs an FFP2-Masken jedoch keine uneingeschränkte Anwendung finden. Der infektionsschutzspezifische Schutzweck der Mehrbedarfsanerkennung – d.h.: die Abwendung einer allgemeinen epidemischen Gefahr – bedingt stattdessen eine teleologische Erweiterung der normativen Schätzgrundlagen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 92, juris). Der mit der grundsätzlichen Anerkennung des Mehrbedarfs im Grundsicherungsrecht verwirklichte Schutzweck würde andernfalls nicht erfüllt. Dieser beschränkt sich aus den oben ausgeführten Gründen gerade nicht auf die Sicherung der Befriedigung individueller existentieller Bedürfnisse der Arbeitsuchenden selbst oder der Angehörigen ihrer Bedarfsgemeinschaft. Vielmehr dient die grundsicherungsrechtliche Berücksichtigung des Mehrbedarfs nach Dienstleistungen und Gütern der Minderung der allgemeinen Infektionsgefahr und damit der Gefahrenabwehr. Sie bezweckte den Schutz der Allgemeinheit gegen eine weitere respiratorische Verbreitung von SARS-CoV-2 seitens des jeweils mehrbedarfsberechtigten Arbeitsuchenden (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 93, juris).

 

Dem Infektionsschutz der Allgemeinheit wäre aber insbesondere nicht gedient, wenn die Anzahl der erforderlichen FFP2-Masken unter der (irrigen) Annahme bemessen würde, Arbeitsuchende schöpften sämtliche Möglichkeiten zur Beendigung und Verringerung ihres Maskenbedarfs tatsächlich aus. Ergänzend zu dieser Einsparungsobliegenheit ist zur Schätzung des Maskenbedarfs eine wertende Betrachtung dahingehend unerlässlich, inwieweit die Ausschöpfung bestehender Einsparungsmöglichkeiten beim Maskengebrauch den Arbeitsuchenden unter Berücksichtigung ihrer sonstigen infektionsschutzbedingten Grundrechtseinschränkungen zuzumuten ist. Schließlich muss der hierdurch normativ erweiterte Grundsatz des Forderns auch um die Prognose ergänzt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Arbeitsuchende in welchem Umfang von zumutbaren Einsparmöglichkeiten auch zu Gunsten der Allgemeinheit tatsächlich Gebrauch machen, soweit diese für sie individuelle Nachteile bedeuten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 94, juris).

 

Die grundsätzliche Anerkennung des Mehrbedarfs an FFP2-Masken erfüllte ihren Infektionsschutzweck ohne eine solche ergänzende Zumutbarkeitsprüfung und ohne eine solche ergänzende Prognose nicht. Übertriebene Einsparerwartungen gegenüber Arbeitsuchenden hätten vielmehr zur Folge, dass Arbeitsuchende vergleichsweise weniger FFP2-Masken bereitgestellt würden. Paradoxer Weise verschlimmerte die Bereitstellung von FFP2-Masken in zu niedriger Anzahl sogar die epidemiologische Lage verschlimmerte. Ggfs. würden bereits nicht mehr funktionstüchtige Exemplare weiter genutzt, durch deren Gebrauch nur der Anschein eines wirksamen Selbst- und Fremdschutzes erweckt, die jeweiligen Kontaktpersonen über das reale Ausmaß der Ansteckungsgefahr getäuscht, ein irrtumsbedingter Verzicht auf die im Umgang mit Personen ohne funktionstüchtige FFP2-Maske gebotene Vorsicht hervorgerufen und die Gefahr einer Verbreitung von SARS-Cov-2 letztlich sogar mehr erhöht würde, als wenn Arbeitsuchende schlechterdings ohne irgendeine Mund-Nasen-Bedeckung am sozialen Leben teilnehmen und Dritte infolgedessen die erhöhte Ansteckungsgefahr erkennen und sie durch die Einhaltung eines größeren Abstands von ihnen kompensieren könnten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 95, juris).

 

Eine sachangemessene Bemessung des Bedarfs an FFP2-Masken folgt richtiger Weise anhand einer Gefahrenabwehrprognose. Nach deren Ergebnis war die (Selbst-) Versorgung mit wesentlich mehr als zehn neuen FFP2-Masken während des mehrjährigen Pandemieverlaufs geeignet, erforderlich und angemessen, um dem Risiko einer weiteren Verbreitung von SARS-Cov-2 durch Arbeitsuchende sachangemessen entgegenzuwirken. Erst die Verfügungsmöglichkeit über FFP2-Masken in einer solchen Anzahl und Regelmäßigkeit versetzte Arbeitsuchende in die Lage, in zumutbarer Weise am Infektionsschutz mitzuwirken. Im Rahmen einer pandemieadäquaten sozialen Teilhabe müssen Arbeitsuchende sowohl sich als auch andere davor schützen können, respiratorisch virushaltige Partikel beim Atmen, Husten, Sprechen, Singen und Niesen aufzunehmen und auszustoßen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 96, juris).

 

Der zuvörderst gefahrenabwehrrechtliche Maßstab dieser Schätzung folgte zum 01.02.2021 aus dem Schutzzweck des streitbefangenen Mehrbedarfs. Der generelle Mehrbedarf an FFP2-Masken war gemäß § 21 Abs. 6 SGB II i.V.m. § 1 IfSG (in Baden-Württemberg i.V.m. §§ 1h und 1i CoronaVO BW) anzuerkennen, um den Infektionsschutz der Allgemeinheit vor einer Verbreitung von SARS-Cov-2 grundsicherungsrechtlich zu flankieren (s.o.). Der spezielle Infektionsschutzzweck aus § 21 Abs. 6 SGB II i.V.m. § 1, § 28a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2, Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 bis 3, § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. §§ 1h, 1i CoronaVO den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II überlagerte daher teilweise den für die Bemessung der Grundsicherungsleistungen grundsätzlich geltenden Maßstab des „Forderns“. Den Gesamtmaßstab für die Verwirklichung des mit der Berücksichtigung des Mehrbedarfs an FFP2-Masken verfolgten Schutzwecks bildete sodann gleichwohl erst eine integrative Betrachtung sowohl des Infektionsschutzes als auch des verfassungsrechtlich angemessenen Umfangs sozialer Teilhabe. Erst unter Zugrundelegung des so ermittelten Schutzzielkorridors ließ sich im Rahmen der sich anschließenden Prüfung die zur Zweckverwirklichung konkret erforderliche Maskenanzahl unter Berücksichtigung der technischen Möglichkeiten und Grenzen beim erstmaligen Gebrauchs von FFP2-Masken sowie der technischen Limitierungen bei ihrer Wiederverwendung ermitteln (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 97, juris).

 

In rechtlicher Hinsicht hatte zum 01.02.2021 die zur Bemessung der Anzahl der zum Ausgleich der Maskenpflichten notwendigen FFP2-Masken statthafte Gefahrenabwehrprognose insbesondere folgende gesetzeskräftige Zumutbarkeitserwägung des IfSG zu beachten: Behördliche bzw. gerichtliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von SARS-Cov-2 waren auch betreffend eine Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung insbesondere an dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auszurichten (§ 28a Abs. 3 Satz 1 IfSG). § 28a Abs. 6 Satz 1 IfSG zufolge konnten Schutzmaßnahmen nach § 28a Abs. 1 IfSG nur kumulativ angeordnet werden, soweit und solange es für eine wirksame Verhinderung der Verbreitung von SARS-Cov-2 erforderlich war. Gemäß § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG konnten einzelne soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, von den Schutzmaßnahmen ausgenommen werden, soweit ihre Einbeziehung zur Verhinderung der Verbreitung von SARS-Cov-2 nicht zwingend erforderlich ist. Nach § 28a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 3 IfSG waren die Untersagung von Versammlungen oder Aufzügen im Sinne von Artikel 8 des Grundgesetzes und von religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften sowie die Untersagung des Betretens oder des Besuchs von Einrichtungen im des Gesundheitswesens, wie zum Beispiel Alten- oder Pflegeheimen, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Entbindungseinrichtungen oder Krankenhäusern für enge Angehörige von dort behandelten, gepflegten oder betreuten Personen, nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von SARS-Cov-2 erheblich gefährdet wäre. § 28a Abs. 6 Satz 2 IfSG bestimmte, dass bei behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der von SARS-Cov-2 soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einzubeziehen und zu berücksichtigen sind, soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung von SARS-Cov-2 vereinbar ist. Gemäß § 28a Abs. 2 Satz 2 IfSG durften Schutzmaßnahmen nicht zur vollständigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen führen; ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 98, juris).

 

Um den sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen der derzeitigen sozialen Isolation entsprechend der CoronaVO ab dem 01.02.2021 hinreichend Rechnung zu tragen, war bei der Bemessung der als angemessenen anzusehenden sozialen Teilhabe daneben besonderes Augenmerk darauf zu legen, dass auch die verfassungskräftigen Vorgaben des Grundrechtskatalogs gewahrt bleiben. Die Einschränkungen der Grundfreiheiten durch die Bestimmungen der CoronaVO wirkten in ihrer Gesamtheit indes besonders schwer. Die unter dem Schlagwort des sog. „Lockdown“ zusammengefassten Maßnahmen griffen unmittelbar und insbesondere in das soziale Grundrecht auf ein menschenwürdiges Teilhabeminimum (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), in das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des GG), in das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), in das Gleichheitsgrundrecht auf gleiche Teilhabe (Art. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG), in das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 4 GG), in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), in das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) sowie in das Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG) ein (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 99, juris).

 

Die besondere Schwere und Tragweite dieser kumulativen Eingriffe verlangte durch das Zusammen- und Wechselwirken der einzelnen Ge- und Verbote der CoronaVO den Arbeitsuchenden derzeit ein ganz und gar außergewöhnlich hohes Maß an sozialem Rückzug in einer Vielzahl von Lebensbereichen ab. Die Vorschriften zu den Einschränkungen für Krankenhäuser, Einrichtungen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf und ambulante Pflegedienste (§ 1h CoronaVO) und betreffend die Anforderungen an die Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Bereichen (§ 1i CoronaVO) sind bereits oben auszugsweise wiedergegeben worden. Daneben waren grundrechtsrelevante Eingriffe zu berücksichtigen durch die weitergehende Untersagungen und Einschränkungen von Veranstaltungen (§ 1b CoronaVO), die Ausgangsbeschränkungen (§ 1c CoronaVO), die weitergehenden Betriebsuntersagungen und Einschränkungen von Einrichtungen (§ 1d CoronaVO), das Alkoholverbot (§ 1e CoronaVO), die verordneten Beschränkungen von Veranstaltungen von Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften zur Religionsausübung sowie von Veranstaltungen bei Todesfällen (§ 1g CoronaVO), die allgemeine Abstandsregel (§ 2 CoronaVO), die Spezialvorschriften für Ansammlungen, private Zusammenkünfte und private Veranstaltungen (§ 9 CoronaVO), die sonstigen Veranstaltungen, betreffend die in § 12 CoronaVO geregelten Veranstaltungen von Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie die Veranstaltungen bei Todesfällen (§ 10 CoronaVO) und die Betriebsuntersagungen und die Einschränkungen von Einrichtungen (§ 13 CoronaVO) (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 100, juris).

 

Unter Zugrundelegung dieser zahlreichen, schweren und Anfang Februar 2021 bereits für die Dauer von drei Monaten andauernden Eingriffe war es zur Wahrung der Grundfreiheiten sowie zur Beförderung der körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheit verfassungsrechtlich geboten, die bis auf Weiteres andauernde infektionsschutzbedingte Notwendigkeit zur sozialen Distanzierung im größtmöglichen Ausmaß durch geeignete, auch kostspielige Maßnahmen abzumildern, um einen größtmöglichen Freiraum für soziale Kontakte aufrechtzuhalten. Zwischen Infektionsschutz und fiskalischen Erwägungen einerseits und Grundrechts- bzw. Gesundheitsschutz andererseits war im Wege der praktischen Konkordanz die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe unter Verwendung kostspieliger FFP2-Masken nicht nur zuzubilligen, soweit dies zur Verrichtung solcher lebenspraktischer Erledigungen erforderlich war, welche sich in einer arbeitsteilig, kleinfamiliär und individualistisch atomisierten postmodernen Gesellschaft an sich sozialer Wesen schlechterdings nicht dauerhaft von zuhause aus bewerkstelligen lassen (z. B. Krankenpflege, Altenpflege, Eingliederung von Menschen mit Behinderung, Ausübung systemrelevanter Berufe, Beerdigung Verstorbener, Presseberichterstattung, Glaubensausübung, Pflege familiärer, ehelicher und (lebens-)partnerschaftlicher Beziehungen, Bildung etc.). Über diese im Rahmen der CoronaVO Anfang 2021 zulässigen Möglichkeiten hinaus war es von Verfassungs wegen zur Vermeidung andernfalls in zeitlicher und qualitativer Hinsicht übermäßiger Auswirkungen auch Jedermann zuzubilligen, ergänzend zu diesen lebenspraktischen Erledigungen durchschnittlich mehrmals in der Woche grundrechtlich geschützter Freiheiten auch außerhalb der eigenen Wohnung in Anspruch nehmen, nach freiem Belieben zumindest einen oder mehrere auch längere und intensivere private Kontakte zu pflegen und am Gemeinschaftsleben in einer dem sozialen Existenzminimum entsprechenden Art und Weise unter Verwendung kostspieliger FFP2-Masken teilzuhaben, ohne hierdurch seine Mitmenschen respiratorisch an Leib und Leben zu gefährden bzw. gegen Strafgesetzbuch und bußgeldbewährte Maskenpflichten und zu verstoßen. Andernfalls wäre entgegen § 28a Abs. 2 Satz 2 IfSG durch die Gesamtheit der auf Grundlage des IfSG in Baden-Württemberg seit Beginn der Corona-Pandemie erlassenen Schutzmaßnahmen nicht das Mindestmaß an sozialen Kontakten gewährleistet geblieben und diese hätten zu einer übermäßigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen geführt (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 101, juris).

 

Eine derart bzw. dermaßen IfSG- und grundrechtskonforme Gewährleistung sozialer Teilhabe erforderte es, Arbeitsuchenden unter den Bedingungen der Corona-Pandemie wöchentlich eine erhebliche Anzahl an neuen Mund-Nasen-Schutz-Masken entsprechend den Anforderungen der Standards FFP2 (DIN EN 149:2001), KN95, N95 oder eines vergleichbaren Standards ohne Ausatemventil zur Verfügung zu stellen. Eine in quantitativer Hinsicht hierhinter zurückbleibende Masken-Ausstattung hättte dazu geführt, dass Arbeitsuchende entweder in verfassungswidriger Weise nicht in einem grundrechtskonformen gleichen Mindestausmaß wie andere Bevölkerungsanteile am sozialen Leben teilhaben können oder im Rahmen ihrer sozialen Teilhabe sich selbst, Dritte und die Allgemeinheit nicht durch das Tragen geeigneter Mund-Nasen-Bedeckungen vor einer Infektion mit SARS-Cov-2 schützen könnten bzw. an Leib und Leben gefährdeten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 102, juris).

 

Aus der schieren Vielzahl der Örtlichkeiten, an denen Arbeitsuchende in Anbetracht der großen Ansteckungsgefahr FFP2-Masken nach dem StGB und nach dem IfSG i.V.m. den CoronaVO der einzelnen Bundesländer tragen mussten, bedurfte es mehrmals in der Woche neuer funktionstüchtiger FFP2-Masken zur Bewältigung der üblichen Verrichtungen des alltäglichen Lebens. Ein Aufsuchen der in den COronaVO der Bundesländer zum 01.02.2021 genannten Kontexte in erheblicher Häufigkeit erscheint dem Vorlagegericht unter Abwägung des Grundsatzes des Forderns, des Infektionsschutzes und der Grundfreiheiten der Arbeitsuchenden auch verhältnismäßig im engeren Sinne (vgl. exemplarisch: § 1 und § 1i CoronaVO BW). Immerhin betraf die Maskenpflicht u. a. die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs, insbesondere in Eisenbahnen, Straßenbahnen, Bussen, Taxen, Passagierflugzeugen, Fähren, Fahrgastschiffen und Seilbahnen, an Bahn- und Bussteigen, im Wartebereich der Anlegestellen von Fahrgastschiffen und in Bahnhofs- und Flughafengebäuden, das Aufsuchen der Ausgaben von Getränken und Speisen von Mensen und Cafeterien an Hochschulen und Akademien nach dem Akademiengesetz zwecks Mitnehmen im Rahmen des Außer-Haus-Verkaufs, den Aufenthalt in Arztpraxen, Zahnarztpraxen, Praxen sonstiger humanmedizinischer Heilberufe und der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker sowie in Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, das Betreten von Warte- und Zugangsbereichen von Einkaufszentren, Groß- und Einzelhandelsgeschäften und auf Märkten sowie diesen räumlich zugeordneten Parkflächen, die Teilnahme an praktischen Fahr-, Boots- und Flugschulunterrichten und -prüfungen, das Verweilen innerhalb von Fußgängerbereichen im Sinne des § 3 Absatz 2 Nummer 4 Buchstabe c Straßengesetz sowie auf Wegen im Sinne des § 3 Absatz 2 Nummer 4 Buchstabe d Straßengesetz, den Aufenthalt in geschlossenen Räumen, die für die Öffentlichkeit oder für den Publikumsverkehr bestimmt sind, und schließlich den Besuch auf der Grundschule aufbauender Schulen, beruflicher Schulen, sonderpädagogischer Bildungs- und Beratungszentren umfasst. Seit der 6. Änderung der CoronaVO bzw. mit Wirkung zum 01.02.2021 erstreckte sich die Maskenpflicht auch auf Veranstaltungen bei Todesfällen. Gemessen daran war sodann bei mehrmals in der Woche anstehenden Verrichtungen mindestens eine neue FFP2-Maske nötig, um im Rahmen des nach dem StGB und nach dem IfSG i.V.m. der CoronaVO des jeweils betroffenen Bundeslandes in zulässigem Ausmaß alltägliche Erledigungen verrichten zu können und hierfür die eigene Wohnung verlassen bzw. die in den CoronaVO der Länder genannten öffentlichen Orte aufzusuchen bzw. Grundfreiheiten zu betätigen, ohne sich bzw. Dritte durch die Verwendung von nichtmedizinischen Mund-Nasen-Bedeckungen oder bloßer OP-Masken der Gefahr einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 auszusetzen (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 104, juris).

 

Aus den genannten Gründen war es Arbeitsuchenden ab Februar 2021 – zusätzlich zu den genannten Verrichtungen – zuzubilligen, sich ergänzend hierzu auch die weitere Freiheit zu nehmen, durchschnittlich mehrmals wöchentlich die eigene Wohnung zur Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Freiheiten zu verlassen. Ihnen war zuzugestehen, hierbei nach freiem Belieben jeweils zumindest einen auch längeren und intensiveren privaten Kontakt unter Verwendung einer FFP2-Maske zu pflegen und am Gemeinschaftsleben in einer dem sozialen Existenzminimum derart entsprechenden Art und Weise teilzuhaben (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 105, juris).

 

Zwar konnten auch FFP2-, KN95- und N95-Masken unter bestimmten Umständen mehrfach verwendet werden (https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/aktuelle-infos-zu-corona/faq-corona-verordnung/#c110436, zuletzt aufgerufen am 10.02.2021). FFP2-Masken sind aber als Einmalprodukt konstruiert worden und nach der Nutzung zur Vermeidung weiterer Infektionsrisiken grundsätzlich zu entsorgen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 1). Obwohl FFP-Masken im Privatbereich im Alltag oft mehrfach, sogar an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen verwendet werden, sind FFP-Masken grundsätzlich vom Hersteller als Einmalprodukte und nicht zur Wiederverwendung vorgesehen (BfArM, Hinweise zur Verwendung von Mund-Nasen-Bedeckungen, medizinischen Gesichtsmasken sowie partikelfiltrierenden Halbmasken (FFP-Masken, Stand: 22.01.2021) (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 107, juris).

 

Nach der „Empfehlung organisatorischer Maßnahmen zum Arbeitsschutz im Zusammenhang mit dem Auftreten von SARS-CoV-2, sowie zum ressourcenschonenden Einsatz von Schutzausrüstung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) vom 07.05.2020 sind FFP2-Masken zum einmaligen Gebrauch in Medizinberufen nach einer entsprechenden Schulung konstruiert und produziert worden und selbst bei sachgemäßer Behandlung nach einer maximalen Tragedauer von 75 Minuten für mindestens 30 Minuten abzusetzen. Eine Ersatz-FFP2-Maske wurde daher immer spätestens dann benötigt, wenn ihr Gebrauch mehr als 75 Minuten in Anspruch nahm. Dies war beispielsweise unter Berücksichtigung der Reisezeit im öffentlichen Personenverkehr für Hin- und Rückweg zum eigentlichen Ziel (einschließlich der ggfs. zusätzlichen Zeiten an Bahnsteigen und Bussteigen sowie beim Umsteigen zwischen Bussen und Straßenbahnen) ebenso vorgekommen wie bei der Inanspruchnahme von Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, bei einen Lebensmittelgroßeinkauf für einen Mehrpersonen-Haushalt (einschließlich der Zeiten auf Park- und Warteflächen der Einkaufszentren) oder beim Verweilen in Fußgängerzonen und in für Publikumsverkehr bestimmten Räumen einschließlich der entsprechenden Hin- und Rückwege. Derartige Vorgänge dauerten nicht zuverlässig maximal 75 Minuten. Im ländlichen Raum war dies den längeren Wegen im öffentlichen Personenverkehr geschuldet. Im urbanen Kontext waren die Wege zwar kürzer, aber aufgrund der höheren Einwohnerdichte nicht unter konsequenter Einhaltung von Corona-Mindestabständen nutzbar, sondern nur unter größerer respiratorischer Vorsicht bzw. extensivem Gebrauch von FFP2-Masken (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 109, juris).

 

Indessen ließ sich diese 75-minütige Höchst-Tragedauer von FFP2-Masken auch nicht in praktikabler Weise durch das Ab- und Wiederaufsetzen durch Privatpersonen verlängern. Die für eine sachgemäße Wiederverwendung von FFP2-Masken notwendigen Verhaltensregeln werden von Privatpersonen realistischer Weise unterwegs nicht zuverlässiger Weise einzuhalten, da dies objektiv unmöglich oder allenfalls unter objektiv wenig praktikablen und subjektiv unzumutbaren Vorkehrungen möglich gewesen wäre. Ein zur Wiederverwendung hinreichend sorgfältiger Umgang wird mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nur von einem sehr kleinen Bevölkerungsteil eingehalten werden (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 110, juris).

 

FFP2-Masken wären für einen Wiedergebrauch professionell bzw. dermaßen aufwendig abzunehmen, zwischenzulagern und wieder aufzusetzen gewesen, dass es der Allgemeinheit unterwegs regelmäßig an den hierfür geeigneten Orten, Materialien, Kenntnissen, Fertigkeiten, Freiräumen bzw. an der erforderlichen kollektiven Anpassungsbereitschaft fehlte. Insbesondere konnten FFP2-Masken nicht einfach mit nackten, nicht vorab desinfizierten Fingern in eine Mantel- oder Handtasche gesteckt und bei der nächstbesten Gelegenheit aus dieser wieder mit nackten, nicht vorab desinfizierten Fingern herausgeholt und wiederverwendet werden wie dies allgemeine Übung wurde. Gerade hierdurch entstand die Gefahr, dass die aus der Luft heraus gefilterten Viruspartikel von der Vorderseite der Maske zunächst die Finger oder die Tasche kontaminieren und später hierdurch eine Kontaminierung der Innenseite der Maske oder anderer Oberflächen mit anschließender (Selbst- oder Dritt-) Ansteckung erfolgte (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 111, juris).

 

Diese richterliche Einschätzung beruht auch auf den nachfolgenden Regelungen für die Wiederverwendung von FFP2-Masken des Robert-Koch-Instituts:

- Masken sollten so abgesetzt werden, dass dabei eine Kontamination vor allem der Innenseite verhindert wird. Masken, deren Innenfläche durch Fehler bei der Handhabung möglicherweise kontaminiert wurden, dürfen nicht mehr verwendet werden;

 - Nach dem Absetzen der Maske sind diese trocken an der Luft aufzubewahren und zwischenzulagern; hierfür ist ein abgegrenzter Bereich einzurichten, in dem eine sichere, für andere unzugängliche Masken-Ablage möglich ist; der Ort, an dem die Zwischenlagerung erfolgte, ist unmittelbar nach Entnahme der Maske zu desinfizieren;

- Die bei der Aufbewahrung FFP2-Masken zu tragenden Handschuhe sollen anschließend fachgerecht entsorgt und die Hände desinfiziert werden; beim erneutem Aufsetzen sind sodann andere, zuvor unbenutzte, hygienisch einwandfreie Handschuhe zu tragen. Beim erneuten Anziehen der Schutzmaske ist darauf zu achten, dass eine Verschleppung der Erreger von der möglicherweise kontaminierten Außenfläche auf die Innenfläche verhindert wird;

- Benutzte Einweg-Masken sollen nicht mit Desinfektionsmittel gereinigt werden, da dies die Funktionalität der Maske beeinträchtigen kann.

(Robert-Koch-Institut, „Mögliche Maßnahmen zum Ressourcen-schonenden Einsatz von Mund-Nasen-Schutz (MNS) und FFP-Masken in Einrichtungen des Gesundheitswesens bei Lieferengpässen im Zusammenhang mit der neuartigen Coronavirus-Erkrankung COVID-19“, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Ressourcen_schonen_Masken.pdf?__blob=publicationFile, [zuletzt aufgerufen am 10.02.2021; (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 112-117, juris).

 

FFP2-Masken waren indes zum Privatgebrauch oft an öffentlich zugänglichen Orten aber nicht einmal für die Höchstdauer von 75 Minuten zu gebrauchen, da bereits zuvor ein frühzeitiger Einsatz einer Ersatzmaske erforderlich wurde. Dies war unter anderem der Fall, wenn eine durchfeuchtete FFP2-Maske abgenommen und gewechselt werden musste. Eine durchfeuchtete FFP2-Maske sollte gewechselt werden (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, „Im Alltag Maske tragen“, https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/alltag-in-zeiten-von-corona/im-alltag-maske-tragen.html, zuletzt aufgerufen am 10.02.2021]. Das Durchfeuchten einer FFP2-Maske ließ sich aber an der frischen Luft bei Regen, Schneefall oder Nebel (oder körperlicher Ertüchtigung und dergestalt verstärkter Atmung) nicht vermeiden, da die FFP2-Maske in Ermangelung entsprechender Schleusen zumindest kurz nach dem Verlassen eines maskenpflichtigen Kontextes bzw. kurz vor dessen Aufsuchen beim Wechsel von drinnen nach draußen und umgekehrt den genannten Witterungen ausgesetzt wird. Überdies war es gerade für Brillenträger wegen des Beschlagens ihrer Brille oft nicht möglich oder zweckmäßig, eine Brille trotz des Verlusts des optischen Orientierungssinns für 75 Minuten ununterbrochen aufzulassen, weshalb in Ermangelung einer praktikablen Möglichkeit, die FFP2-Maske im Alltag unterwegs hygieneregelkonform abzunehmen, zwischenzulagern und wiederaufzusetzen je nach Witterung ggfs. mehrfach täglich Ersatz-FFP2-Masken nötig wurden (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 118, juris).

 

Den Einsatz einer Ersatz-FFP2-Ersatz-Maske machten indes regelmäßig die hygienischen Ansprüche an die Handhabung von FFP2-Masken seitens hierfür gerade nicht medizinisch geschulter Privatpersonen erforderlich. Eine richtige Handhabung bedeutete indessen:

- Vor jedem Anlegen der Maske mussten die Hände mindestens 20 Sekunden lang mit Seife gewaschen werden;

- Während des Tragens der Maske war es zu vermeiden, diese zu berühren oder zu verschieben;

- Zum Abnehmen war die Maske an den seitlichen Bändern anzufassen;

- Nach dem Absetzen der Maske sollten die Hände sobald wie möglich gewaschen werden;

(Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, „Im Alltag Maske tragen“, https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/alltag-in-zeiten-von-corona/im-alltag-maske-tragen.html, zuletzt aufgerufen am 10.02.2021; BfArM, Hinweise zur Verwendung von Mund-Nasen-Bedeckungen, medizinischen Gesichtsmasken sowie partikelfiltrierenden Halbmasken FFP-Masken, Stand: 22.01.2021; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 120-121, juris).

 

Auch wenn an einer FFP2-Maske ihr kleines Haltebändchen riss oder sie anderweitig defekt war, musste sie ausgetauscht werden (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 4-5; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 122, juris). Eine Ersatzmaske musste auch zum Einsatz kommen, nachdem die erste FFP2-Maske direkt angehustet oder besonders beansprucht worden war, denn dann war die erste FFP2-Maske zu entsorgen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 4-5; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 123, juris).

 

Untersuchungen hatten bereits vor Februar 2021 ergeben, dass SARS-CoV-2 auch bei Raumtemperatur auf dem porösen Maskenmaterial erst nach mehreren Tagen deutlich an Infektiösität abnimmt. Daher sollte eine FFP2-Maske nicht an aufeinanderfolgenden Tagen getragen werden (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 1). Untersuchungen hatten gezeigt, dass SARS-CoV-2 erst bei Temperaturen von 80 ° C und einer Einwirkzeit von einer Stunde sicher auf und im Maskenmaterial inaktiviert werden können. Erreger der Nasen-, Rachen- und Hautflora konnten andernfalls auf der Maske noch vorhanden sein. Um alle Erreger abzutöten, wäre eine höhere Temperatur nötig gewesen, was jedoch möglicherweise die Filterleistung und Stabilität der Maske beeinträchtigt hätte. Die Temperatur von 80 °C trockener Hitze sollte daher beim Trocknen im Backofen weder unter- noch überschritten werden (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 3). Probemessungen in verschiedenen Backöfen zeigten bei der Einstellung von 80 °C Temperaturschwankungen zwischen 65 °C und 135 °C (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 6). Gemessen hieran war nicht zu erwarten, dass die Masken zuverlässig in Backöfen getrocknet werden konnten (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 128, juris).

 

FFP2-Masken sollten zum Trocknen aber auch nicht auf/über die Heizung gelegt oder gehängt werden. 30 °C bis 40 °C sind für viele Bakterien und Pilze in feuchten Masken optimale Wachstumsbedingungen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 2; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 129, juris).

 

Auch mit anderen häuslichen Hilfsmitteln (Kochtopf/Wasserdampf; Mikrowelle; Spülmaschine; Waschmaschine; UV-Lampe) konnte im Privatgebrauch keine Inaktivierung der SARS-CoC-2-Erreger erfolgen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 4; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 130, juris).

 

SARS-CoV-2 ist auch bei Raumtemperatur über einen langen Zeitraum auf Maskenmaterialien infektiös. Unter der Annahme, dass eine Reduktion um über 95% das mögliche Risiko einer Infektion auf ein vertretbares Maß minimiere, hätten FFP2-Masken frühestens ab dem siebten Tag wieder getragen werden dürfen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 4). Für das häusliche Trocknen von FFP2-Masken bei Raumluft war das Aufhängen an Nägeln oder Haken wie folgt vorzubereiten: Pro Aufhängungsreihe waren sieben Nägel/Haken bereit zu legen und ein trockner, von weiteren Gegenständen freier Platz zu suchen, der von der Breite und Höhe für sieben nebeneinander hängende Masken ausreicht (z. B. Flur, Wohnzimmer, Büro - nicht Küche oder Bad wegen der Luftfeuchtigkeit). Mit der ersten 7er-Reihe für die erste Person war genügend Abstand zu der Reihe für die nächste Person zu halten. Die jeweilige Person und die Wochentage waren zu kennzeichnen, damit immer genau zu sehen ist, welche Maske als nächste getragen werden dürfe. Es war darauf zu achten, dass der Aufbewahrungsort unzugänglich für Kinder ist. Die Inaktivierung der Viren brauchte einige Zeit und die Masken konnten in dieser Zeit infektiös sein. Die FFP2-Maske war nach dem Tragen vorsichtig abzunehmen – ohne die Vorderseite zu berühren. Diese war zum Trocknen z.B. an den „Montags-Haken“ aufzuhängen und musste nun z. B. bis zum nächsten Montag dort hängen bleiben und trocknen, bis sie wieder getragen wurde. Am nächsten Tag war eine neue Maske zu verwenden, welche im Anschluss an den zweiten Haken – z. B. den „Dienstags-Haken“ – zur 7-Tages Trocknung zu hängen gewesen. So wäre Woche für Woche zu verfahren gewesen bis am jeweils darauffolgenden „achten“ Tag wieder die jeweilige „Montags-Maske“ bzw. „Dienstags-Maske“ etc. getragen werden konnte. Danach war wie in der Woche zuvor weiter zu verfahren. Dieser „Trockenzyklus“ sollte nur fünf Mal wiederholt werden. Jeweils zum fünften Mal getragene Masken wären im Hausmüll zu entsorgen gewesen (Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Wissenschaftliche Hochschule Münster/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: „Möglichkeiten und Grenzen der eigenverantwortlichen Wiederverwendung von FFP2-Masken für den Privatgebrauch im Rahmen einer epidemischen Lage“, Version 1.0, Stand: 11.01.2021, Seite 4-5; SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 131, juris).

 

Unter Zugrundelegung dieser Sorgfaltsanforderungen ist in freier richterlicher Beweiswürdigung davon auszugehen, dass seit 01.02.2021 kein nennenswerter Anteil der Bevölkerung willens und fähig gewesen wäre, eine sachangemessen getrocknete (bzw. zum Infektionsschutz gegen SARS-Cov-2 geeignete) FFP2-Maske zu tragen. Um zu verhindern, dass regelmäßig durchschnittlich dutzende Male vorgetragene und infolgedessen für den Infektionsschutz vor COVID-19 völlig ungenügende Masken getragen werden, waren den Arbeitsuchenden so viele neue FFP2-Masken zur Verfügung zu stellen, dass sie jederzeit auf hinreichend neue Masken zurückgreifen konnten und ihrerseits kein Anlass zur Sorge wegen der Wiederbeschaffung neuer FFP2-Masken bestand (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Februar 2021 – S 12 AS 213/21 ER –, Rn. 132, juris).

 

Die mit der kostenfreien Versorgung mit Mund-Nasen-Bedeckungen einhergehende Privilegierung von Arbeitsuchenden gegenüber anderen – insbesondere anderen einkommensschwachen – Bevölkerungsschichten war indes durch Unterschiede hinreichender Art und hinreichenden Gewichts gerechtfertigt, weil Einsparobliegenheiten nur dort bestehen, wo auch Einsparpotentiale vorhanden sind. Die Einsparpotenziale im Bezug existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II unterscheiden sich aber aus zweierlei Gründen ganz wesentlichen von den Einsparpotentialen Angehöriger anderer Gesellschaftsschichten: Erstens verfügen Arbeitsuchende und ihre Angehörigen aus oft vielschichtigen (individuellen wie strukturell bedingten) Gründen über eine regelmäßig herabgesetzte Anpassungsfähigkeit im Umgang mit Herausforderungen wie der COVID-19-Epidemie. Unter dem viel beschworenen „Brennglas“ der Pandemie wurden demgemäß die Folgen dieser herabgesetzten Umstellungsfähigkeit nach und nach auch für voneinander sozial distanzierte Gesellschaftsschichten sichtbar, als der bereits im November 2020 beschlossene und bis mindestens Ende März 2021 andauernde sog. „Lockdown“ endlich zu Ende ging. Es ist aus der richterlichen Befassung mit einer Vielzahl grundsicherungsrechtlicher Streitigkeiten sozialgerichtsbekannt, dass Arbeitsuchende aus oft nicht sogleich zutage tretenden und unterschiedlichsten Gründen (z. B. wegen Suchtmittelabhängigkeit, beengter Wohnverhältnisse, Kinderreichtum, Alleinerziehung, familiärer Gewalterfahrungen, aufgrund körperlicher und/oder psychischer Komorbiditäten, mangels supportiver sozialer Netzwerke, aufgrund sprachlich und/oder ethnisch verursachter Integrationsprobleme, wegen mangelndem Zugang zu Bildung und Beratung, aus Rassismus, Klassismus, Sexismus, etc.) weniger flexibel auf alltägliche Erschwernisse reagieren können als im Vergleich zu ihnen privilegiertere Personen(gruppen). Das in Gesellschaftskreisen ohne engen Kontakt mit dem sog. „Hartz-IV“-Milieu verbreitete und – mehr oder weniger verhohlene – Zerrbild des „schmarotzenden Hartz-IV-Empfängers“ trügt. Die Lebenswirklichkeit ist oft komplizierter als es von außen oder aufgrund der bloßen Aktenlage scheint. Arbeitsuchende beziehen existenzsichernde Leistungen in aller Regel nicht aus Bequemlichkeit, sondern, weil sie aus individuellen und gesellschaftlichen Gründen keinen gleichen Zugang zu den Lebenschancen haben, welche der – insofern privilegierte und ignorante – Großteil der Bevölkerung für selbstverständlich hält. Der Sozialgesetzgeber hat eben dieser herabgesetzten Eigenverantwortlichkeit im SGB II durch ein umfangreiches System individueller Fördermöglichkeiten nach § 16 ff. SGB II Rechnung getragen. Bei der Gewährung von Mund-Nasen-Bedeckungen entsprach es daher seinem mutmaßlichen Willen, entsprechend dem SGB II- Struktur-Prinzip des „Förderns“ dauerhaft hilfebedürftige Mitmenschen in ihren prekären Lebensverhältnissen während der COVID-19-Epidemie wesentlich mehr zu unterstützen als Gering- und Besserverdiener. Eben diesen Willen hat der Gesetzgeber auch am 24.02.2021 bzw. 05.03.2021 erneut durch den Erlass von § 70 Satz 1 SGB II zum Ausdruck gebracht (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 81, juris). Zweitens können von Arbeitsuchenden und den Mitgliedern ihrer Bedarfsgemeinschaften auch in spezifisch wirtschaftlicher Hinsicht nicht gleichermaßen Einsparobliegenheiten verlangt werden wie von sozial und wirtschaftlich besser gestellten Gesellschaftsschichten. Die gesetzliche Regelbedarfs-Leistungshöhe im SGB II-Bezug geht nicht über das schlichte Existenzminimum hinaus. Anlässlich der Epidemie eingetretene Mehrbedarfe konnten Arbeitsuchende daher nicht durch Einsparungen kompensieren, ohne dass ihnen existenzsichernde Leistungen in anderen Bereichen fehlten. Besser- und Geringverdiener war dies hingegen möglich (wenngleich fraglos lästig). Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde erlauben es aber schlechterdings nicht, Arbeitsuchende aus Neid und unter Hinweis auf Einsparleistungen von Besser- und Geringverdienern (geschweige denn: von Großverdienern) auf die im SGB-II-Bezug verfassungsrechtlich fehlenden Einsparmöglichkeiten zu verweisen. Beim Existenzminimum ist „Ende Gelände“. Das bundesdeutsche Verfassungsrecht sieht in Art. 1 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Art. 20 Abs. 1 GG die Sozialpflichtigkeit nicht bei den Menschen, die bereits am untersten Rand des Menschenwürdigen leben, sondern bei denen, die über ausreichend Privateigentum verfügen, denn dessen Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, während die Würde des Menschen und das Prinzip des Sozialstaats unantastbar sind, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 82, juris).

 

Nach alldem stellte der Corona-Mehrbedarf insbesondere in seiner Gestalt der generell notwendigen Mehraufwendungen für Hygienemittel in Form von FFP2-Masken zum Infektionsschutz in dem hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 70 Satz 1 SGB II auch einen unabweisbaren Bedarf im Sinne des § 21 Abs 6 SGB II dar.

 

Die im Falle seiner Erbringung als Geldleistung fällige Höhe des generellen Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II ist indessen auf der Grundlage von § 202 SGG i.V.m. § 287 Abs. 2 ZPO für jeden Berücksichtigungsmonat zu schätzen, wobei die schwankende Anzahl von Monatstagen zu vernachlässigen ist (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Neben der vom Infektionsgeschehen abhängigen Anzahl der im jeweiligen Bewilligungsmonat erforderlichen Masken sind auch die im Handel für FFP2-Masken jeweils üblichen Stückpreise für FFP2-, KN95- und N95- Corona-Schutzmasken zugrunde zu legen, die 2021 großen Schwankungen unterlagen und gerade nicht im gesamten Kalenderjahr 2021 zum Stückpreis von 1,00 € pro Stück erhältlich waren (so aber: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.02.2022, L 19 AS 1236/21, Rn. 59;). Der Stückpreis von FFP2-Masken (im Set) war bis zum Ablauf des Januars 2021 zwar bereits aufgrund der nachfragebedingten Produktionssteigerungen gesunken, sodass Verbraucher im Schnitt im Januar 2021 „nur“ noch 2,63 € pro Stück zahlen mussten (Arzt und Wirtschaft Online, „Nachfrage nach FFP2-Masken um 1.300 Prozent gestiegen“, 31.01.2021, online abrufbar am 18.07.2023 unter: https://www.arzt-wirtschaft.de/coronakrise/nachfrage-nach-ffp2-masken-um-1-300-prozent-gestiegen/). Erst ab März 2021 waren die im Online-Handel wie in Supermärkten und Drogerien für Verbraucher erzielbaren Kaufpreise indes so erheblich gesunken, dass in der Größenordnung von 20 Exemplaren ein Stückpreis von nur noch ca. 1,- € für FFP2-, KN95- und N95- Corona-Schutzmasken (ohne zusätzliche Lieferkosten) für die Selbstbeschaffung aufzuwenden war (SG Karlsruhe, Beschluss vom 11. März 2021 – S 12 AS 565/21 ER –, Rn. 85, juris).

 

Obgleich in den Folgemonaten die Stückpreise für FFP2-Masken zeitweise sogar auf zuweilen unter 1,00 € sanken (auch in diese Richtung unrichtig: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.02.2022, L 19 AS 1236/21, Rn. 59;) und sich das Infektionsgeschehen bis zum Sommerbeginn am 21.06.2021 saisonal dermaßen abschwächte, dass für FFP2-Masken bis zum Wiederaufflammen der Pandemie im späteren Jahresverlauf vorübergehend kaum noch Geld aufgewendet werden musste (vgl. SG Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER) entfielen indessen auch ab Juli 2021 nicht sämtliche Aufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Vielmehr bestand der COVID-19-Mehrbedarf in veränderter Gestalt fort. Die Corona-Pandemie führte im Laufe des Jahres 2021 nämlich zu einer erheblichen pandemiebedingten Inflation. So stieg dem Statistischen Bundesamt zufolge in Deutschland etwa bereits allein zum Mai 2021 (bzw. zwischen Mai 2020 und Mai 2021) der Verbraucherpreisindex um 2,5 Prozent an, er betrug im Juli 2021 schon 3,8 Prozent und erhöhte sich bis zum Dezember 2021 auf 5,3 Prozent (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 025 vom 19.01.2022; abrufbar am 18.07.2023 unter: www. destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/01/PD22_025_611.html).

 

Der aus Anlass der COVID-19-Pandemie im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II für Hygienemittel insbesondere in Gestalt von FFP2-Masken ab dem Sommer 2021 generell gesunkene finanzielle Mehraufwand fiel daher gerade im Sommer 2021 nicht ersatzlos weg. Er bestand vielmehr ungeachtet des zwischenzeitlichen Preisverfalls für FFP2-Masken sowie der nachfolgenden Immunisierung der Bevölkerung durch Impfungen und Infektionen in Form eines coronainflationsbedingten Mehrbedarfs fort. In dieser Gestalt erhöhte sich er im Laufe des Jahres 2022 sogar sukzessive in dem Maße, in dem die Diskrepanz zwischen der Höhe des gesetzlichen Regelbedarfssatzes und den inflationsbedingten Preissteigerungen immer größer wurde. Dem Statistischen Bundesamt zufolge stieg indes in Deutschland im Laufe des Jahres 2022 (bzw. zwischen Dezember 2021 und Dezember 2022) der harmonisierte Verbraucherpreisindex nochmal um weitere 9,6 Prozent an und war im Jahresdurchschnitt nochmal um 8,7 Prozent höher als im Vorjahr 2021 (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 022 vom 17.01.2023; abrufbar am 18.07.2023 unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html#:~:text=Januar%202023&text=WIESBADEN%20%E2%80%93%20Die%20Verbraucherpreise%20in%20Deutschland,%2B3%2C1%20%25%20gelegen.).

 

Der Gesetzgeber wäre daher verfassungsrechtlich gezwungen gewesen, auf diese pandemie- bzw. pandemie- sowie kriegsinflationsbedingten finanziellen Mehrbelastungen in zwei aufeinander folgenden Kalenderjahren zu reagieren, um der nachträglich "strukturell unzutreffenden" Erfassung des Regelbedarfs in der EVS 2018 entgegenzuwirken, um den existenzsichernden Regelbedarf zu sichern (vgl. BVerfG, 23.07.2014, 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13). Soweit der Gesetzgeber unter der hier maßgeblichen umgekehrten Hypothese, dass § 70 Satz 1 SGB II verfassungswidrig und nichtig ist, den Leistungsempfängern zum Ausgleich der pandemiebedingten Sonder- und Mehrbedarfe für die hier betroffenen Zeiträume keinen zusätzlichen pauschalierten einmaligen Leistungsanspruch gewährt hätte, wäre der Gesetzgeber seiner Verfassungspflicht zur Deckung des Existenzminimums insofern nur nachgekommen, wenn seine „Härtefallklausel“ in § 21 Abs. 6 SGB II dergestalt anlassbezogen verfassungskonform ausgelegt würde, dass keine Unterdeckungen des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 1 GG entstehen.

 

Dies wäre im hypothetisch umgekehrten Fall nicht nur verfassungskräftig geboten, sondern auch mit dem Wortlaut von § 21 Abs. 6 SGB II vereinbar: Historisch betrachtet liegt nämlich ein „Einzelfall“ vor, wenn erstmalig seit dem Ende des zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 ein souveräner europäischer Staat – Russland – gegen einen anderen europäischen Staat – Ukraine – einen Angriffskrieg führt und dies in Deutschland zu unvorhergesehenen Verbraucherpreissteigerungen führt. Historisch betrachtet handelt es sich ebenso um einen „Einzelfall“, wenn eine unvorhergesehene Pandemie, wie sie seit der Spanischen Grippe von 1918 vor mehr als einem Jahrhundert nicht mehr beobachtet worden war, plötzlich die gesamte Welt für mehrere Jahre in Atem hält und sich infolgedessen in Deutschland die zuvor bewährten Regelbedarfsanpassungen als zu schwerfällig und zu langsam erweisen, um den veränderten Einkommens- und Verbrauchsverhältnissen zeitnah und wirklichkeitsgetreu Rechnung zu tragen, weil plötzlich erhebliche Summen zum Infektionsschutz aufgewandt werden müssen und überdies kriegs- wie pandemiebedingte Preissteigerungen eintreten, die in Deutschland seit einem halben Jahrhundert (d. h. seit der Ölpreiskrise von 1973) nicht mehr zu verzeichnen gewesen waren.

 

Im hier maßgeblichen hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 70 Satz 1 SGB II sind die mit COVID-19- und den Preissteigerungen von 2021 und 2022 im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen zwischen Februar 2021 und Juni 2021 bzw. November 2021 und April 2022 generell nicht durch Zuwendungen Dritter oder unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten gedeckt gewesen. Sie wichen auch aus – aus den vorgenannten Gründen – der Höhe nach erheblich vom durchschnittlichen Regelbedarf ab und waren damit „unabweisbar“ im Sinne der Legaldefinition in § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II.

 

Unter Anerkennung eben dieses generellen Corona-Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 6 SGB II wäre daher der Klage S 12 AS 2208/22 für jeden der streitbefangenen Bewilligungsmonate stattzugeben, zumal der Klägerin in keinem dieser Bewilligungsmonate eine Einmalzahlung aus § 70 SGB II oder § 73 SGB II zugeflossen ist (, sondern erst später im Juli 2021 bzw. im Juli 2022), sodass sie jeweils zur gegenwärtigen Sicherung des Lebensunterhalts nicht mehr rechtzeitig zur Verfügung standen.

 

Da aus den bereits oben (unter Ziff. II. 6. B) b) dargelegten Gründen im hypothetischen Fall der Verfassungskonformität von § 70 Satz 1 SGB II die Klage S 12 AS 2208/22 hingegen vollumfänglich abzuweisen wäre, ist die dem Bundesverfassungsgericht unter Ziff. 4. dieser Gerichtsentscheidung vorgelegte Norm nach alldem für den Rechtsstreit entscheidungserheblich.

 

Ein in Bezug auf die Entscheidungserheblichkeit gegenteiliges Zwischenergebnis folgt auch nicht aus der gleichzeitigen Vorlage von § 73 SGB II unter Ziff. 5. dieser Gerichtsentscheidung. Die gleichzeitige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit von § 73 SGB II wird nämlich die Entscheidung des Vorlagegerichts im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 nur berühren, soweit derselbe Rechtsstreit nicht auch von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über § 70 Satz 1 SGB II abhängt. Dies folgt daraus, dass § 70 Satz 1 SGB II und § 73 SGB II denknotwendig in zeitlicher Hinsicht nicht dieselben Ansprüche der Klägerin betreffen können. In zeitlicher Hinsicht stehen die beide Einmalzahlungen nämlich in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander. Denn § 73 SGB II ist vom Gesetzgeber im Jahr 2022 dezidiert als Nachfolgeregelung konzipiert worden für eben jene Bewilligungszeiträume, welche von der 2021 geschaffenen Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II gerade noch nicht erfasst worden waren. Dies besagt die Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfes für § 73 SGB II vom 13.04.2022 auf Seite S. 17 mehr oder weniger ausdrücklich:

 

Die Einmalzahlung soll genauso wie die im Jahr 2021 geleistete Einmalzahlung (§ 70 SGB II) im Rahmen des Sozialschutzpakets III so wenig verwaltungsaufwändig wie möglich erbracht werden

 

(BT Drucks. 20/1211). Dieselbe Formulierung fand sich bereits im vorangegangenen Entwurf vom 17.03.2022 auf dessen Seite 14 (BR Drucks. 125/22).

 

Auch durch die Heranziehung der jeweils anderen der beiden gleichzeitig vorgelegten Vorschriften kann also ein verfassungswidriges Ergebnis im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 nicht vermieden werden (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Dederer, 100. EL Januar 2023, GG Art. 100 Rn. 192). Dessen Entscheidung hängt nach alldem jedenfalls von der Vereinbarkeit des § 70 Satz 1 SGB II n.F. mit dem Grundgesetz ab.

 

 

C)

 

Den im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 entscheidungserheblichen § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II hält das Vorlagegericht für verfassungswidrig.

 

§ 70 Satz 1 Var. 1 SGB II verstößt zur vollen richterlichen Überzeugung des Sozialgerichts Karlsruhe gegen das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und verletzt zudem den Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

 

Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ist es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, sie zu achten und zu schützen ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 Abs. 1 ein sozialer Staat. Vor dessen Gesetz sind Art. 3 Abs. 1 zufolge alle Menschen gleich. Niemand darf wegen seiner sozialen Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG).

 

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 116, 164 (180); 122, 210 (230); stRspr). Das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 112, 368 (401); stRspr). Differenzierungen im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II unterliegen strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen, weil sie sich auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG auswirken (vgl. BVerfGE 112, 164 (174); 122, 210 (230)).

 

Eben jenes Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist im Grundgesetz enthalten. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch; das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich zu sichern (BVerfGE 125, 175 (222); 132, 134 (159); 137, 34 (72); 142, 353, (369 f.); BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. 118 juris). Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel als einheitliche Gewährleistung zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (vgl. BVerfGE 125, 175 (223); 132, 134 (172); 137, 34 (72); 142, 353 (370); BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. 119, juris).

 

Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (vgl. BVerfGE 125, 175 (223 f); 132, 134 (160)).

 

Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen. Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu, ist dem Grunde nach unverfügbar und geht selbst durch vermeintlich "unwürdiges" Verhalten nicht verloren; sie kann selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind. Das Sozialstaatsprinzip verlangt staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind. Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (BVerfGE 152, 68, juris, Rn. 120).

 

Gemessen an diesen verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsgrundsätzen ist § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II voraussichtlich verfassungswidrig. Dies folgt aus den nachfolgenden fünf Gründen, von denen jeder bereits für sich alleine ausreichte, das Gesetz nach §§ 82 Abs. 1, 78 Satz 1 BVerfGG für nichtig zu erklären:

 

  1. Der Gesetzgeber hat die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt (vgl. dazu unmittelbar im Anschluss hieran unter Ziff. II. 6. C) a)).

 

  1. Für die sechs Monate Januar 2021 bis Juni 2021 ist die Höhe der Einmalzahlung von 150,- € zu niedrig bemessen, um die Mehraufwendungen der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen auszugleichen (dazu: Ziff. II. 6. C) b)).

 

  1. Die erst für Mai 2021 vorgesehene nachträgliche Einmalzahlung kann denknotwendig nicht mehr zweckentsprechend eingesetzt werden zum Ausgleich der Mehraufwendungen für bereits in den Monaten Januar 2021 bis April 2021 existenznotwendige Schutzmaßnahmen (dazu: Ziff. II. 6. C) c)).

 

  1. Die Gewährleistung der Leistungen zum Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie wird in zeitlicher Hinsicht auf die erste Jahreshälfte 2021 beschränkt, obwohl eben solche Mehraufwendungen auch in den Pandemie-Monaten vor Januar 2021 und nach Juni 2021 zur Sicherung des Existenzminimums anfielen (dazu: Ziff. II. 6. C) d)).

 

  1. Die Gewährleistung von Leistungen zum Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie wird in persönlicher Hinsicht auf jene Menschen beschränkt, die im Mai 2021 existenzsichernde Hilfe benötigten, obwohl derartige Mehraufwendungen auch solchen Menschen entstanden sind, die zwar nicht im Mai 2021, aber in einem früheren oder späteren Monat der COVID-19-Pandemie auf existenzsichernde Hilfen angewiesen gewesen sind (dazu: Ziff. II. 6. C) e)).

 

Zur Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum durfte es der Gesetzgeber zum Ausgleich der Mehraufwendungen von Arbeitsuchenden im Zusammenhang mit Pandemie und Inflation auch nicht bei einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ belassen (dazu: Ziff. II. 6. C) f), zumal namentlich die Härtefallklausel § 21 Abs. 6 SGB II aus den (unter Ziff. II. 6. B) b)) ausgeführten Gründen einer verfassungskonformen Auslegung unzugänglich war.

 

Im Einzelnen:

a)

 

Der Gesetzgeber hat die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt.

 

Zur Konkretisierung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu ermitteln (BVerfGE 132, 134, 3. LS; mit Bezug auf: BVerfGE 125, 175 (225) m.w.N.). Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen (BVerfGE 125, 175 (225)).

 

Dem Gesetzgeber kommt ein Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung von Art und Höhe der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Er hat einen Entscheidungsspielraum bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs, muss seine Entscheidung jedoch an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten. Die Leistungen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs müssen tragfähig, also durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründet werden können (BVerfGE 132, 134 (162 f.); 142, 153 (379)).

 

Das Grundgesetz schreibt insofern auch keine bestimmte Methode vor, nach welcher der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum begrenzt würde. Vielmehr darf der Gesetzgeber die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen (vgl. BVerfGE 125, 175 (225)). Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen allerdings der sachlichen Rechtfertigung (BVerfGE 125, 175 (225)).

 

Jenseits dieser Evidenzkontrolle überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren im Ergebnis zu rechtfertigen sind. Lassen sich die Leistungen nachvollziehbar und sachlich differenziert tragfähig begründen, stehen sie mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (BVerfGE 137, 34 (73)). Die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen müssen sachlich vertretbar sein. Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen. Schlicht gegriffene Zahlen ebenso wie Schätzungen ins Blaue hinein genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (BVerfGE 137, 34 (75)).

 

Die Art und die Höhe der Leistungen müssen sich mit einer Methode erklären lassen, nach der die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt werden und nach der sich die Berechnungsschritte mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses Verfahrens im Rahmen des Vertretbaren bewegen. Die Berechnung des Existenzminimums anhand eines Warenkorbes notwendiger Güter und Dienstleistungen mit anschließender Ermittlung und Bewertung der dafür zu entrichtenden Preise ist in gleicher Weise wie der Einsatz einer Verbrauchsstatistik für die Berechnung der Leistungshöhe zulässig (vgl. BVerfGE 125, 175 (234 f.)).

 

Das Bundesverfassungsgericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 143).

 

Nach diesen Maßstäben hätte es zur Quantifizierung des Existenzminimums unter den durch die COVID-19-Pandemie veränderten Lebensbedingungen gemäß § 20 SGB II i.V.m. § 1 RBEG einer Neuberechnung der Bedarfe bedurft. Hierbei stand es dem Gesetzgeber frei, die temporär gebotenen Anpassungen nicht im Wege einer sehr zeitaufwendigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe über die Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte zu ermitteln. Vielmehr hätte der Gesetzgeber die durch anlässlich der Corona-Pandemie notwendigen Änderungen der Regelbedarfe auch unter Zugrundelegung des Warenkorbmodells ermitteln dürfen. Dieses wäre hinreichend zeitnah möglich gewesen, zum Ausgleich der geminderten Verlässlichkeit des Warenkorbmodels ein Sicherheitszuschlag gewährt werden kann.

 

Die spezifischen Eigenheiten eines pandemie(-inflations-)bedingt veränderten Warenkorbes hätten ohne unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zeitnah ermittelt werden können. Namentlich wäre die ergänzende Einbeziehung erstmalig zum Infektionsschutz notwendiger Güter (z. B. FFP2-Masken) und Dienstleistungen (z. B. Coronatestungen) ebenso möglich gewesen wie der etwaige pandemiebedingte Wegfall einzelner Bedarfsanteile (etwa für den Besuch von Theatervorstellungen während eines Lockdowns). Den hiermit verbundenen Verwaltungsaufwand hätte der umfangreiche Apparat einer riesigen Ministerialbürokratie im Bundesarbeitsministerium bzw. des zuständigen Ausschusses Deutschen Bundestags auf der Grundlage normativer Wertentscheidungen, fachkundiger Schätzungen und wissenschaftlich begleiteter Prognosen näherungsweise bewältigen können. Dies wäre mithilfe des Warenkorbmodells nicht nur einmalig, sondern fortlaufend umsetzbar und verfassungskräftig geboten gewesen. Dergestalt wäre der Regelbedarf mtl. fortschreibbar gewesen unter integrativer Ermittlung und Bewertung der pandemiebedingt in schwankender Höhe zu entrichtenden Preise bzw. Preissteigerungen. Hierbei hätte namentlich auch die für einige Güter und Dienstleistungen enorme Inflation ebenso Beachtung finden können wie der (angesichts der sich wellenförmig bzw. saisonbedingt bzw. virusvariantenbedingt steigenden bzw. sinkenden Infektionszahlen und der sich sukzessive anpassenden Corona-Politik) wechselnde Bedarf an Masken, Schnelltests, Impfungen, etc. bzw. die sich insofern weiterentwickelnden Erkenntnisse bzw. Vorstellungen von Wissenschaft und Gesellschaft.

 

Unter Verletzung all dessen hat der Gesetzgeber die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt. Im Widerspruch zu den verfassungsgerichtlich erkannten Beurteilungsmaßstäben und den einfachgesetzlichen Vorgaben ist den Drucksachen des Bundestages zu § 70 SGB II n. F. (BT-Drucksachen) in voraussichtlich verfassungswidriger Weise nicht ansatzweise zu entnehmen, warum eine Einmalzahlung für den Monat Mai 2021 in Höhe von 150,- € den Mehrbedarf aufgrund der COVID-19-Epidemie für die Monate Januar 2021 bis Juni 2021 decken sollte. Zur Begründung des geplanten § 70 SGB II heißt es in der Gesetzesbegründung lediglich:

 

„Die Regelung schafft einen Anspruch auf eine einmalige pauschale Zusatzleistung zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen. Wegen der unvorhersehbaren Entwicklung der Pandemie war es Leistungsberechtigten teilweise nur unter erschwerten Bedingungen möglich, für diese Belastungen Vorsorge zu treffen. Zusätzliche finanzielle Belastungen ergeben sich z. B. aus der Notwendigkeit, Schnelltests auf eigene Kosten durchzuführen, um ältere Verwandte besuchen zu können oder aus der Versorgung mit nötigen Hygieneprodukten und Gesundheitsartikeln. Zusatzbelastungen entstehen z. B. durch Ausgaben für die häusliche Freizeitgestaltung, insbesondere für Familien mit Kindern. Unterstützung ist deshalb durch eine Einmalzahlung vorgesehen.

 

Die Einmalzahlung soll so wenig verwaltungsaufwendig wie möglich erbracht werden. Sie ist deshalb an einen bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld im Monat Mai gebunden und wird in der Folge von Amts wegen erbracht. Sie wird nur an Leistungsberechtigte erbracht, deren Regelbedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet. Das berücksichtigt, dass für Kinder, für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht, die Zahlung eines Kinderbonus in gleicher Höhe vorgesehen ist, der nach dem Gesetz über die Nichtanrechnung des Kinderbonus nicht als Einkommen zu berücksichtigen ist. Leistungsberechtigte mit Regelbedarfsstufe 3 erhalten die Einmalzahlung nur dann, wenn im Monat Mai kein Kindergeld als Einkommen berücksichtigt wird.

 

Wird Kindergeld berücksichtigt, ist davon auszugehen, dass der Kinderbonus zusteht. Aus technischen Gründen ist eine separate Auszahlung abweichend von dem üblichen Zahlungstermin für das Arbeitslosengeld II und Sozialgeld möglich; durch die Anknüpfung an den Leistungsanspruch im Monat Mai erfolgt die Zahlung im Regelfall ebenfalls im Monat Mai. Der Nachweis konkreter Mehraufwendungen im Einzelfall ist nicht erforderlich. Die Einmalzahlung erfolgt unabhängig von der Berechnung des Arbeitslosengeldes II/des Sozialgeldes; insbesondere ist die Einmalzahlung nicht in die Bedarfsberechnung und auch nicht in die Berechnung nach § 9 Abs. 2 Satz. 3 SGB II einzubeziehen.“

 

Nach alldem hat der Gesetzgeber bei der Einführung von § 70 Satz 1 SGB II die Anforderungen an die Gesetzesbegründung nicht erfüllt. Daher wird in der Literatur teilweise auch unumwunden festgestellt, dass es an einer statistisch-empirischen Begründung des Betrags von 150,- € fehlt (vgl. Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021), Rn. 15).

 

Hierzu gegenteiligen Äußerungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur ist nicht zuzustimmen. So eschließt sich nicht, mit welchen Argumenten in Bezug auf die Einmalzahlung teilweise auch vertreten wird, eine pauschale Leistung neben dem Regelbedarf sei jedenfalls verfassungsrechtlich unverfänglicher sei als eine vorübergehende Erhöhung des Regelbedarfs (vgl. Knickrehm in: Gagel, SGB II/SGB III, Werkstand: 83. EL August 2021, SGB II § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie). Das Gegenteil ist der Fall. Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Methode zur Ermittlung von Bedarfen und zur Bestimmung von Leistungshöhen verändert nicht die grundrechtlichen Maßstäbe; diese sind in jedem Fall gleichermaßen zu beachten. Daher darf bei der Bestimmung der konkreten Leistungen zur Existenzsicherung keine Methode gewählt werden, die Bedarfe von vornherein ausblendet, wenn diese ansonsten als existenzsichernd anerkannt worden sind (BVerfGE 132, 134 (163)).

 

Ebenso wenig kann Stimmen in der Literatur gefolgt werden, welche die unterlassene Gesetzesbegründung der Höhe der Einmalzahlung durch den Gesetzgeber für verfassungsrechtlich hinnehmbar halten, weil die Einmalzahlung als „zusätzliche, temporäre Leistung“ nicht denselben verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Gesetzesbegründung für existenzsichernde Leistungen unterliege, die das BVerfG für die Festsetzung der Regelbedarfe formuliert habe (vgl. Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 6). Für diese Sichtweise lassen sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung keine Anhaltspunkte finden. Im Gegenteil: Für zusätzliche Bedarfe, die so laufend und so regelmäßig anfallen wie Mehraufwendungen im Zusammenhang mit einer jahrelang andauernden Pandemie gilt vielmehr uneingeschränkt die verfassungsrechtlich Vorgabe, wonach der Gesetzgeber zur Ermittlung des Umfangs des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen hat, und den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen mtl. Festbetrag decken kann, aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen muss (vgl. BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 139, juris).

 

Soweit in der Literatur auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 im Verfahren 1 BvL 1/09 verwiesen wird, beziehen sich seine verfassungsgerichtlichen Ausführungen gerade nicht auf „zusätzliche, temporäre Leistungen“. Vielmehr führt das Bundesverfassungsgericht wörtlich aus: „Es ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass das Sozialgesetzbuch Zweites Buch dazu übergegangen ist, einmaligen Bedarf, der nur in unregelmäßigen Abständen, etwa zur Anschaffung von Winterkleidung, entsteht, durch Anhebung der mtl. Regelleistungen in der Erwartung zu decken, dass der Hilfebedürftige diesen erhöhten Anteil für den unregelmäßig auftretenden Bedarf zurückhält“ (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 150, juris). Die (unrichtig) in Bezug genommene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung betrifft also einen Bedarf, der nur einmalig ist und in unregelmäßigen Abständen entsteht. Einen solchen Bedarf darf der Gesetzgeber im Wege einer Ansparkonzeption decken, indem er die mtl. Regelleistungen nach dem SGB II erhöht. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben beziehen sich also weder auf die Art von Bedarf, die § 70 Satz 1 SGB II deckt, noch auch auf die vom Bundesgesetzgeber in § 70 Satz 1 SGB II gewählte Konzeption. § 70 Satz 1 SGB II dient nämlich – erstens – zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen. Diese sind nicht einmalig bzw. in unregelmäßigen Abständen angefallen, sondern laufend in regelmäßigen Abständen, seitdem die Pandemie Anfang 2020 auch Deutschland erfasst hat. Zweitens hat der Gesetzgeber in § 70 Satz 1 SGB II den zusätzlichen laufenden Corona-Mehrbedarf gerade nicht (in verfassungskonformer Weise) durch die Anhebung der mtl. gewährten Regelleistungen gedeckt, damit Menschen in existentieller Not Rücklagen ansparen können, beispielsweise in den Sommermonaten für die Beschaffung von Mund-Nasen-Bedeckungen und Corona-Schnell-Test-kits im Winter.

 

Insgesamt hat der Gesetzgeber in § 70 SGB II also anstatt einer verfassungslegitimen Regelbedarfserhöhung eine der Höhe nach „ins Blaue hinein“ festgelegte Einmalzahlung verabschiedet, welche den verfassungsgerichtlichen Vorgaben für die Bemessung existenzsichernder Leistungen nicht gerecht wird.

 

Allein wegen dieses Fehlens eines transparenten und sachgerechten Verfahrens zur realitätsgerechten sowie nachvollziehbaren Ermittlung der zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungen ist die Gesetzesbegründung des „Sozialschutz-Paket III“ in Bezug auf die Höhe der Einmalzahlung unzureichend. § 70 Satz 1 SGB II verstößt schon deshalb gegen das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und ist damit voraussichtlich verfassungswidrig.

 

 

b)

 

Unabhängig von der voraussichtlichen Verfassungswidrigkeit des Verfahrens bei der Gesetzesbegründung für die Bestimmung der Höhe der Einmalzahlung ist die Neuregelung in § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II auch deshalb voraussichtlich verfassungswidrig, weil die Anforderungen des Grundgesetzes, im Ergebnis tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, nicht verfehlt werden dürfen (vgl. BVerfGE 132, 134 (162 f.); 142, 153 (379)) und für die sechs Pandemiemonate Januar 2021 bis Juni 2021 die Höhe der Einmalzahlung mit 150,- € verfassungswidrig niedrig bemessen ist, um alle mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen dieses Zeitraums auszugleichen. Auch und allein deswegen ist § 70 Satz 1 SGB II durch das BVerfG zu verwerfen.

 

Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht zwar eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen vorgibt, beschränkt sich die materielle Kontrolle der Höhe von Sozialleistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Diese Kontrolle bezieht sich im Wege einer Gesamtschau auf die Höhe der Leistungen insgesamt und nicht auf einzelne Berechnungselemente. Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfGE 137, 34 (75)).

 

Es widerspräche dem nicht relativierbaren Gebot der Unantastbarkeit, wenn nur ein Minimum unterhalb dessen gesichert würde, was der Gesetzgeber bereits als Minimum normiert hat; insbesondere lässt sich die Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht in einen "Kernbereich" der physischen und einen "Randbereich" der sozialen Existenz aufspalten. Der Gesetzgeber kann auch weder für einen sogenannten „internen Ausgleich“ noch zur Rechtfertigung einer Leistungsminderung auf die Summen verweisen, die in der pauschalen Berechnung der Grundsicherungsleistungen für die soziokulturellen Bedarfe veranschlagt werden, denn die physische und soziokulturelle Existenz werden durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG einheitlich geschützt (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, Rn. 119, juris).

 

Gemessen an diesen, vom Bundesverfassungsgericht erkannten Maßstäben, genügt § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II den Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG auch aus dem Grunde nicht, dass die Höhe der Einmalzahlung im Ergebnis evidenter Maßen zu niedrig bemessen ist, um im Falle volljähriger alleinstehender Menschen in existentieller Not alle mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen zwischen Januar 2021 und Juni 2021 auszugleichen, weil hierfür mit Sicherheit höhere Leistungen nötig waren als 150,- € für sechs Monate bzw. durchschnittlich 25,- € mtl.

 

Dies war – erstens – bereits vor der Verabschiedung des sogenannten „Sozialschutz-Paket III“ aus den hierzu veröffentlichten Studienergebnissen offenkundig, weil sich danach das COVID-19-Virus unter den ärmsten Menschen mangels ausreichender Versorgung mit Hygieneartikeln besonders stark verbreitete (dazu: sogleich im Anschluss unter Ziff. II. 6. C) b) 1.1)).

 

Dass diese mangelnde Versorgung mit Hygieneartikeln nicht allein durch eine Einmalzahlung von 150,- € gedeckt würde, war – zweitens – nach der Anhörung der Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren zum „Sozialschutz-Paket III“ unzweifelhaft, weil sich die Lebens-, Arbeits-, Einkommens- und Ausgabenverhältnisse der Menschen in existentieller Not in Deutschland pandemiebedingt bereits nachweislich dermaßen verschlechtert hatten, dass es einer monatlichen Kompensation von ca. 100,- € für jeden der 24 Pandemie-Monate bis einschließlich März 2022 (d. h. 2.400,- €) bedurft hätte anstelle einmalig  150,- € für sechs Monate (dazu: Ziff. II. 6. C) b) 2.2.)).

 

Drittens haben im Nachgang zum „Sozialschutz-Paket III“ empirische Untersuchungen belegt, dass die Einmalzahlung von 150,- € dermaßen unzureichend war, dass die sozial besonders benachteiligten Mitbürger wesentlich häufiger an COVID-19 erkrankten und damit wesentlich häufiger verstarben als sozial privilegiertere Bevölkerungsteile, obwohl die Präventionsmaßnahmen von beiden Vergleichsgruppen gleichermaßen beachtet wurden (dazu: Ziff. II. 6. C) b) 3.3)).

 

Viertens zeigt sich der offenkundige Verstoß gegen das Untermaßverbot anhand einer exemplarisch vergleichenden Betrachtung der während der ersten 24 Pandemie-Monate einmalig gebliebenen Zahlung von 150,- € an Menschen in existentieller Not mit jener Corona-Einmalzahlung, welche der fürsorgliche Sozialstaat bis dahin seinen Berufsrichtern in Höhe von 1.300,- € zusätzlich zu den ihnen überlassenen Sachmitteln in Gestalt von Impfungen, FFP2-Masken und Selbsttests) gewährt hat (dazu: Ziff. II. 6. C) b) 4.4)).

 

1.1)

 

Bereits vor der Verabschiedung des sogenannten „Sozialschutz-Paket III“ am 10.03.2021 war aus wissenschaftlichen Untersuchungen ersichtlich, dass der Gesetzgeber zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen einen laufend zu gewährenden Mehrbedarfstatbestand in existenzsichernder Höhe einführen musste, um die Menschwürde sowie Leib und Leben der ärmsten Mitglieder der Gesellschaft ausreichend zu schützen. Bereits am 06.03.2020 waren entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem Zusammenhang zwischen COVID-19 und der sozialen Ungleichheit auch in deutscher Sprache im Internet veröffentlicht worden (vgl. Knöchelmann und Richter, COVID-19 und soziale Ungleichheit, Public Health Forum, vol. 29, no. 1, 2021, pp. 2-4.). Ihren Studienergebnissen zufolge war bekannt, dass sich das COVID-19-Virus unter den ärmsten Menschen mangels ausreichender Versorgung mit Hygieneartikeln besonders stark verbreitet und unter diesen eine – relativ zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung – übermäßig Anzahl an Erkrankten, Langzeitgeschädigten und Toten bedingt. Damit war bereits wissenschaftlich erwiesen, dass sich der fehlende Ausgleich sozialer Ungleichheiten im Rahmen der Maßnahmen der Pandemiebekämpfung auf das Infektionsrisiko, die Erkrankungsschwere und die Mortalitätsraten ohnehin schon sozial deprivierter Menschen auswirkt (vgl. Knöchelmann et. Richter, COVID-19 und soziale Ungleichheit, Public Health Forum, Band 29 Nr. 1, 2021, S. 2-4). Es hatte sich im Wege entsprechender Untersuchungen bereits herausgestellt, dass sich nicht alle Personengruppen gleich häufig mit dem Coronavirus infizieren, sondern arme Menschen häufiger an Corona erkranken (vgl. Lampert, Hoebel, Kroll, Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland – Aktuelle Situation und Trends, J Health Monitor 2019; 4: S. 3 –15). Es war bereits bekannt, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen öfter erkranken als Gutverdiener (vgl. Richter et. Hurrelmann, Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen; 2. Auflage, S. 13–33) und Langzeitarbeitslose ein deutlich höheres Risiko eines Krankenhausaufenthaltes wegen einer COVID-19-Erkrankung trifft als Erwerbstätige (vgl. Dragano, Rupprecht, Dortmann, Scheider, Wahrendorf, Higher risk of COVID-19 hospitalization for unemployed: an analysis of 1,298,416 health insured individuals in Germany, medRxiv, 2020). Eine höhere Ansteckungsgefahr sozial Deprivierter beruhte nachweislich auch darauf, dass sie vergleichsweise oft in „systemrelevanten“ Berufen (z.B. Pflegekräfte, Supermarktmitarbeiter:innen) arbeiteten, in denen eine Infektion wahrscheinlicher ist aufgrund einer häufigerer Sozialkontakte und geringer Abstände zu Infizierten (vgl. Blundell, Costa Dias, Joyce, Xu, COVID-19 and Inequalities, Fiscal Studies, 2020, 41:291–319). Auch war schon wissenschaftlich gesichert, dass prekäre Wohnverhältnisse zum Ausmaß der Ansteckungsgefahr beitragen, weil in beengten Wohnverhältnissen eine Isolation trotz Auftreten von Krankheitssymptomen erschwert wird (vgl. Bambra, Riordan, Ford, Matthews, The COVID-19 pandemic and health inequalities. J Epidemiol Community Health, 2020, 74:964–8). Empirische Studienresultate aus Deutschland entsprachen schon damals internationalen Ergebnissen, wonach höhere Ansteckungszahlen mit dem Coronavirus bei Personen in sozial benachteiligten Positionen besonders häufig auftreten (vgl. Singu, Acharya, Challagundla, Byrareddy, Impact of Social Determinants of Health on the Emerging COVID-19 Pandemic in the United States, Frontiers in Public Health 2020, 8:406). Nach schon damals bereits vorbekannten Forschungsergebnissen beruht dies unter anderem auf häufigeren Kontakten zu infizierten Menschen (vgl. Blundell, Costa Dias, Joyce, Xu, COVID-19 and Inequalities, Fiscal Studies, 2020, 41:291–319). Schon vor der Einführung von § 70 SGB II war – wie bei den Erkrankungsrisiken – auch für die Erkrankungsschwere eine ungleiche Verteilung zulasten deprivierter Bevölkerungsteile festzustellen (vgl. Knöchelmann et. Richter, COVID-19 und soziale Ungleichheit, Public Health Forum, Band 29 Nr. 1, 2021, S. 2-4, m.w.N.). Zudem war die verfassungskräftige Notwendigkeit zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen allein für medizinische Mund-Nasen-Bedeckungen eines dreistelligen mtl. Betrages oder entsprechender Sachleistungen auch bereits in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung erschöpfend aus dem Grundrecht auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums sowohl dem Grunde als der Höhe nach hergeleitet (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER) und im Nachgang hierzu öffentlich, auch im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales, diskutiert worden.

 

 

2.2.)

 

Die im Ergebnis offenkundige Unterdeckung des Corona-Mehrbedarfs durch eine bloße Einmalzahlung von 150,- € im Mai 2021 folgt daneben auch aus der Auswertung der diesbezüglich veröffentlichten Einschätzungen von Sachverständigen im Anhörungsverfahren zum Gesetzentwurf zur Einführung von § 70 SGB II. Die Sachverständigen hatten im Ausschuss des Bundestages für Arbeit und Soziales anlässlich der Beratungen des sogenannten „Sozialschutz-Paket III“ nachvollziehbar und schlüssig erläutert, warum zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie zwischen Januar 2021 und Juni 2021 im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen alleinstehender erwachsener Menschen in existentieller Not im Durchschnitt mtl. ca. 100,- € bzw. insgesamt 600,- € nötig waren, was rechnerisch 400 % der gesetzlich bestimmten Einmalzahlung von nur 150,- € entspricht.

 

Die sachverständigen Stellungnahmen gegenüber dem Bundestagsausschuss können unter Vermeidung von Wiederholungen auszugsweise wie folgt zusammengefasst werden:

 

Durch die Pandemie ist die Finanzierung einer gesunden Ernährung für einkommensschwache Haushalte zusätzlich erschwert. Dazu tragen insbesondere bei: 

- der Wegfall subventionierter, für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten gemäß Bildungs- und Teilhabepaket kostenfreier Mittagessen in Schule und Kita; 

- die zeitweise Schließung von Tafeln und anderen Sozialeinrichtungen, in denen Menschen in Armut kostenlos oder kostengünstig Lebensmittel/Mittagessen erhalten;

- die Verringerung des verfügbaren Einkommens in vielen armen oder armutsgefährdeten Haushalten durch Jobverluste und Kurzarbeit;

- der Wegfall von Einnahmequellen „auf der Straße“ für darauf angewiesene Menschen (ob durch den Verkauf von Straßenzeitungen, Straßenmusik oder auch Bettelei;

- Preissteigerungen, die gerade bei Obst und Gemüse über der allgemeinen Inflationsrate liegen. 

[Stellungnahme von foodwatch e. V. zum Sozialschutzpaket III anlässlich der Öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III)“, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/822758/5ee313c803e87f96d40aa284676dec34/19-11-935-SN-foodwatch-data.pdf].

 

 

Die einmalige Leistung von 150 € reicht aus Sicht des Sozialverbandes Deutschland e.V. bei weitem nicht aus, um den tatsächlichen pandemiebedingen Mehrbedarf für medizinische Masken, Desinfektionsmittel, Corona-Schnelltests oder auch zur Sicherstellung sozialer Teilhabe – die im Lockdown vielfach einen digitalen Zugang voraussetzt – zu decken.

(Schriftliche Stellungnahme des Sozialverband Deutschland e.V. zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 22. Februar 2021 um 14:30 Uhr zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD –  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/823020/da8f37b7be1cae2f72f00a2719ca0545/19-11-944-SN-SoVD-data.pdf).

 

Es gibt hinsichtlich der gesetzlichen Höhe der Regelbedarfe wegen der Corona-bedingten Mehrbedarfe zulasten der Bezieher:innen von existenzsichernden Leistungen eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der berücksichtigten und der tatsächlichen Preisentwicklung, welche zu einer Unterschreitung des Existenzminimums führt, da die aufgrund der Pandemie bestehenden vielfältigen Zusatzbelastungen gerade nicht eingespart werden können im Bereich der soziokulturellen Teilhabe, weil im Rahmen eines insgesamt knapp bemessenen Regelsatzes schon vor der Coronakrise die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für die von der Grundsicherung betroffenen Menschen nur sehr eingeschränkt möglich war und deshalb pandemiebedingt nicht anfallende Ausgaben, die gegengerechnet werden könnten, nicht in substantiellem Umfang zu erwarten sind.

(Stellungnahme des AWO Bundesverbandes e.V. zum Entwurf eines Gesetzes  zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme  an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung  des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung  und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes  aus Anlass der COVID-19-Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/822934/36671da835d1546a5d90c8eccb047dd6/19-11-942-SN-AWO-data.pdf).

 

Die tatsächlichen Mehrkosten der Corona-Pandemie haben das Leben für arme Haushalte deutlich teurer gemacht, weil Mehrausgaben unter anderem anfallen für Mund-Nasen-Bedeckungen, für Hygiene-Artikel, wegen teils stark gestiegener Lebensmittelpreise und wegen des Wegfalls des Schulmittagessen sowie der Angebote der Tafeln, weshalb sich Armutslagen bis hin zu extremen Mangel- und Notsituationen deutlich verschärfen und sich die Einmalzahlung von 150,- € als nicht mehr erweist als ein völlig unzureichend bemessener Tropfen auf den heißen Stein.

(Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie; online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/822912/97a9e0d27bcb79c9437b1772401261ed/19-11-939-SN-DGB-data.pdf).

 

Die mit einem neuen § 70 SGB II vorgesehene Einmalzahlung ist grundsätzlich positiv zu bewerten, obgleich der Betrag zu niedrig bemessen ist, da der Mehrbedarf mit mtl. 100 € zu beziffern wäre, weil im Bereich Ernährung festzustellen ist, dass die Angebote der Tafeln zurzeit teils gar nicht und teils nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen und hinzukommt, dass angesichts der dringenden Empfehlungen zur Einschränkung von Kontakten im öffentlichen Raum der Weg zur Tafel vermieden wird, wobei zur Vermeidung von Infektionsrisiken sinnvollerweise auch nicht günstige Angebote verschiedener entfernt liegender Geschäfte genutzt werden können und zusätzliche Aufwendungen für Hygieneartikel und -maßnahmen sowie Freizeitaktivitäten anfallen, wobei Aufwendungen für die Nutzung digitaler Medien zur Aufrechterhaltung sozialer Kontakte nicht unerheblich zu Buche schlagen, sodass durch die Einmalzahlung von mtl. 25 € die zusätzlichen Aufwendungen nicht aufgefangen werden können.

(Schriftliche Stellungnahme des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes - Gesamtverband e.V. zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 22. Februar 2021 um 14:30 Uhr zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD –  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/823024/abb0e733a8d2eb3538c8051fce523bf1/19-11-946-SN-Paritaetische-data.pdf).

 

Für die Höhe des behaupteten Mehrbedarfs an einer Einmalzahlung von 150 € für erwachsene Grundsicherungsberechtigte als Ausgleich für die im Zusammenhang mit der Pandemie im ersten Halbjahr 2021 stehenden Mehrbedarfe fehlt im Gesetzentwurf jede Herleitung und Begründung.

(Schriftliche Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 22. Februar 2021 um 14:30 Uhr zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD –  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/823022/6990b62cd76df8b3fb92ecac8ea4d24b/19-11-945-SN-BDA-data.pdf).

 

Die aktuelle Pandemie führt zu höheren und längeren Bedarfsspitzen, die Hilfebedürftige nicht durch Minderausgaben in anderen Bereichen kompensieren können und für die keine Vorsorge betrieben werden konnte.

(Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/822910/0f372820b4c0de6eb74bbb2e4a175c76/19-11-938neu-SN-BA-data.pdf).

 

Der Deutsche Caritasverband begrüßt die von der Bundesregierung beschlossene Einmalzahlung für Menschen im SGB II, XII und AsylbLG mit der Begründung, dass eingeschränkte oder in den Online-Handel verlagerte Einkaufsmöglichkeiten mitunter zu höheren Ausgaben führen können, welche die Menschen in der Grundsicherung bzw. dem AsylbLG nicht anderweitig ausgleichen können.

(Schriftliche Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes e.V. zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 22. Februar 2021 um 14:30 Uhr zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD –  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19Pandemie; online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/823092/c9b123379a441a50cc2f94b5aa712ba5/19-11-949-SN-Caritas-data.pdf).

 

Die pandemiebedingten Härten bestehen jetzt und führen zu existentieller Not. Die Regelung in § 70 SGB II n. F. läuft auf eine Vorausfinanzierung der Zusatzausgaben hinaus, die Einkommensarmen nicht möglich ist.  Daher wäre eine unmittelbare Auszahlung des pandemiebedingten Zuschlags nötig und aufgrund der vorgesehenen Pauschalsumme auch völlig unproblematisch durchführbar. Die Einmalzahlung von 150,- € bleibt hinter der Forderung der Diakonie Deutschland und vieler weiterer Verbände von mtl. 100 Euro für die Dauer der besonderen Pandemie-Regelungen weit zurück, zumal nicht berücksichtigt wird, dass die genannten Härten nicht erst seit Januar 2021 bestehen, sondern tatsächlich seit März 2020 und hinzukommt, dass pandemiebedingte Härten auch nicht zeitweilig aus anderen im Regelsatz enthaltenen Mitteln ausgeglichen werden können. Von der Möglichkeit eines sogenannten „internen Ausgleichs“ ist schon unter normalen Bedingungen nicht auszugehen, weshalb die Erwartung, dass die Betroffenen Corona-bedingte zusätzliche Belastungen durch internen Ausgleich auffangen könnten, nicht realistisch ist. Bei Familien mit Kindern kommen die besonderen Kosten, die durch Homeschooling und häusliche Kinderbetreuung entstehen, wobei die eigentlich im Bildungs- und Teilhabepaket enthaltenen Kosten für schulisches Mittagessen oder Mittagessen in der Kita nicht nur nicht ausbezahlt werden, sondern faktisch einbehalten werden wegen der Umstände der als Ersatz vorgesehenen mobilen oder stationären Mittagessensausgabe, denn in der Praxis findet diese Essensverteilung fast nicht statt, weil die Caterer gar nicht über die erforderliche Infrastruktur und das Personal für eine mobile Essensausgabe verfügen oder keine stationäre Essensverteilung unter Beachtung der pandemiebedingten Abstandsregelungen an Schulen oder Kitas verwirklichen könnten, sodass die regionalen Gliederungen der Diakonie berichten, dass eine solche Essenslieferung nur dann funktioniert, wenn die Diakonie oder andere Wohlfahrtsverbände sie selbst – und ohne weitere Förderung – organisieren. Ebenfalls nicht ausreichend gelöst ist die Frage der Ausstattung mit digitalen Endgeräten für einkommensarme Schülerinnen und Schüler.

(Information für den Ausschuss der Diakonie Deutschland - Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., Unaufgeforderte Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 22. Februar 2021 um 14:30 Uhr zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD –  Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie, online aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/822264/726ba0d8ef9da0a0ca0b390ad49b3dc7/19-11-928neu-unverl-SN-Diakonie-data.pdf).

 

150 Euro als pandemiebedingte Einmalzahlung sind besser als nichts, aber Grundsicherungsempfänger haben sehr viel höhere Mehrkosten, weshalb sie statt einer Einmalzahlung einen mtl. Aufschlag von 100 Euro brauchen, denn erst damit können sie ansatzweise die finanziellen Folgen der Corona-Pandemie abfedern, zumal der Regelsatz schon vor der Pandemie kaum für eine gesunde Ernährung und soziale Teilhabe gereicht hat und es willkürlich ist, die Zahlung des Corona-Zuschlags am Monat Mai 2021 festzumachen, weil zu befürchten ist, dass dadurch Grundsicherungsempfänger durchs Raster fallen, und vom VdK vorgeschlagen wird, den Zuschlag an alle zu zahlen, die im ersten Halbjahr 2021 Grundsicherung erhalten, und begrüßt wird, dass nun endlich anerkannt wird, dass durch die COVID-19-Pandemie für die Menschen Mehrkosten entstehen, die in der Grundsicherung nicht abgedeckt sind. Hier einen Zuschlag zu gewähren ist eine längst überfällige Maßnahme, weil der Zuschlag erst für Mai 2021 gewährt wird, es dann jedoch zu spät ist, weil die Einschränkungen durch die Pandemiebekämpfung bereits im Februar 2020 begonnen haben. Dementsprechend hält der VDK die Höhe des Zuschlags mit 150 Euro für viel zu gering bemessen und verweist auf zeitweise zu starke Preiserhöhungen bei Lebensmitteln, auf Mehrkosten durch Hygiene- und Schutzmaßnahmen, und darauf, dass durch die Verlagerung des Lebens in die eigene Häuslichkeit höhere Kosten für Energie, Heizung und digitale Teilhabe entstehen, wobei gleichzeitig sehr viele kostenlose Hilfsangebote, wie die Lebensmittelausgaben der Tafeln, weggefallen sind.

(Stellungnahme des Sozialverbands VdK Deutschland e. V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie, online zuletzt aufrufbar am 23.03.2021 unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/823042/d7301c695e92f3c9faa932b04edec7f6/19-11-947-unverl-VDK-data.pdf).

 

 

3.3) Drittens haben auch in den Monaten nach der Verabschiedung des „Sozialschutz-Paket III“ Forschungsergebnisse belegt, dass die Einmalzahlung von 150,- € unzureichend war, um sozial benachteiligte Mitbürger vor den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie in dem verfassungskräftig gebotenen Maße zu schützen.

 

So hat die Gutenberg COVID-19 Studie erstens gezeigt, dass die Pandemie die Einkommensgruppen unterhalb des Medians finanziell am stärksten getroffen hat (Gutenberg COVID-19 Studie, Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Studie, 07.07.2021). Die Gutenberg COVID-19 Studie hat zweitens zutage gefördert, dass es keine Anzeichen dafür gegeben hat, dass Personen, die in prekären Wohnverhältnissen leben, sich weniger an Präventionsmaßnahmen gehalten hätten (Gutenberg COVID-19 Studie, Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Studie, 07.07.2021). Die Gutenberg COVID-19 Studie hat auch nachgewiesen, dass gleichwohl Personen in prekären Wohnverhältnissen (mit weniger als neun m² Wohnfläche pro Person oder schwerer finanzieller Belastung durch Wohnkosten von mehr als 50 Prozent des Einkommens) unter Berücksichtigung potentieller Störvariablen (Alter, Geschlecht, Sozialstatus) ein um ca. 60 Prozent höheres Risiko hatten, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren  (Gutenberg COVID-19 Studie, Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Studie, 07.07.2021). Das Robert Koch Institut hat ermittelt, dass die COVID-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher liege als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung (RKI, Soziale Unterschiede in der COVID-19-Sterblichkeit während der zweiten Infektionswelle in Deutschland, 29.10.2021).

 

 

4.4) Viertens zeigt sich ein offenkundiger Verstoß gegen das Untermaßverbot durch die einmalige Zahlung von lediglich 150,- € binnen der ersten zwei Jahre der Pandemie anhand einer exemplarisch vergleichenden Betrachtung dieser Corona-Einmalzahlungen mit jener, welche andere Gruppen, insbesondere Berufsrichter, im selben Zeitraum gewährt bekommen haben.

 

Soweit ersichtlich werden alle volljährigen alleinstehenden Menschen im Bezug von Arbeitslosengeld 2 anlässlich der COVID-19-Pandemie zwischen der ersten Feststellung des Vorliegens einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Deutschen Bundestag Ende März 2020 binnen der 27 Monate bis Ende Juni 2022 eine Einmalzahlung nach § 70 Satz 1 Var. 1 SGB II über 150,- € sowie einmalig zehn kostenlose FFP2-Masken entsprechend der neu eingeführten § 1 Abs. 1 SchutzmV erhalten haben.

 

Im Unterschied hierzu sind anderweitige Einmalleistungen zur Abmilderung desselben pandemiebedingten Mehrbedarfs in vielfacher Höhe beziffert worden:

 

Beispielsweise sind zur Abmilderung des pandemiebedingten Mehrbedarfs aufgrund § 1 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie über eine zusätzliche Einmalzahlung an Personen, die Einmalleistungen nach den WDF-Richtlinien oder den AKG-Härterichtlinien erhalten haben (Corona-Sonderzahlungsrichtlinie) des Bundesministeriums der Finanzen vom 18. Januar 2021, jeweils in Höhe von 2.400,- € pro Person gezahlt worden.

 

Beispielsweise haben sich die Gewerkschaften und die Länderarbeitgeber Ende 2021 in ihren Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst auf eine Entgeltsteigerung und eine steuerfreie Sonderzahlung zum Ausgleich aus Anlass der Covid-19-Pandemie in Höhe von 1300 Euro für die Angestellten im Landesdienst geeinigt. In eben dieser Höhe erhielten dementsprechend die Landesbediensteten im Bundesland des Vorlagegerichts gemäß §§ 1 und 2 des Gesetzes über eine einmalige Coronasonderzahlung an Besoldungsempfängerinnen und -empfänger des Landes Baden-Württemberg vom 10. Mai 2022 zur Abmilderung ihrer zusätzlichen Belastung in der Coronakrise eine einmalige Coronasonderzahlung in Höhe von grundsätzlich 1.300,- €.

 

Inhaltlich entsprechende Regelungen wurden in allen Bundesländern verabschiedet (vgl. exemplarisch § 2 des Bremisches Gesetzes zur Gewährung einer einmaligen Corona-Sonderzahlung im Jahr 2021 aus Anlass der Covid-19-Pandemie vom 29.03.2022; § 3 Ziff. 1. des Gesetzes über die Gewährung einer einmaligen Corona-Sonderzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie für das Land Nordrhein-Westfalen (Corona-Sonderzahlungsgesetz - Corona-SZG NRW); Art. 1 des Landesgesetzes zur Anpassung der Besoldung und Versorgung 2022 (LBVAnpG 2022) des Landes Rheinland-Pfalz vom 8. April 2022; § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Gewährung einer einmaligen Sonderzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie des Saarlandes vom 16. Februar 2022; § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Gewährung einer einmaligen Sonderzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie an Besoldungsempfängerinnen und Besoldungsempfänger für das Land Brandenburg (Brandenburgisches Corona-Sonderzahlungsgesetz – BbgCorSZG) vom 20.01.2022).

 

Daneben wurden zugunsten der Berufsrichter zur Erfüllung der Fürsorgepflicht seitens ihrer jeweiligen Dienstherren (zumindest am Sozialgericht Karlsruhe, aber sicher nicht nur hier) täglich sowohl ein kostenloser Schnelltest als auch eine kostenlose FFP2-Maske zur Ausgabe nach Abruf bereitgehalten. In Baden-Württemberg hat die Landesjustizverwaltung die Gerichtsangehörigen sogar mit entsprechenden Weisungen (z.B. vom 23.12.2021) ausdrücklich angehalten, Mundnasenbedeckungen zu tragen, die den Standard FFP2 (gemäß der Norm DIN EN 149:2001) oder einen der vergleichbaren Standards KN95, N95, KF 94 oder KF 99) erfüllen und – unabhängig vom Immunisierungsstatus des einzelnen Gerichtsangehörigen – die ihnen täglich unterbreiteten Angebote für Corona-Selbsttests anzunehmen.

 

Die Diskrepanz der Höhe der Corona-Mehrbedarfsleistungen an Menschen in existentieller Not (150,- € zzgl. einmalig 10 FFP2-Masken) zu der Höhe der Corona-Mehrbedarfsleistungen an Berufsrichter (1.300,- € zzgl. arbeitstäglich eine FFP2-Maske und ein Antigen-Schnelltest) zeigt, dass die Höhe der Einmalzahlung von lediglich 150,- € nach § 70 SGB II im Ergebnis evidenter Maßen zu niedrig bemessen war, um ein menschenwürdiges Existenzminimum auch für die Angehörigen der besonders vulnerablen Gruppe der ohnehin wirtschaftlich existenziell bedrohten Menschen während der jahrelangen Dauer der COVID-19-Pandemie vollständig zu gewährleisten.

 

In Anbetracht all dessen vermag die Literaturansicht, wonach § 70 Satz 1 SGB II aus dem Grunde verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, dass fraglich bleibe, ob eine mtl. Erhöhung des Regelbedarfs um 150,- € für sechs bzw. 25,- € pro Monat statistisch zu untermauern sei, weil die durchschnittlichen Verbrauchsausgaben in anderen Bereichen wegen der den Konsum einschränkenden „Lockdown“-Maßnahmen deutlich zurückgegangen sein dürften (vgl. Knickrehm in: Gagel, SGB II/SGB III, Werkstand: 83. EL August 2021, SGB II § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie) nicht zu überzeugen. Diesbezügliche Zweifel an der Existenz eines Corona-Mehrbedarfs werden in der rechtswissenschaftlichen Literatur und Rechtsprechung stets ohne Verweis auf belastbare Erkenntnismittel geäußert. Eine unrichtige Tatsachenbehauptung ins Blaue hinein wird aber nicht allein dadurch richtig, dass sie häufig wiederholt und zitiert wird, zumal sie durch die Zahlen des Statischen Bundesamtes wiederlegt sind.

 

Dessen (oben unter Ziff. II. 6. B) c) zitierten) Statistiken zufolge bestand gerade keine Einsparungsmöglichkeiten für Arbeitsuchende, weil in Deutschland der harmonisierte Verbraucherpreisindex bereits bis Dezember 2021 um 5,7 Prozent anstieg und sich bis Dezember 2022 nochmal um weitere 9,6 Prozent erhöhte, was für den Zweijahreszeitraum Dezember 2020 bis Dezember 2022 mtl. Mehrausgaben in Höhe von kumulativ 15,3 Prozentpunkten bedeutete.

 

Allein wegen der nach alldem im Ergebnis zum Ausgleich aller Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie für die sechs Monate Januar 2021 bis Juni 2021 evident unzureichenden Höhe der Einmalzahlung von nur 150,- € verstößt § 70 Satz 1 SGB II gegen das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und ist damit voraussichtlich verfassungswidrig.

 

 

c)

 

§ 70 Satz 1 Var. 1 SGB II ist mit dem Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sowie mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG auch deswegen nicht in Einklang zu bringen, weil die erst für Mai 2021 vorgesehene nachträgliche Einmalzahlung denknotwendig nicht mehr zweckentsprechend eingesetzt werden konnte zum Ausgleich der Mehraufwendungen für bereits in den Monaten Januar 2021 bis April 2021 existenznotwendige Schutzmaßnahmen. Auch und allein deswegen ist § 70 Satz 1 SGB II durch das BVerfG zu verwerfen.

 

Der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur und muss daher auch in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht. Der Gesetzgeber muss bei der Ausgestaltung der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums die entsprechenden Bedarfe der Hilfebedürftigen zeit- und realitätsgerecht erfassen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 76).

 

Die Ergebnisse eines sachgerechten Verfahrens zur Bestimmung grundrechtlich garantierter Ansprüche sind fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 79).

 

Der Gesetzgeber kommt seiner Pflicht zur Aktualisierung von Leistungsbeträgen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach, wenn er die Entwicklung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs durch regelmäßige Neuberechnungen und Fortschreibungen berücksichtigt (vgl. BVerfGE 125, 175 <225>; 132, 134 <165 f., Rn. 79>).

 

Auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie auf Preissteigerungen oder auf die Erhöhung von Verbrauchsteuern muss zeitnah reagiert werden, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt wird (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 85).

 

Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 144).

 

Der Gesetzgeber hat in dem von ihm gewählten Modell sicherzustellen, dass Unterdeckungen, die aufgrund des statistisch ermittelten, durch nachträgliche Kürzungen modifizierten monatlichen Pauschalbetrags entstehen, im Wege internen Ausgleichs oder Ansparens auch tatsächlich gedeckt werden können. Es liegt im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, dazu einen hinreichend großen finanziellen Spielraum zu schaffen, einen eigenen Leistungsanspruch auf einen Zuschuss neben dem Regelbedarf für aus dem Pauschalbetrag offensichtlich nicht zu deckende existentielle Bedarfe vorzusehen oder, soweit es sich um öffentliche Dienstleistungen handelt, die Kosten für diese zu erlassen oder zu stunden (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 147).

 

Gemessen an diesen Beurteilungsmaßstäben verletzt § 70 Satz 1 SGB II n.F. das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Das Gesetz verstößt (jedenfalls) für die vor dem Mai 2021 bereits abgelaufenen COVID-19-Pandemie-Monate Januar 2021 bis April 2021 gegen das sog. „Gegenwärtigkeitsprinzip“. Denn seit dem erstmaligen Übergreifen der Pandemie auf Deutschland am 27.01.2020 hatte der Gesetzgeber bis zum 01.01.2021 binnen elf Monaten nicht zeitnah auf deren Implikationen für die Regelbedarfsbestimmung reagiert. Er ist seiner Pflicht zur Aktualisierung der Leistungsbeträge nicht nachgekommen, obwohl es umfassende Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eintraten in Gestalt des Entstehens neuartiger Hygienebedarfe (für Masken, Schnelltests, Impfungen, Infektionsmittel, etc.) sowie nicht unerheblicher Preissteigerungen insbesondere für Lebensmittel während des sog. „Lockdowns“. Anlässlich dessen bestand zwischen Januar 2021 und April 2021 eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter.

 

Eine existenzgefährdende Unterdeckung war in diesen vier Monaten nicht auszuschließen. Gleichwohl hat der Gesetzgeber auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen zum 01.01.2021 zugewartet und mit viermonatige Verspätung erstmalig für Mai 2021 eine Sonderzahlung zum Ausgleich der Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie geregelt. Diese stellte eine im Hinblick auf die bereits vorvergangenen vier Bewilligungsmonate eine nicht mehr zeitnahe und damit unzureichende Existenzsicherung dar. Der in § 70 SGB II vorgesehene Leistungsanspruch auf einen einmaligen Zuschuss zum Regelbedarf für aus dem Pauschalbetrag nicht zu deckende existentielle COVID-19-Mehrbedarfe kam also im Mai 2021 (mehrere) Monate zu spät. Dergestalt hat der Gesetzgeber mit dem von ihm für Januar 2021 bis April 2021 beibehaltenen Modell nicht sichergestellt, dass Unterdeckungen, die aufgrund des statistisch ermittelten, monatlichen Pauschalbetrags entstanden, im Wege internen Ausgleichs oder Ansparens auch tatsächlich gedeckt werden können.

 

Hiergegen kann nicht mit Erfolg eingewandt werden, dass aufgrund der Unvorhersehbarkeit der COVID-19-Pandemie eine zeitnahe Deckung des elementaren Lebensbedarfs unmöglich gewesen wäre.

 

Erstens hatte die Covid-19-Pandemie Deutschland bereits knapp ein Jahr vor dem Beginn des Abgeltungszeitraums der Einmalzahlung aus § 70 SGB II – nämlich am 27.01.2020 – erreicht.

 

Zweitens wäre in dieser Zwischenzeit unter Rückgriff auf das ermittlungsarme Warenkorbmodell eine hinreichend zeitnahe und sukzessive Reaktion des Gesetzgebers umsetzbar gewesen, welche die vorherige Regelbedarfsermittlung anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) von 2018 pandemiespezifisch ergänzen können hätte lange vor dem Abschluss der nachfolgenden EVS 2023 (siehe dazu oben unter Ziff. II. 6. C) a)).

 

Drittens hätte der Gesetzgeber nicht erst bis zum Beginn der COVID-19-Pandemie zuwarten müssen, um das bundesverfassungsgerichtlich bereits 2014 vorgegebene sog. Gegenwärtigkeitsprinzip umzusetzen. In der Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und in der Politik war seither hinlänglich bekannt, dass jedwede Inflationsentwicklung erst im Nachgang abgebildet würde aufgrund der vorbestehenden gesetzlichen Regelungen. Es lag auf der Hand, dass allein mithilfe der diesbezüglich in § 20 Abs. 1a SGGB II i.V.m. § 28 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) nur fünfjährlich stattfindenden Regelbedarfsneuermittlung bzw. der zwischenzeitlich alljährlichen Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 20 Abs. 1a SGGB II i.V.m. § 28a SGB XII gerade keine zeit- und realitätsnahe Regelbedarfsdeckung sichergestellt werden könnte. Dies hatte der Gesetzgeber seit (spätestens) 2014 sehenden Auges hingenommen.

 

Aufgrund dieser Gesetzesregelungen war bis zu der erst am 01.01.2023 in Kraft getretenen Neuregelung schlechterdings willentlich vorgesehen gewesen, dass die jeweils zu erwartende regelbedarfsrelevante Preisentwicklung nicht hinreichend mithilfe aktuell verfügbarer Daten fortgeschrieben würde. Deshalb war es seit der Implementierung des SGB II im Jahr 2005 fast durchgehend zu einer Unterdeckung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs in Relation zu dem aufgrund des SGB II ermittelten und gewährten Regelbedarfs gekommen (Herbe in: Herbe/Palsherm, Neues Bürgergeld, § 8, Rn.260).

 

Indessen wäre dem vom Bundesverfassungsgericht bereits 2014 als verfassungskräftig erkannten Gegenwärtigkeitsprinzip in den Jahren der COVID-19-Pandemie dadurch besser Genüge getan gewesen, dass die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach dem RBEG i.V.m. § 20 Abs. 1a SGB II i.V.m. § 28a SGB XII bereits ab 01.01.2021 in der Weise erfolgt wäre, die seine (heutigen) Fassung vom 16.12.2022 mit Wirkung zum 01.01.2023 vorsieht. Danach werden ab sofort die Regelbedarfsstufen für die bis zur jeweils nächsten Neuermittlung nach § 28 SGB XII verstreichenden Jahre jeweils zum 1. Januar nach den Vorgaben von § 28a Abs. 2 bis 5 SGB XII n.F. ergänzend fortgeschrieben unter ergänzender Berücksichtigung einer sog. Veränderungsrate. Indessen ist für diese Veränderungsrate jeweils die bundesdurchschnittliche Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter und Dienstleistungen in dem Dreimonatszeitraum vom 01.04. bis zum 30.06. des Vorjahres gegenüber dem gleich abgegrenzten Dreimonatszeitraum des Vorvorjahres. Dergestalt werden die Regelbedarfe ab 01.01.2023 sowohl zeit- als auch realitätsnäher bestimmt, was mit dem entsprechenden gesetzgeberischen Willen zur zeitnahen Umsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohne Weiteres auch schon zum 01.01.2021 hätte erfolgen können.

 

Diese abstrakte Erkenntnis lässt sich durch eine konkrete Betrachtung der rechnerischen Auswirkungen des durch den Gesetzgeber verzögerten und nunmehr vollzogenen Systemwechsels bei der Regelbedarfsfortschreibung wie folgt veranschaulichen: So erhöhte sich nach Maßgabe der gesetzlichen Neuregelung bei der Einführung des Bürgergeldes beispielsweise der Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 1 für volljährige Allleinstehende unter erstmaliger Berücksichtigung pandemie(-inflations-)bedingter Preissteigerungen zwischen dem 01.04.2022 und dem 30.06.2022 nach der auf das Betreiben der sog. „Ampel-Koalition“ durchgesetzten Fortschreibungsmethode zum 01.01.2023 von mtl. 449,- € auf mtl. 502,- € um mtl. 53,- €. Dies entspricht einem realitätsgerechten Anstieg um knapp 12 Prozent. Im Gegensatz hierzu hatte sich nach Maßgabe der gesetzlichen Altregelung von vor der Einführung des Bürgergeldes beispielsweise der Regelbedarf der Regelbedarfsstufe 1 für volljährige Allleinstehende unter vollständiger Vernachlässigung pandemie(-inflations-)bedingter Preissteigerungen entsprechend dem gesetzgeberischen und verfassungswidrigen Willen der Bundestagsmehrheit der sog. „Großen Koalition“ zum 01.01.2022 von mtl. 446,- € um mtl. 3,- € auf mtl. 449,- €. Dies entsprach einem evident realitätsfernen Anstieg von nicht einmal 0,7 Prozent.

 

Indes lagen nach den Angaben des im Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Regelbedarfsermittlung zuständigen Referenten, Herrn B. L., in seinem auf der Tagung für Richterinnen und Richter beider Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit des Landes-Baden-Württemberg am 04.07.2023 vorgetragenen Referatsteil betreffend die „Änderungen im SGB II und SGB XII durch die Einführung des Bürgergeldes“ die Pläne für die zum 01.01.2023 in Kraft getretene realitätsnahe ergänzende Fortschreibungsweise zuvor bereits im Ministerium „seit neun Jahren in der Schublade“, ohne, dass der politische Wille der sog. „Großen Koalition“ bestanden hätte, diese Pläne im Sinne der Verfassungsgerichtsrechtsprechung aus 2014 zeitnah umzusetzen, was erst die sog. „Ampel-Koalition“ nachholen musste, als es angesichts der zwischenzeitlichen Preissteigerungen schon zu spät war.

 

In der landessozialgerichtlichen Rechtsprechung wird deshalb unrichtig einhellig behauptet, der Gesetzgeber wäre seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung von 2014 bis zum 01.01.2023 nur aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen nicht nachgekommen, obwohl dies von den auf existenzsichernde Leistungen angewiesenen Menschen verständlicherweise zügiger erwartet worden war (so aber: LSG Niedersachsen-Bremen 24.08.2022, L 8 SO 56/22 B ER). Die erst zum 01.03.2023 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen hätten nämlich gerade nicht erst anlässlich der Preissteigerungen infolge der COVID-19-Pandemie bzw. infolge des Angriffskriegs auf die Ukraine „ad hoc“ erfolgen können und müssen, sondern bereits zuvor zwischen 2014 und 2021 jahrelang im komplexen demokratischen Gesetzgebungsverfahren geprüft und entwickelt werden können (a. A. LSG Schleswig-Holstein, 11.10.2022, L 6 AS 87/22 B ER).

 

Die vom Bundesverfassungsgericht am 23.07.2014 geforderte „zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers“ (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 - 1 BvL 10/12, juris Rn. 144) ist deshalb gerade nicht erfolgt, sondern erst knapp sieben Jahre (2021) in Gestalt des § 70 Satz 1 SGB II n.F. bzw. knapp acht Jahre später (2022) in Gestalt des § 73 SGB II geschehen, als es bereits zu spät war, um die jeweils schon eingetretenen Unterdeckungen des Existenzminimums noch gegenwärtig zu decken (a.A. LSG Baden-Württemberg, 20.07.2022, L 3 AS 1169/22). Zur konsequenten Umsetzung gelangten die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts vom 23.07.2014 erst mit Wirkung zum 01.01.2023, weil nunmehr eine zeitnähere Berücksichtigung der Preisentwicklungen im Wege der sogenannten ergänzenden Fortschreibung der Regelbedarfsstufen aus § 28a Abs. 4 SGB XII als Bestandteil des Bürgergeld-Gesetzes beschlossen worden ist (vgl. BeckOK SozR/Harich, 69. Ed. 1.6.2023, SGB II § 73 Rn. 2).

 

 

d)

 

§ 70 Satz 1 SGB II n.F. ist des Weiteren deshalb weder mit dem Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums noch mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG  in Einklang zu bringen, weil der Gesetzgeber darin die Gewährleistung von Leistungen zum Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie in zeitlicher Hinsicht auf die erste Jahreshälfte 2021 beschränkt, obwohl eben solche Mehraufwendungen auch in den Pandemie-Monaten vor Januar 2021 und nach Juni 2021 zur Sicherung des Existenzminimums angefallen sind (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 12.05.2021, S 12 AS 897/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.2021, S 12 AS 2211/21 ER). Auch und allein deswegen ist § 70 Satz 1 SGB II durch das BVerfG zu verwerfen.

 

§ 70 Satz 1 Var. 1 SGB II verletzt hierdurch zugleich auch den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Durch die gesetzliche Neuregelung werden zwei wesentlich gleiche Sachverhalte unterschiedlich behandelt. Im Wesentlichen gleich sind die Sachverhalte, soweit sie den Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie zugunsten Leistungsberechtigter betreffen, deren Bedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet. Unterschiedlich behandelt werden diese Sachverhalte, soweit derartige Mehraufwendungen gemäß § 70 Satz 1 SGB II nur in der ersten Jahreshälfte 2021 einen begünstigenden Geldleistungsanspruch von einmalig 150,- € begründen sollen, während derartige Mehraufwendungen in den anderen Monaten der COVID–19-Pandemie vor Januar 2021 bzw. nach Juni 2021 bis zum Eingreifen der Nachfolgeregelung aus § 73 SGB II im Juli 2022 keinen Anspruch auf höheres Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld sowie keinen Anspruch auf eine Einmalzahlung oder ein adäquates Äquivalent begründeten.

 

Zwischen beiden Vergleichsgruppen bestehen keine Unterschiede von solcher Art oder solchem Gewicht, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können.

 

In der Literatur wird zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu Unrecht darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber von einer regelungstechnischen Ausgestaltung der Einmalzahlung Abstand genommen habe mit Rücksicht auf sein Ziel, die Leistung so wenig verwaltungsaufwändig wie möglich zu erbringen (so etwa Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70 1. Überarbeitung (Stand: 15.12.2021), Rn. 15). Der vom Gesetzgeber (auch ausweislich der oben unter Ziff. II. 6. C) a) vollständig wörtlich zitierten Gesetzesbegründung) zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bemühte Zweck der Verwaltungsvereinfachung ist als fiskalische Erwägung zwar grundsätzlich verfassungslegitim. Er vermag aber für sich genommen den Eingriff auf eine – im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG – gleiche Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht zu rechtfertigen. Die gesetzgeberischen Festlegungen zur Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen müssen sachlich vertretbar sein. Auch ein politisch ausgehandelter Kompromiss darf nicht zu sachlich nicht begründbaren Ergebnissen führen. Schlicht gegriffene Zahlen ebenso wie Schätzungen ins Blaue hinein genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (BVerfGE 137, 34 (75)).

 

Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen. Die den entsprechenden Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und ist dem Grunde nach für den Gesetzgeber unverfügbar. Diese Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren (BVerfGE 152, 68, juris, Rn. 120). Fiskalische Erwägungen werden den prozeduralen Anforderungen an die Bemessung von Leistungen zur Existenzsicherung von vorneherein nicht gerecht (BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175, juris Rn. 133-140; BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134, juris Rn. 73, 95).

 

Das bundesdeutsche Verfassungsrecht sieht in Art. 1 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Art. 20 Abs. 1 GG die Sozialpflichtigkeit nicht bei den Menschen, die bereits am untersten Rand des Menschenwürdigen leben, sondern bei denen, die über ausreichend Privateigentum verfügen, denn dessen Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, während die Würde des Menschen und das Prinzip des Sozialstaats unantastbar sind, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG (Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

e)

 

Schließlich stehen der Anwendung von § 70 Satz 1 SGB II n.F. sowohl das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als auch der Allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG entgegen, weil der Gesetzgeber die Gewährleistung von Leistungen zum Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie in persönlicher Hinsicht auf jene Menschen beschränkt, die im Mai 2021 existenzsichernde Hilfe benötigten.

 

Derartige Mehraufwendungen sind indessen auch solchen Menschen entstanden, die zwar nicht im Mai 2021, aber in einem früheren oder späteren Monat der COVID-19-Pandemie auf existenzsichernde Hilfen angewiesen gewesen waren (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 12.05.2021, S 12 AS 897/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.2021, S 12 AS 2211/21 ER).

 

Für die diesbezügliche Ungleichbehandlung ist keine Rechtfertigung ersichtlich. Namentlich genügen auch insofern bloße fiskalische Erwägungen wie dasjenige der Verwaltungsvereinfachung nicht (vgl. oben unter Ziff. II. 6. C) d)). Auch und allein deswegen ist § 70 Satz 1 SGB II durch das BVerfG zu verwerfen.

 

 

f)

 

Die voraussichtliche Verfassungswidrigkeit von § 70 Satz 1 SGB II beruht schließlich darauf, dass es der Gesetzgeber zum Ausgleich der Mehraufwendungen von Menschen in existentieller Not im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie auch nicht bei einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ belassen durfte, um das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten (so aber: der Vizepräsident des Bundessozialgesetzes a.D. Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie).

 

Soweit Voelzke mit der „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ den Rückgriff auf § 21 Abs. 6 SGB II meinen sollte, ist ihm zwar dahingehend zuzustimmen, dass die Subsumtion des Corona-Mehrbedarfs unter den Tatbestand der „Härtefallklausel“ aus den oben ausgeführten Erwägungen mit dem verfassungskonform ausgelegten Wortlaut dieser Norm, ihrer Entstehungsgeschichte, ihrem Zweck und ihrer Systematik durchaus geboten wäre, falls das Bundesverfassungsgericht die vorgelegte Norm für verfassungswidrig und nichtig erklärte (siehe oben unter Ziff. II. 6. B) c)).

 

Allerdings ist eine derartige verfassungskonforme Auslegung aus den ebenfalls bereits ausgeführten Gründen bis dahin versperrt durch die für die Sozialverwaltung und die Sozialgerichtsbarkeit verbindliche gesetzgeberische Entscheidung, zum Ausgleich der im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stehenden Mehraufwendungen eine spezielle Sonderregelung in § 70 Satz 1 SGB II zu erlassen, deren Vorrang den Rückgriff auf die allgemeine „Härtefallklausel“ für den Normallfall verschließt, in denen der individuelle COVID-19-Mehrbedarf nicht wesentlich abweicht vom durchschnittlichen COVID-19-Mehrbedarf (siehe oben unter Ziff. II. 6. B) b)).

 

Überdies erscheint äußerst fraglich, inwieweit dem verfassungskräftigen Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums in dem hypothetischen Fall des Nichterlasses von § 70 Satz 1 SGB dadurch Genüge zu tun gewesen wäre, dass bei jedem einzelnen Arbeitsuchenden ein Corona-Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in jener Höhe gewährt worden wäre, in dem im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie in seinem Einzelfall ein unabweisbarer – das heißt insbesondere ein nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten gedeckter – Mehrbedarf zur Existenzsicherung bestand und eine lediglich darlehensweise Leistungserbringung nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nach Maßgabe individuell-konkreter Feststellungen der Leistungsverwaltung nicht möglich war.

 

Eine derartige Praxis wäre im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Hinblick auf ihren Verwaltungsaufwand entgegen Voelzke gerade nicht praktikabel. Die Notwendigkeit einer Massenverwaltung lässt es schlechterdings nicht zu, den Leistungsanspruch von knapp vier Millionen Menschen im Bezug fortlaufend zeitnah individuell zutreffend zu ermitteln im Wege einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“. Die staatlich verfassungskräftig geschuldete Fürsorge kann in einer derartigen Vielzahl von Einzelfällen nicht ohne politische Wertentscheidungen des Gesetzgebers und dessen systematische Reaktionen auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen. Nur durch abstrakte und generelle gesetzgeberische Vorgaben mitsamt pauschalierter Regelbeträge aufgrund fachkundiger Bedarfsermittlungen werden die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt in die Lage versetzt, in konkreten Einzelfällen die zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderliche (Leistungsart und) Leistungshöhe massenhaft festzustellen. Entgegen Voelzke Ansicht ist die „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ gerade im Bereich einer Massenverwaltung daher zuvörderst eine Aufgabe der Legislative.

 

Dies galt umso mehr anlässlich der eingetretenen Sondersituation in Gestalt der COVID-19-Pandemie. Seit Januar 2020 veränderte Corona in den Folgejahren das Zusammenleben der Menschen grundlegend. Dies führte unweigerlich auch zu weitreichenden Änderungen in Bezug auf regelbedarfsrelevante Bedarfe. Hier bedurfte es politischer Wertentscheidungen sowie pandemiespezifischer Grundsicherungsbedarfsermittlungen des Gesetzgebers. Für diese waren empirische Erhebungen und statistischer Auswertungen nach dem sog. Warenkorbmodell geboten (siehe oben unter Ziff. II. 6. C) a)). Diese hätten systematisch erfolgen und mit den sich ändernden Verhältnissen Schritt halten müssen. Entgegen Voelzke konnte diese komplexe Aufgabe nicht den einzelnen Sachbearbeitern in Jobcentern bzw. den einzelnen Berufsrichtern an Sozialgerichten überlassen werden. Immerhin war nicht weniger zu bewerkstelligen als die Berechnung der sich von Person zu Person unterscheidenden und von Woche zu Woche fortdauernd ändernder Bedarfe an Sachen und Gütern bzw. diesbezüglichen Geldleistungen, deren Höhe nicht nur nach Maßgabe der sich ändernden Marktpreise für Hygieneartikel schwankte, sondern auch danach, in welcher Anzahl sie erforderlich waren aufgrund der jeweils aktuellen Witterungsbedingungen und Infektionszahlen sowie in Abhängigkeit von individuellen Lebensumständen wie beispielsweise der individuellen Vulnerabilität der Betroffenen selbst sowie ihrer Angehörigen und sonstigen Mitmenschen.

 

Die originäre Aufgabe des Gesetzgebers zu diesbezüglichen politischen Wertentscheidungen und qualitativ hinreichender Grundsicherungsbedarfsermittlungen nach dem Warenkorbmodell konnten einzelne Sachbearbeiter in Jobcentern oder Berufsrichter der Sozialgerichtsbarkeit in Ermangelung einer entsprechenden Infrastruktur mit den dort für die Einzelfallanwendung des SGB II vorgehaltenen Sach- und Personalmitteln nicht ansatzweise bewältigen, ersatzweise bewerkstelligen bzw. einzelfallbezogen nachholen. Insofern weist übrigens Harig nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Regelungskonstruktion von § 70 Satz 1 SGB II verfassungsrechtlich problematisch ist, weil das SGB II grundsätzlich davon ausgeht, dass die von ihm anerkannten Bedarfe jeweils anspruchsbegründend wirken und zugleich das sozialrechtliche Existenzminimum definieren (BeckOK SozR/Harich, 63. Ed. 1.12.2021, SGB II § 70 Rn. 3). Eben diese in Bezug auf Art und Umgang der Grundsicherungsleistungen bestehende Definitionspflicht verletzte der Gesetzgeber während der COVID-19-Pandemie, indem er die verfassungskräftig gebotene Einführung eines anspruchsbegründenden laufenden Corona-Mehrbedarfs und dessen fortlaufende Anpassung an die sich rapide ändernden Lebensverhältnisse zunächst jahrelang unterließ und sich dann mit der Schaffung zweier voraussichtlich verfassungswidriger Einmalzahlungen gemäß §§ 70, 73 SGB II aus seiner verfassungskräftigen Verantwortung zur Deckung des Existenzminimums stahl.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits erkannt: Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Auch kommt ihm der Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 –, BVerfGE 125, 175-260, Rn. 138).

 

Der hiernach verfassungskräftig gebotenen legislativen Definition des menschenwürdigen Existenzminimums genügt das Gesetz zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) gerade nicht.

 

Eine Abhilfe im Wege einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ zum Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums war überdies auch unter dem Blickwinkel der instanziellen Zuständigkeit seitens der mit der Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Sozialleistungsverwaltung völlig ausgeschlossen (a.A.: VPräsBSG aD Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie). Es zählt nicht zu den Aufgaben eines weisungsgebundenen Sachbearbeiters eines örtlichen Jobcenters, sich in der Entscheidungspraxis zum Corona-Mehrbedarf in Widerspruch zu setzen zu dem, was ihm gegenüber weisungsbefugte Dienstvorgesetzte von ihm erwarten (dürfen). Die einzelnen Dienstvorgesetzten der Jobcenter in den kreisfreien Städten und Landkreisen vor Ort unterliegen ihrerseits wiederum den fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit. Deren Rechtsaufsichtsbehörde ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Dessen Bundesminister war bei der Gesetzgebung zum „Sozialschutz-Paket III“ in die gemeinsame Willensbildung innerhalb der damaligen Bundesregierung bzw. der damaligen Koalitionsparteien eingebunden und unterstand der Richtlinienkompetenz der vormaligen Bundeskanzlerin. Ohne einen entsprechenden politisch mehrheitsfähigen Willen und entsprechenden Vorgaben der politischen Bundeselite stand es den mit der Grundsicherungsverwaltung befassten Sachbearbeitern örtlicher Jobcenter nicht frei, den Corona-Mehrbedarf eigenmächtig mithilfe einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ anders zu gewährleisten, als dies im Kabinett – in Gestalt der bloßen Einmalzahlung von 150,- € im Mai 2021 – beschlossen und entlang der Weisungskette „ganz nach unten“ vorgegeben war.

 

Auf das gesetzgeberische Versagen im Zuge der unterbliebenen Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums durch eine „situationsangepasste Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ zu reagieren, wäre seit Beginn der COVID-19-Pandemie hingegen die verfassungstheoretische Aufgabe der Sozialgerichtsbarkeit gewesen. Denn sie ist gemäß Art. 20 Abs. 3 des GG als Teil der rechtsprechenden Gewalt nicht nur an die von Seiten der Bundespolitik verabschiedeten einfachen „Gesetze“ gebunden. Vielmehr vertraut das Grundgesetz der Sozialgerichtsbarkeit nach derselben Bestimmung verfassungstheoretisch auch die hehre Aufgabe an, das „Recht“ in der Gestalt verfassungskräftiger Grundwerte sowohl im Einzelfall als auch im Wege der Rechtsfortbildung zur Durchsetzung zu bringen. Gemäß Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 92, Art 97 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 100 Abs. 1, Art. 101, Art. 103 Abs. 1 GG hatte jeder Sozialrichter die Rechtsmacht und die Rechtspflicht, für den Schutz der verfassungskräftigen Ordnung einzutreten, soweit ihm als Richter die Bearbeitung von Fällen im Zusammenhang mit dem Mehrbedarf zum Ausgleich der Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie kraft Gesetzes übertragen war, der Gesetzgeber die verfassungskräftig gebotene Anpassung der Gewährleistung der Grundsicherung unterlassen hatte und die Grundsicherungsverwaltungen hieran gebunden waren.

 

Insofern ist nach dem Ende der COVID-19-Pandemie aber inzwischen empirisch widerlegt, dass im Wege einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ der Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums von Seiten der Sozialgerichtsbarkeit im Falle gesetzgeberischer Untätigkeit gewährleistet werden könnte (a.A.: VPräsBSG aD Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, § 70 Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie). Die Berufsrichter an den 68 Sozialgerichten, 14 Landessozialgerichten und am Bundessozialgericht gewährleisteten in einer Vielzahl von Einzelfallentscheidungen das Existenzminimum der Arbeitsuchenden gerade nicht. Vielmehr riefen die Menschen in existentieller Not in Deutschland die Sozialgerichtbarkeit in aller Regel erfolglos um Rechtsschutz an, um ihren grundsicherungsrechtlichen Anspruch auf eine verfassungsgemäße Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums unter besonderer Berücksichtigung ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie durchzusetzen. Indes ist es in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar, dass die Justizgewährleistung in Bezug auf den Grundrechtsschutz jahrelang nicht funktioniert, weil die verletzten Grundrechtsträger auch vor Gerichten regelmäßig grundrechtsschutzlos bleiben.

 

Indes verstört dieser empirische Befund (d. h. dass die Sozialgerichtsbarkeit in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der COVID-19-Pandemie und der nachfolgenden Preissteigerungen in Bezug auf das Grundsicherungsrecht kollektiv ihrem Verfassungsauftrag schlechterdings nicht gewachsen war) nicht nur im Ergebnis. Neben dem Ergebnis an sich verstört vor allem die Art und Weise, auf des es zustande gekommen ist. Die veröffentlichten Entscheidungsbegründungen der Sozialgerichtsbarkeit offenbaren nämlich, dass die von Voelzke geforderte „situationsangepasste Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ durchaus erfolgte. Allerdings bedeutete diese mitnichten die Gewährleistung verfassungskräftiger Vorgaben. Umkehrt bestand die „situationsangepasste Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ in einer kollektiven Nichtachtung elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien und Rechte.

 

In ihren den COVID-19-Mehrbedarf ablehnenden Entscheidungen missachtete die Sozialgerichtsbarkeit namentlich nahezu einhellig:

aa) den Verfassungsgrundsatz des Vorbehalts des Gesetzes (siehe dazu: Ziff. II. 6. C) f) aa));

  1.  die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (dazu: Ziff. II. 6. C) f) bb));
  2.  die verfassungskräftige Verteilung der Verbands- und Organkompetenzen (dazu: Ziff. II. 6. C) f) cc));
  3.  das verfassungskräftige Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör (dazu: Ziff. II. 6. C) f) dd));
  4.  den verfassungskräftigen Anspruch auf den gesetzlichen Richter (dazu: Ziff. II. 6. C) f) ee)).

 

Im Einzelnen:

aa)

 

Die Sozialgerichtsbarkeit verstieß in ihren veröffentlichten Entscheidungen zum Anspruch über höhere Grundsicherungsleistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie bis einschließlich 31.03.2021 nahezu einhellig gegen das Verfassungsprinzip des Vorbehalts des Gesetzes aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 31, 37 SGB I.

 

Durch den Vorbehalt des Gesetzes sind im demokratischen Rechtsstaat Behörden und Gerichte an die geltenden Gesetze gebunden. Dem Gesetzesvorbehalt genügen nur Gesetze, welche durch die nach Art. 70 ff GG zuständigen Gesetzgebungsorgane in den von der Verfassung in Art. 76 ff GG bestimmten Verfahren in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht und verabschiedet, gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG vom Bundespräsidenten ausgefertigt und verkündet worden und nach Art. 82 Abs. 2 GG in Kraft getreten sind. Solange ein bloßer Gesetzesentwurf nicht alle diese Stadien des Gesetzgebungsverfahrens durchlaufen hat, liegt noch kein „Gesetz“ vor und dem Vorbehalt des Gesetzes ist nicht Genüge getan (Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER).

 

Im Widerspruch hierzu lehnten bundesweit (sowohl die Jobcenter als auch) die Sozialgerichte die Gewährung existenzsichernder Leistungen zur Deckung des Corona-Mehrbedarfs unter Hinweis auf das „Sozialschutz-Paket III“ bereits ab, als es sich hierbei noch um einen bloßen Gesetzesentwurf handelte. § 70 SGB II trat laut Art. 8 des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) aber erst zum 01.04.2021 in Kraft. Von der Sozialgerichtsbarkeit wurde die Einmalzahlung ausweislich der in den juristischen Datenbanken veröffentlichten Entscheidungen bereits davor wie selbstverständlich ohne diesbezügliche Erläuterungen als vermeintlich wirksame Rechtsgrundlage für Gerichtsentscheidungen herangezogen (Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N). Dies verstört umso mehr, als dass es sich ausnahmslos um Eilgerichtsentscheidungen handelte, in denen die Berufsrichter wider besseren Wissens die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Anordnung bereits im Februar 2021 und im März 2021 mit der aberwitzigen Begründung verneinten, der bereits gegenwärtige Bedarf an Hygieneartikeln (insbesondere in Gestalt von FFP2-Masken) der Arbeitsuchenden werde rechtzeitig gedeckt durch eine Einmalzahlung, deren Auszahlung nach dem bloßen Gesetzesentwurf jedoch erst für Mai 2021, nach zwei bis drei Monaten, vorgesehen war.

 

 

bb)

 

Die Sozialgerichtsbarkeit missachtete in ihren Entscheidungen zum Anspruch über höhere Grundsicherungsleistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts.

 

Nach der Wesentlichkeitstheorie gebieten das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG und das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG dem Gesetzgeber, in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen. Bestehen, Inhalt, Umfang und Dauer von Grundsicherungsleistungsansprüchen sind nach dem Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 daher im Verfahren 1 BvL 1/09 durch Bundestag und Bundesrat in einem Bundesgesetz zu regeln. Das Verfassungsgericht hat unmissverständlich herausgearbeitet, dass die Konkretisierung und stetige Aktualisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG durch den Gesetzgeber erfolgen muss. Der Gesetzgeber muss die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen ausrichten und den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken (BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, Rn. 136).

 

Gemessen an diesen verfassungsgerichtlichen Anforderungen stellen allein die untergesetzlichen Vorgaben der jeweiligen Corona-Landesverordnungen der einzelnen Landesregierungen daher keinen Maßstab dar zur Bestimmung von Art und Höhe der existenzsichernden Mehrbedarfe im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie (Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

Gleichwohl beurteilte die Sozialgerichtsbarkeit im Bereich existenzsichernder Leistungen die Höhe des existenzsichernden Corona-Mehrbedarfs maßgeblich anhand der jeweiligen Verordnungen der Bundesländer, die anlässlich der COVID-19-Pandemie jeweils von Landesministern oder dem Landeskabinett beschlossen und regelmäßig abgeändert werden. Zur Bemessung von Art und Ausmaß der erforderlichen Hygieneartikel legten die Richter an Sozialgerichten und Landessozialgerichten nahezu einhellig die Wertungen in den jeweiligen Corona-Landesverordnungen der jeweiligen Landesregierungen zugrunde (Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N).

 

Der verfassungskonforme normative Gesamtmaßstab für die qualitative und quantitative Feststellung des Mehrbedarfs an Corona-Mund-Nasen-Bedeckungen ergab sich jedoch aus einer integrativen Betrachtung des nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland garantierten Existenzminimums an sozialer Teilhabe, der nach dem Strafgesetzbuch gebotenen Abwendung von Gesundheitsschädigungen, des zur Gefahrenabwehr primär nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz (und nur sekundär nach den Corona-Verordnungen) erforderlichen Tragens von Mund-Nasen-Bedeckungen in hierfür geeigneter Qualität und Quantität sowie den beiden Struktur-Prinzipien des SGB II, d. h. des „Forderns“ (zumutbarer Eigenbemühungen) und des „Förderns“ (individuell wie strukturell bedingt dauerhaft hilfebedürftiger Mitmenschen in prekären Lebensverhältnissen mit einer entsprechend herabgesetzten Anpassungsfähigkeit an die lebenspraktischen Anforderungen der COVID-19-Pandemie) (SG Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

 

cc)

 

Die Sozialgerichtsbarkeit verletzte in ihren Entscheidungen zum Anspruch über höhere Grundsicherungsleistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie gegen die im Grundgesetz für die Gesetzgebung zur Grundsicherung für Arbeitsuchende verfassungskräftig vorgeschriebene Verteilung der Verbands- und Organkompetenzen.

 

Den einzelnen Bundesländern fehlte im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland die Verbandszuständigkeit, Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende selbst zu regeln (vgl. Art. 70 ff. GG, Art. 91e GG, Art. 104a Abs. 3 Satz 3 GG). Zudem fehlt einer (Landes-) Regierung als Exekutivorgan gemäß Art. 76 bis 78 GG die dem (Bundes-) „Gesetzgeber“ vorbehaltene Organkompetenz, förmliche Parlamentsgesetze zu verabschieden. Die jeweiligen Corona-Landesverordnungen der Landesregierungen bzw. Landesminister bildeten also auch in puncto Verbands- und Organzuständigkeit keinen verfassungslegitimen Maßstab für die Bemessung der Grundsicherung der Arbeitsuchenden (Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 A 711/21 ER).

 

Trotzdem beantwortet die Sozialgerichtsbarkeit – wie gesagt – die Frage nach Grund, Art und Höhe des grundsicherungsrechtlichen Corona-Mehrbedarfs allein nach Maßgabe des Inhalts der jeweiligen Corona-Landesverordnungen. Sie bedienten sich dadurch auch insofern eines verfassungswidrigen Maßstabs (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N).

 

 

dd)

 

Des Weiteren verwirklichte die Sozialgerichtsbarkeit in ihren Entscheidungen zum grundsicherungsrechtlichen Anspruch auf höhere Leistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie regelmäßig nicht das Verfahrensgrundrecht der Rechtsbehelfsführer auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.

 

Das Bundesverfassungsgericht versteht den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur als „prozessuales Urrecht“ des Menschen, sondern auch als objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes schlechthin konstitutiv ist. Rechtliches Gehör sichert den Verfahrensbeteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs feststellen, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht ein tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat. Dies ist dann der Fall, wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten annimmt oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt. Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen jedenfalls in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Verfahrensbeteiligten zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfG, Beschluss vom 07.12.2006, 2 BvR 722/06).

 

Im Gegensatz zu diesen verfassungsgerichtlich erkannten Anforderungen berücksichtigte die Sozialgerichtsbarkeit in ihren bislang veröffentlichten Entscheidungen zum grundsicherungsrechtlichen Anspruch auf höhere Leistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie regelmäßig das tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Rechtsbehelfsführer nicht. Die Berufsrichter an den Sozialgerichten und Landessozialgerichten zogen – soweit dies aus den veröffentlichten Gerichtsentscheidungen ersichtlich ist – den Vortrag nicht ernstlich in Erwägung, soweit die jeweiligen Rechtsmittelführer zur Substantiierung ihrer Ansprüche auf die gemeinfrei zugänglichen und reichweitenstark rezipierten Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 12.05.2021, S 12 AS 897/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.2021, S 12 AS 2211/21 ER) Bezug nahmen. Aus den veröffentlichten Entscheidungen der anderen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit ist indes ausnahmslos ersichtlich, dass die Berufsrichter nicht eingingen auf die dort zur jeweiligen Rechtsverfolgung in Bezug genommen Tatsachenfeststellungen des Sozialgerichts Karlsruhe trotz deren zentraler Bedeutung, obgleich diese erheblich und im Wege der Bezugnahme auf allgemeinfrei veröffentlichte Gerichtsentscheidungen hinreichend substanttiert waren.

 

Zur Geltendmachung ihrer Ansprüche auf höhere Grundsicherungsleistungen zum Ausgleich der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-29-Pandemie waren indes solche Tatsachenbehauptungen entscheidungserheblich und von zentraler Bedeutung, die sich auf die Frage beziehen, ob und ggfs. wie sich die veränderten Lebens-, Einkommens- und Ausgabenverhältnisse von Menschen in existentieller Not während der Pandemie verändert hatten. Ausweislich der veröffentlichten Entscheidungen der Sozialgerichte und Landessozialgerichte machten sich die Rechtsbehelfsführer bundesweit im Wege der Bezugnahme die in den Entscheidungsgründen des Sozialgerichts Karlsruhe in seinen ersten drei Corona-Beschlüssen (SG Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER; SG Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; SG Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER) festgestellten Erkenntnisse ausdrücklich zu Eigen. Sinngemäß verwiesen die jeweiligen Rechtsbehelfsführer im Wege der Bezugnahme damit insbesondere auf die Erkenntnisse der im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Arbeit und Soziales angehörten Sachverständigen, welche in Übereinstimmung mit der Bundesagentur für Arbeit in ihren schriftlichen Stellungnahmen einhellig ausgeführt hatten, warum Hilfebedürftige in wirtschaftlich existentieller Notlage die Mehrkosten der Pandemie nicht durch Minderausgaben in anderen Lebensbereichen kompensieren könnten: „Tafeln“ seien geschlossen, Schulmittagessen fielen ersatzlos aus, der Verkauf von Straßenzeitungen, Straßenmusik, das Sammeln von Pfandflaschen und Bettelei brächten weniger ein. Trotzdem müssten die Menschen neben medizinischen Mund-Nasen-Bedeckungen, Desinfektionsmitteln und Corona-Schnelltests auch Mehrkosten für gestiegene Lebensmittelpreise schultern und für Homeschooling digitale Endgeräte anschaffen. Die jeweiligen Rechtsbehelfsführer machten also geltend, dass diesen Sachverständigen zufolge eine einmalige Zahlung von nur 150,- € erst im Mai 2021 zu spät komme und der Höhe nach nicht genüge, weil sei eine Erhöhung des Regelsatzes um ca. 100,- € für jeden Pandemiemonat sei. Die jeweils angerufenen Sozialgerichte und Landessozialgericht hätten demnach zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs eben diese Erkenntnisse aus dem laufenden Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen müssen (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N).

 

Ausweislich der veröffentlichten Entscheidungen der Sozialgerichtsbarkeit berücksichtigte aber kein einziges anderes Sozialgericht oder Landessozialgericht diese gewichtigen Sachargumente der Rechtsbehelfsführer. Stattdessen wurde einhellig das Gegenteil des Vortrags der jeweiligen Rechtsuchenden angenommen, ohne sich mit den vorgebrachten Tatsachenbehauptungen und den in Bezug genommenen Erkenntnissen aus dem Gesetzgebungsverfahren ansatzweise auseinanderzusetzen. Die Rechtschutz in Angelegenheiten der Grundsicherung suchenden Menschen in existenzieller Not trugen unter Bezugnahme auf die drei oben genannten Eilentscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe in tatsächlicher Hinsicht nämlich vor, dass die für die Leistungsberechnung des Arbeitslosengeldes 2 im Jahr 2021 maßgeblichen Regelbedarfssätze nicht mehr realitätsgerecht das zur Sicherung des Lebensunterhaltes während der Corona-Pandemie erforderliche Minimum einschließlich der Kosten für FFP2-Masken gewährleisteten. Das Gegenteil hiervon unterstellte die übrige Sozialgerichtsbarkeit. Sie legte im Ergebnis ihrer vom Sozialgericht Karlsruhe abweichenden Beweiswürdigung als Tatsache zugrunde, dass die Menschen in existentieller Not die Kosten des Kaufes medizinische Masken aus dem Regelbedarfssatz bestreiten und hierdurch zur Mehrbedarfsdeckung gegenwärtig auf eigene Mittel zurückgreifen könnten, da eine Bedarfsdeckung unter Epidemie-Bedingungen im Wege anderweitiger Einsparmöglichkeiten gegeben sei, weil aufgrund der aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens sowie der bestehenden Kontaktbeschränkungen reduzierte Ausgaben in den Bereichen Verkehr, Freizeit, Unterhaltung, Kultur und für Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen es erlaubten, eine hinreichende Umschichtung freiwerdender Mittel aus diesen Bereichen zur Deckung der Kosten von Hygienemitteln ermöglichen (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N).

 

Indessen erfolgte diese einhellige Unterstellung einer derartigen Umschichtungsmöglichkeit durch die Sozialgerichtsbarkeit trotz der Substanz des gegenteiligen Vorbringens der Rechtsuchenden „ins Blaue hinein“, d. h. ohne, dass Erkenntnismittel in die Gerichtsverfahren eingeführt worden wären, welche die in Bezug genommenen Erkenntnisse des Sozialgerichts Karlsruhe entkräften oder widerlegen können hätten. Derweil lag auf der Hand, dass es anlässlich der COVID-19-Pandemie einen höheren Bedarf für Menschen in existentieller Not im Zusammenhang mit Mehraufwendungen für Hygienemittel gab, weil dessen Entstehen gerade den Anlass zum Sozialschutz-Paket III und zur Anhörung der Sachverständigen und deren einhelliger Bejahung eines Mehrbedarfs gegeben hatte. Die in der Sozialgerichtsbarkeit pauschal geleugnete Lücke in der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums bestand derweil nach einer repräsentativen Umfrage (durch das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa unter 1.003 Personen über 18 Jahren vom 12. bis 18.02.2021) nach Meinung von 68 Prozent der Befragten, welche der Meinung waren, dass Menschen mit geringen Einkommen in der Corona-Krise bisher insgesamt von der Bundesregierung nicht ausreichend unterstützt worden seien; erst recht galt dies für Menschen, die sogar in existentieller Not lebten und auf existenzsichernde Leistungen angewiesen waren.

 

Unter Verletzung des Verfahrensgrundrechts des rechtlichen Gehörs zu den vorgebrachten Tatsachenbehauptungen ließen die Sozialgerichte und Landessozialgerichte überdies auch das Vorbringen der Rechtssuchenden in rechtlicher bzw. verfassungsrechtlicher Hinsicht unberücksichtigt. Ihren im Wege der Bezugnahme auf die genannten Beschlüsse des Sozialgerichts Karlsruhe regelmäßig vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken schenkte die Sozialgerichtsbarkeit keine ernstliche Beachtung (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N). Insbesondere fehlten in den von ihr veröffentlichten Gerichtsentscheidungen durch Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Ausführungen zu den Fragen,

 

- wieviel soziale Teilhabe unter der Vorbedingung eines bereits dreimonatigen sogenannten „Lockdowns“ den ärmsten Menschen verfassungsrechtlich zuzugestehen sei;

 

- wie ein entsprechender Mehrbedarf zur Gewährleistung einer hierfür ausreichenden Versorgung mit kostspieligen Hygieneprodukten gegenwärtig (anstatt mit mehrmonatiger Verzögerung) und in einer dem Allgemeinen Gleichheitssatz beachtenden gewährleistet werden könne;

 

- wie die Höhe dieses Corona-Mehrbedarfs in Ermangelung einer empirisch tragfähigen Grundlage bzw. statistischen Auswertung in einem bestmöglich verfassungskonformen Gerichtsverfahren zu ermitteln und zu begründen und im Ergebnis nach Art und Höhe der Leistungen ausreichend groß und zweckmäßig zu bemessen sei.

 

Eben jenen Fragestellungen gingen die Sozialgerichte und Landessozialgericht trotz des diesbezüglichen Vortrags der Beteiligten bzw. der in Bezug genommenen Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe in ihren Gerichtsentscheidungen nicht einmal ansatzweise nach, obwohl sie sich aufdrängten und im Wege der Bezugnahme auf sie hingewiesen worden war von Seiten der nach Grundrechtsschutz suchenden Menschen in existentieller Not (vgl. Gilsbach, FFP2-Masken für Leistungsbeziehende nach dem SGB II gibt es nur beim SG Karlsruhe, KJ – Kritische Justiz, 2021, 386; m.w.N).

 

ee)

 

Fünftens vernachlässigte die Sozialgerichtsbarkeit das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 100 Abs. 1 GG.

 

Gemäß Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG ist ein Gericht verpflichtet, den Gerichtsprozess auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, wenn das angerufene Gericht das Gesetz für verfassungswidrig hält. Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

 

Entgegen diesen Bestimmungen entzogen die Berufsrichter der Sozialgerichtsbarkeit denjenigen Menschen in existentieller Not, welche die Sozialgerichte und Landessozialgerichte zur Geltendmachung höherer Leistungen zum Ausgleich ihrer Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie anriefen, ihren gesetzlichen Richter für die Frage, ob das Gesetz zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sozialschutz-Paket III) vom 10.03.2021 verfassungswidrig  ist.

 

Letzteres ist im Hinblick auf die bisherigen Ausführungen in diesem Vorlagebeschluss zur Überzeugung des Vorlagegerichts evident (siehe oben unter Ziff. II. 6. C) a) – f)). Auch sind die Gründe der Verfassungswidrigkeit bereits 28 Monate lang bekannt bzw. nur infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt. Sie waren seither in den veröffentlichten Entscheidungen des Sozialgerichts Karlsruhe jedermann zugänglich (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; Sozialgericht Karlsruhe, 24.03.2021, S 12 AS 711/21 ER).

 

So hätte sich innerhalb der für das Existenzsicherungsrecht zuständigen Berufsrichterschaft der bundesdeutschen Sozialgerichtsbarkeit die Unvereinbarkeit der Einmalzahlung aus § 70 Satz 1 SGB II mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und den Allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aufdrängen müssen. Angesichts dessen ist justizextern nicht nachzuvollziehen, weshalb die Richter das Bestehen der pandemie- bzw. inflationsbedingt unabweisbaren Mehraufwendungen beharrlich kollektiv leugnen, anstatt die grundgesetzwidrigen Bestimmungen dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen und die Jobcenter einstweilen zur Gewährung weiterer Leistungen zu verpflichten (vgl. Ronen Steinke, „Armes Deutschland – Wie viel ist uns Menschenwürde wert? Die Debatte um das Bürgergeld zeigt die herablassende Gönnerhaftigkeit von Politik und Gesellschaft“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 275, Dienstag, 29. November 2022, Seite 9.).

 

Dieses offenkundige Versagen leistete nicht nur demokratieskeptischen recht(sextrem)en Tendenzen Vorschub, sondern bestärkte auch link(sextrem)e darin, in sozialgerichtlichen Klagebegründungen verschwörungstheoretisch die Misere der Sozialgerichtsbarkeit wäre allein mit ihrer historischen Verstrickung mit dem fremdenfeindlichen und rassistischen Nazi-Regime bzw. den persönlichen Kontinuitäten in der Justiz nach 1945 zu erklären (vgl. SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 23. Januar 2023 – S 12 AS 2166/22 –, Rn. 17, juris).

 

Trotz alledem sind die Berufsrichter der 68 Sozialgerichte und 14 Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts kollektiv ihrer Verfassungspflicht aus Art. 100 Abs. 1 GG nicht nachgekommen, die voraussichtlich verfassungswidrige Vorschrift des § 70 Satz 1 SGB II den für ihre Nichtigkeitserklärung kraft Gesetzes zuständigen Richtern des Bundesverfassungsgerichts vorzulegen.

 

 

Eingedenk all dessen erweist sich die vom Vizepräsidenten des Bundessozialgerichts a. D. Voelzke als ausreichend erachtete „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“ rückblickend als verfassungspraktisch vollkommen ineffektiv, um den Schutz der Menschenwürde und die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats auch unter den besonderen Anforderungen der COVID-19-Pandemie und der Inflation der Folgejahre 2021 und 2022 zu gewährleisten.

 

 

Die hierfür maßgeblichen Gründe sind indes justizintern bekannt. Sie werden in den diesbezüglichen Gerichtsentscheidungen und Literaturbeiträgen verschwiegen, weil sie politischer Natur sind. Politische Erwägungen verbieten sich in richterlichen Entscheidungen grundsätzlich. Ihnen steht das richterliche Mäßigungsgebot aus § 39 Deutsches Richtergesetz (DRiG) entgegen. Dieses gebietet es, sich so zu verhalten, dass das Vertrauen in die Unabhängigkeit nicht gefährdet wird, und gilt insbesondere auch bei der politischen Betätigung.

 

Die sich demgemäß politisch mäßigenden Verneiner des Mehrbedarfs durch Inflation und COVID-19 verkennen indes richterethiksirrtümlich die Nachrangigkeit des Mäßigungsgebots gegenüber ihrer richterlichen Hauptpflicht zur Ausübung der ihnen anvertrauten rechtsprechenden Gewalt gemäß § 9 Ziff. 2 DRiG. Danach darf in den Genuss richterlicher Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 GG nur kommen, wer als Gegenleistung auch die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten. Gemessen hieran kennzeichnet es die Wehrhaftigkeit unser Demokratie geradezu, dass sich jeder Richter im Einzelfall des Verfassungsbruchs über die politischen Erwägungen der demokratisch stärker legitimierten vollziehenden Gewalt bzw. des sie wählenden und stützenden Gesetzgebers hinwegsetzen muss. Denn falls diese beiden anderen Staatsgewalten die verfassungsrechtlichen Grenzen ihrer politischen Einschätzungsprärogativen missachten, obliegt es jedem zuständigen Angehörigen der rechtsprechenden Gewalt, den Schutz grundgesetzlich geschützter Rechtspositionen der politisch unterlegenen Minderheiten zu gewährleisten bzw. das hierfür zuständige Bundesverfassungsgericht als gesetzlichen Richter anzurufen.

 

Hernach tritt das richterliche Mäßigungsgebot im vorliegenden Fall hinter die richterliche Einstandspflicht für das Grundgesetz zurück. Anlässlich der vom Gesetzgeber und von der Bundesregierung bewusst sozialpolitisch in Kauf genommenen Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums rechtfertigt die richterliche Mäßigungspflicht es gerade nicht, als Sozialrichter das Bestehen evidenter Mehrbedarfe für Infektionsschutzmittel und Inflationsausgleich zu leugnen bzw. verfassungskräftig nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebotene Vorlagebeschlüsse an das Bundesverfassungsgericht zu unterlassen. Ebenso wenig rechtfertigt es die richterliche Mäßigungspflicht, im Rahmen einer derartig irrgeleiteten Verfassungsrechtsbeugung diejenigen verfassungsillegitimen Gründe zu verhehlen, auf denen eben dieses kollektive Leugnen bzw. Unterlassen der Sozialgerichtsbarkeit im Wesentlichen mitberuht.

 

Dessen eingedenk ist hier abschließend durch das Vorlagegericht der verfassungspraktisch bedeutsamste – wenngleich verfassungsillegitime – Grund für die bisherige kollektive Nichtvorlage des § 70 Satz 1 SGB II durch die Sozialgerichtsbarkeit an das Bundesverfassungsgericht zu benennen. Kurzum besteht er darin, dass die verfassungstheoretische Unabhängigkeit des Richters in den Landessozialgerichtsbarkeiten der Bundesländer kaum praktische Bedeutung hat, weil die rechtsprechende Gewalt in Deutschland über keine eigene Budgethoheit verfügt und zudem die Sozialrichter den jeweiligen Landesregierungen hierarchisch untergeordnet bzw. nicht frei von Interventionen oder Druck ihnen übergeordneter Justizverwaltungen sind. Art. 97 Abs. 1 GG bestimmt deshalb zwar verfassungstheoretisch, dass alle Richter in Deutschland unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Diese Unabhängigkeit existiert berufspraktisch indes in den Landesozialgerichtsbarkeiten nur innerhalb zusätzlicher Schranken, welche die jeweiligen Landeshaushaltsgesetzgeber generell und die jeweiligen Landesjustizverwaltungen bei Bedarf zusätzlich im Einzelfall errichten (können).

 

Verfassungsillegitime faktische Rechtsprechungsschranken errichten zuvörderst die jeweiligen Haushaltsgesetzgeber im Wege der völlig unzureichenden Sach- und Personalausstattung der Sozialgerichte und Landessozialgerichte. Indem die Haushaltsgesetzgeber der Länder seit Jahrzehnten viel zu wenig Richterstellen schaffen, sparen sie ihre Sozialgerichtsbarkeiten kaputt. Dergestalt entwaffnen die Landeshaushaltsgesetzgeber als jeweils erste der drei Staatsgewalten jedes Bundeslandes die jeweils dritte Staatsgewalt jedes Bundeslandes im Bereich des Sozialrechts dermaßen, dass die verfassungstheoretische Gewaltenteilung nicht funktionieren kann, weil die Sozialgerichtsbarkeiten ihre Kontrollfunktion gegenüber der Legislative aus Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG faktisch so gut wie gar nicht erfüllen können.

 

Dies folgt lebenspraktisch daraus, dass sich kaum irgendein Berufsrichter an einem deutschen Sozialgericht imstande sieht, neben dem alltäglichen Richterdienst einen Vorlagebeschluss nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wie diesen zu fertigen. Den hiermit einhergehenden Arbeitsanfall können die allermeisten Berufsrichter der kaputt gesparten Sozialgerichtsbarkeiten schlechterdings nicht zusätzlich bewerkstelligen.

 

Außerdem könnten sie nicht den absehbar durch einen hypothetischen Vorlagebeschluss für gleichartige Folgeverfahren ausgelösten zusätzlichen richterdienstlichen Geschäftsanfall erledigen. Die hypothetische Bejahung des Bestehens genereller Mehrbedarfe aufgrund der Pandemie bzw. der Inflation bedeutete nämlich, für alle grundsicherungsrechtlichen Folgeverfahren betreffend die Regelbedarfsleistungen der Jahre 2021 und 2022 zusätzlich das Fehlen einer diesbezüglichen gesetzlichen generell-abstrakten Regelung zur pauschalierten Höhe des monatlichen Mehrbedarfs als Richter kompensieren zu müssen. Dies bedeutete im sozialrichterlichen Berufsalltag praktisch, die jeweilige Höhe dieser Mehrbedarfsleistungen in jedem Streitfall über die Leistungen zur Sicherung des Lebensbedarfs für einen Arbeitsuchenden richterlich einzeln festsetzen zu müssen. Dies erfolgte wegen der behördlichen und richterlichen Gesetzesbindung (zunächst nur) im Rahmen zusätzlicher einstweiliger Rechtsschutzverfahren. Dabei wäre jeweils in Ermangelung gesetzgeberischer Pauschalbeträge die Leistungshöhe nach Maßgabe konkret-individueller Verhältnisse zu bestimmen unter Berücksichtigung des jeweiligen Gesundheitszustandes, des jeweiligen Pandemieverlaufs, der jeweiligen Preisentwicklung, etc. Schon diese einzelfallbezogene Leistungsbemessung wäre in Anbetracht von 4.000.000 Menschen im Leistungsbezug der Existenzsicherung für Arbeitsuchende mit den gegebenen Ausstattungen der Landessozialgerichtsbarkeiten (richterkollektiv) nicht zu schaffen gewesen.

 

Überdies schließen bereits anhängige Normenkontrollanträge wegen desselben Gesetzes weitere Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG (sog. „Mehrfachvorlagen“) nicht als unzulässig aus (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Dederer, 100. EL Januar 2023, GG Art. 100 Rn. 208), sodass in jedem einzelnen nachfolgenden Hauptsacheverfahren Vorlagebeschlüsse an das Bundesverfassungsgericht zu fertigen gewesen wären, welches seinerseits unter der Vielzahl der Richtervorlagen in seiner Funktionsfähigkeit zumindest erheblich eingeschränkt würde.

 

Im Wege des Kaputtsparens der Sozialgerichtsbarkeiten der Länder nötigten die Landeshaushaltsgesetzgeber es daher den jeweiligen Sozialrichtern 2021 und 2022 geradezu ab, auf Biegen und Brechen mit aberwitzigen Begründungen kollektiv vorzuspiegeln, der Bundesgesetzgeber wäre seiner verfassungskräftigen Schutzpflicht nachgekommen, das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie bzw. der Preissteigerungen zu gewährleisten, indem er die zwei Einmalzahlungen für Mai 2021 und Juli 2022 mit einer Gesamthöhe von 250,- € in §§ 70, 73 SGB II schuf, obwohl jedermann ohne Weiteres einleuchtet, dass die ins Blaue hinein geschätzten Einmalzahlungen jeweils viel zu spät kamen, viel zu niedrig waren und es eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung war, dass all diejenigen Leistungsempfänger leer ausgingen, die zufällig nicht auch im Mai 2021 bzw. Juli 2022 im Leistungsbezug standen.

 

Die nach Art. 97 Abs. 1 GG verfassungstheoretische richterliche Unabhängigkeit wird in Deutschland aber nicht nur generell durch die Versäumnisse der jeweiligen Landeshaushaltsgesetzgeber beschränkt. Sie kann bei Bedarf auch zusätzlich im Einzelfall durch die Landesjustizverwaltungen beschränkt werden, weil Richter dienstlich den gerichtszugehörigen Mitgliedern der Landesjustizverwaltungen unterstehen.

 

Eine Steuerung der Berufsrichter ermöglicht das Grundgesetz faktisch, indem es verfassungsrechtlich nur die funktionale richterliche Unabhängigkeit vorgibt, nicht aber auch eine institutionelle Unabhängigkeit oder Selbstverwaltung der Gerichte (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/ Thurn/Will/Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.). Denn die nach Artikel 92 GG mit der Verantwortung für die rechtsprechende Gewalt betraute und nach Artikel 97 GG unabhängige Richterschaft firmiert faktisch als nachgeordneter Bereich der Exekutive (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/ Heiming/Kreowski/Thurn/Will/Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Genauer betrachtet funktionieren in Deutschland die drei Staatsgewalten anders, als in der Schule unter der Überschrift „Gewaltenteilung“ in verkürzter Form gelehrt wird: Die dritte Säule, die Judikative, rangiert nicht gleichberechtigt neben den beiden anderen Staatsgewalten. Geleitet wird die Judikative in den Bundesländern nämlich von einer Organisationseinheit der Exekutive in Gestalt des jeweiligen Justizministeriums (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Der jeweilige Justizminister bestimmt durch die Personalbedarfsplanungen sowie die äußere und innere Organisation für die Richterschaft. Die Justizminister regieren insoweit mithilfe weisungsabhängiger Gerichtsleitungen im Wege der Vorgabe verpflichtender Regelungen, welche für die abhängigen Richter bindend sind (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Das jeweilige Landesjustizministerium gibt deshalb zwar nicht in jedem Einzelfall vor, ob eine bestimmte Klage erfolgreich zu sein hat oder nicht. Aber indem die Exekutive durch Rahmenbedingungen Überlastung schafft und Qualitätsvorgaben setzt, beeinflusst sie letztlich das Ergebnis aller Gerichtsentscheidungen (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Zudem sanktioniert die Exekutive ggfs. die vermeintliche Nichteinhaltung ihrer den Richtern auferlegten Vorgaben. Insbesondere beeinflussen die Justizverwaltungen der Länder die Einhaltung der von ihnen selbst gesetzten Bedingungen vor allem über die Verteilung oder Vorenthaltung von Wohltaten in der richterlichen Personalentwicklung (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Diese exekutive Personalsteuerungsmacht ist ein sehr wirkmächtiger Hebel für die inhaltliche Steuerung der Richter. Denn wer als Richterin oder Richter von der Justizverwaltung etwas zu hoffen oder zu fürchten hat, ist grundsätzlich in gewissem Umfang formbar (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.). Dies gilt insbesondere während einer bis zu fünf Jahre dauernden Probezeit und der währenddessen stattfindenden beruflichen Sozialisation bzw. Internalisierung ungeschriebener Verhaltensprogramme betreffend die richterliche Amtsführung.

 

Die Einbruchstellen dieses exekutiven Einflusses auf die Judikative sind mit dem bekannten Satz von Gerhard Adolf Wilhelm Leonhardt, von 1867 bis 1879 preußischer Justizminister, auf den Punkt gebracht:

 

„Solange ich über die Beförderungen bestimmen kann, bin ich gerne bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“

 

(zitiert nach: Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/ Thurn/Will/Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Diese hierarchischen Strukturen der deutschen Landesgerichtsbarkeiten aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten werden den rechtsstaatlichen Prinzipien in modernen Verfassungsstaaten nicht gerecht. Dabei ist gemeinhin bekannt, dass das deutsche Strukturmodell der Justiz namentlich den Anforderungen der Europäischen Union an eine gewaltengeteilte Justizorganisation nicht genügt (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Jedoch genießt die altertümliche deutsche Justizstruktur bisher eine Art Bestandsschutz, obwohl sie den Durchmarsch eines von einer populistischen Partei geleiteten Ministeriums aufgrund der Personalsteuerungsbefugnisse und des ministeriellen Weisungsrechts bis in die Dienstgerichtsleitungen geradezu begünstigte (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/Winkler/ Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland;, Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Der Bestandsschutz für das deutsche Justizmodell wird deswegen zurecht in Frage gestellt durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof. So bescheinigte der EuGH der Bundesrepublik Deutschland etwa, dass die hiesigen Staatsanwaltschaften keinen europäischen Haftbefehl mehr ausstellen dürfen, da sie keine hinreichende Gewähr für justizielle Unabhängigkeit bieten, weil sie nicht frei von Weisungen der Exekutive entscheiden (vgl. EuGH, 27.05.2019, C-508/18). Die Ausführungen in einem weiteren Urteil des EuGH lassen kaum Raum für die Aufrechterhaltung des in Deutschland althergebrachten Justizstrukturmodels, weil es nicht dem vom EuGH formulierten europäischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit entspricht, welches die Notwendigkeit eines in Deutschland inexistenten Justizrats umfasst (vgl. EuGH, 27.02.2018, 64-16). In diesem Urteil zeichnete der Gerichtshof das Bild einer einheitlichen Justizstruktur und betonte, dass sich Europa nach Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) auch auf ein gemeinsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit gründe (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/ Heiming/Kreowski/Thurn/Will/Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.). Nach Artikel 19 EUV müssten laut EuGH auch die nationalen Gerichte über die Wahrung der gemeinsamen Grundwerte der Union wachen. Hierzu gehöre, das nationale Gerichte dabei unabhängig sind. Gemäß der Definition des Europäischen Gerichtshofs sei von unabhängigen Gerichten nur zu sprechen, wenn die richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausgeübt würden. Dies bedeute neben der Unabsetzbarkeit der Richter und einer der Bedeutung der richterlichen Funktion entsprechenden Besoldung, dass ein unabhängiges Gericht nicht „mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden“ oder ihr ungeordnet sein und keine Anordnung oder Anweisungen von irgendeiner Stelle erhalten dürfe. Das Gericht müsste vielmehr von Interventionen oder Druck von außen geschützt sein, welche die Unabhängigkeit des Urteils seine Mitglieder gefährden und deren Entscheidung beeinflussen könnten (vgl. Addicks in: Armbruster/Bartolucci/Gössner/Heesen/Heiming/Kreowski/Thurn/Will/ Winkler/Zedler, Grundrechte-Report 2020 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland; Frankfurt am Main, S. 187 ff.).

 

Bei alldem handelt es sich gerade nicht allein um ein verfassungstheoretisches Problem des EuGH. Von dessen berufspraktischer Bedeutung ahnt die Öffentlichkeit nur wenig. Dies beruht auf dem Verbot des Whistleblowings für Richter und den institutionellen Kohäsionskräften, die aus anderen vergleichbar streng hierarchisch organisierten Zusammenhängen (Polizei, Armee, Kirche, Mafia) bekannt sind.

 

Die Veranschaulichung dieser berufspraktischen Bedeutung der richterlichen Steuerbarkeit gestaltet sich indes selbst im Wege anekdotischer Evidenz kompliziert. Denn durch eine Schilderung justizintern bekannter Praktiken und Begebenheiten würden ggfs. die Persönlichkeitsrechte der jeweils Handelnden als öffentlich Angeprangerte missachtet. Auch scheidet eine exemplarische Vertiefung des wesentlichen Inhalts der beiden disziplinarrechtlichen Verfügungen der baden-württembergischen Justizverwaltung aus, die im Nachgang zur Rechtsprechung des Kammervorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe zum COVID-19-Mehrbedarf ergangen sind. Die Mitteilung ihres jeweiligen Inhalts ist oben (unter Ziff. I. 2.) absichtlich nur in unwesentlichen Teilen erfolgt. Eine weitere Vertiefung verbietet nämlich § 353d Ziff. 3 StGB. Die Norm sähe hierfür die Verhängung eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vor, solange die beiden Disziplinarverfahren noch nicht in öffentlicher Verhandlung erörtert worden bzw. die Verfahren abgeschlossen sind.

 

Überdies verböte sich ein Rückgriff auf etwaige eigene Erfahrungen des Kammervorsitzenden in der baden-württembergischen Sozialgerichtsbarkeit auch, weil ihm unvermeidlich der Anschein der Selbststilisierung innewohnte. Auf jeglichen Hang zur Selbststilisierung gilt es jedoch nach den ethischen Maßstäben für die Sozialgerichte zu verzichten (Eichenhofer, in: SGb 2023, Rechts- und Richterethik in der Sozialgerichtsbarkeit, 73ff.). Nicht ohne sachlichen Grund beschränken sich die tatsächlichen Feststellungen in dieser Gerichtsentscheidung deshalb auf die nach der freien richterlichen Überzeugung des Vorlagegerichts unmittelbar entscheidungserheblichen bzw. für das umfassende Fallverständnis unerlässlichen Umstände des Einzelfalls S 12 AS 2208/22 einschließlich der Schilderung der wesentlichen Gründe für die im Verwaltungsverfahren sowie nach der Urteilsverkündung jeweils stattgehabten Verzögerungen.  

 

Gleichwohl muss hier aus richterlicher Sorgfaltspflicht dem vorhersehbaren Vorwurf nicht substantiierter Kollegenschelte vorgebeugt werden. Dieser Vorwurf drängte sich geradezu auf, falls es bei bloß abstrakten Ausführungen zur Justizstruktur in Deutschland bliebe, deren berufspraktische Bedeutung justizextern jedoch nicht nachvollziehbar ist.

 

Unter gewissenhafter Abwägung des Für und Wider wird hier deshalb einerseits nicht gänzlich auf die Illustration des lebenspraktischen Ausmaßes der Steuerbarkeit der Richterschaft durch das Justizministerium verzichtet. Anderseits wird die Anprangerung Einzelner vermieden und auf ein Exempel kollektiv fehlender Compliance der gesamten Richterschaft des Vorlagegerichts rekurriert. Dies trägt nebenbei auch dem Umstand Rechnung, dass sich das massenhafte richterindividuelle Fehlverhalten der Sozialgerichtsbarkeit im Umgang mit den existenzsicherungsrechtlichen Mehrbedarfen durch Corona bzw. die Inflation als Gruppenprozess ohnehin nur sozialpsychologisch als Ausdruck von Verantwortungsdiffusion bzw. vor dem Hintergrund der kollektiven Gleichschaltung der gesamten Sozialgerichtsbarkeit begreifen lässt. Grundrechtlich ist dies nicht zu beanstanden, weil die Persönlichkeitsrechte der im Öffentlichen Dienst teilweise in herausgehobenen Personen tätigen Personen zurückstehen müssen, soweit es – wie hier im Rahmen eines Vorlagebeschlusses nach Art. 100 Abs. 1 GG – ein die Persönlichkeitsrechte überragendes öffentliches Interesse an der wahrheitsgemäßen Darstellung dienstlich veranlassten kollektiven Fehlverhaltens gibt.

 

Eingedenk all dessen werden hier zum Zwecke der Illustration der Steuerbarkeit der Sozialgerichtsbarkeit exemplarisch die Geschehnisse rund um die illegale Corona-Party des Sozialgerichts Karlsruhe am 29.09.2020 dargestellt. Hieran lässt sich nämlich demonstrierten, dass Loyalität und Linientreue der hiesigen Berufsrichter gegenüber offen rechtswidriger Wünsche gerichtszugehöriger Mitglieder der Landesjustizverwaltung kollektiv als vorrangig angesehen werden, weshalb im Zweifel verfassungstheoretische richterliche Bindungen an Recht und Gesetz berufspraktisch zurückstehen müssen.  

 

Zu einer Feierlichkeit in Präsenz am 29.09.2020 hatte ein (abstrakt weisungsgebundenes) gerichtszugehöriges Mitglied der Justizverwaltung mittels zweier E-Mails vom 22.07.2020 bzw. 01.09.2020 einberufen trotz des damaligen exponentiellen Anstiegs der Corona-Neuinfektionen: Hierbei lud dasselbe Gerichts- und Justizverwaltungsmitglied alle aktuellen und einige ehemalige Gerichtsbediensteten sowie Gäste für den 29.09.2020 in das Dienstgebäude des Sozialgerichts Karlsruhe ein, um bei großzügiger Verköstigung einen gegebenen Anlass zu feiern.

 

Nicht einhalten wollte das einladende gerichtszugehörige Mitglied der Justizverwaltung indessen der Partylaune abträgliche Hygienevorschriften der Corona-Verordnung des Landes Baden-Württemberg vom 23. Juni 2020 (GBl. S. 483) in der Fassung ihrer Änderungsverordnungen vom 28.07.2020 und 22.09.2020. Die diesbezügliche Notwendigkeit hätte sich ihm aufdrängen müssen. Denn auch an ihn war eine E-Mail eines anderen gerichtszugehörigen Mitglieds der Justizverwaltung vom Folgetag (02.09.2020) gerichtet gewesen. Mit Letzterer war nämlich der für den 25.09.2020 ohne Justizprominenz geplante Betriebsausflug des Sozialgerichts Karlsruhe abgesagt worden. Diese Absage vom 02.09.2020 war damit begründet worden, dass der Betriebsausflug in Gestalt einer Wanderung unter freiem Himmel wegen der coronabedingt verschärften Hygieneschutzvorschriften nicht durchgeführt werden dürfe. Dies sei trotz seiner pandemiebedingt bereits vorab abgewandelten Form der Fall.

 

Obwohl diese Absage des Betriebsausflugs an alle gerichtszugehörigen Bediensteten des richterlichen und nicht richterlichen Dienstes des Sozialgerichts Karlsruhe versandt worden war, sah sich das andere (abstrakt weisungsgebundene) gerichtszugehörige Mitglied der Justizverwaltung nicht von selbst veranlasst, die von ihm für den 29.09.2020 geplante Corona-Party abzusagen, obwohl sie in geschlossenen Räumen noch vier Tage nach dem bereits abgesagten Betriebsausflug stattfinden sollte, während die Zahlen für Neuinfektionen mit COVID-19 bundesweit Tag für Tag rasant anstiegen.

 

Anlässlich dieser fehlenden Compliance des (abstrakt weisungsgebundenen) gerichtszugehörigen Mitglied der Justizverwaltung erläuterte ihm ein Berufsrichter des Sozialgerichts Karlsruhe per E-Mail vom 03.09.2020 wie folgt die bußgeldbewährte Rechtswidrigkeit der einberufenen Corona-Party. Zugleich wies er ihn auf die potentiell fatale Außenwirkung des eklatanten Rechtsbruchs hin, welche aufgrund der Absage des Betriebsausflugs vom Vortag ohnehin jedem Gerichtszugehörigen bereits positiv bekannt war:

 

„Sehr XXXXXX  XXXXXX XXXXXX,,

 

anlässlich XXXXXX XXXXXX haben Sie vorgestern unter Hinweis auf Ihr Amt und Ihre Dienststelle über die beiden E-Mail-Verteiler unserer Dienststelle einige vormals und alle aktuell hier richterlich oder nichtrichterlich Bediensteten eingeladen, um am 29.09.2020 während der Dienstzeit ggfs. im engen Obergeschoss unseres Dienstgebäudes eine dienstliche Veranstaltung abzuhalten (siehe unten).

 

Aufmerksame Kollegen haben mich dankenswerter Weise darauf hingewiesen, dass eine zeitgleich terminierte Sitzung der XXXXXX. Kammer eine würdevollere XXXXXX im Erdgeschoss verhindert. Es heißt, ich möge die Ladungen rückgängig machen, auch wenn sie am 07.07.2021 und damit lange vor Ihrer Terminankündigung versandt wurden. Dies sei trotz der überlangen Verfahrensdauer der geladenen Altfälle und ihrer Corona-bedingten vormaligen Terminaufhebung ratsam.

 

Ich respektiere und unterstütze den sympathischen Wunsch von Ihnen und vielen Kollegen, XXXXXX XXXXXX XXXXXX XXXXXX XXXXXX XXXXXX unter Weggefährten feierlich zu begehen.

 

Gleichwohl hege ich Zweifel, ob XXXXXX XXXXXX aus rechtlichen Gründen nicht einen privaten Rahmen finden muss. Die Corona-Verordnung BW (CoronaVO) stellt recht hohe Anforderungen. Die für Veranstaltungen Anfang August 2020 in Kraft getretenen Lockerungen (kein Hygienekonzept bei Veranstaltungen bis 100 Personen) gelten nur für private Veranstaltungen. Für Ihre dienstliche XXXXXX wäre hingegen das komplette Programm erforderlich. Nötig wären neben der Erstellung eines Hygienekonzepts (vgl. § 5 CoronaVO), die Durchführung einer Datenerhebung und Speicherung nach Maßgabe des § 6 CoronaVO und die Einhaltung der besonderen Arbeitsschutzanforderungen nach § 8 CoronaVO. 

 

Vor allem aber wären die Hygieneanforderungen nach § 4 CoronaVO einzuhalten. Mit der absehbaren Teilnehmerzahl (bis zu ca. 70 Personen) dürfte sich eine dienstliche Veranstaltung aber nicht im kleinen Innenhof durchführen lassen. Erst recht könnte sie nicht in geschlossenen Räumen innerhalb des Gerichtsgebäudes stattfinden. Die Durchführung verstieße gegen geltendes Recht und gefährdete Leib und Leben der XXXXXX XXXXXX Bediensteten. Schlimmstenfalls müssten alle Bediensteten zeitweise in Quarantäne und das Sozialgericht Karlsruhe wäre zu schließen. Die Außenwirkung wäre, dass wir am Gericht aufs Recht pfeifen, wenn’s uns ums Feiern geht.

 

Aus eben diesen Gründen hat XXXXXX XXXXXX XXXXXX XXXXXX Karlsruhe gestern den Betriebsausflug am 25.09.2020 abgesagt. Da Sie hingegen eine Verlegung Ihrer XXXXXX wohl nicht in Betracht ziehen, halte ich es für geboten, meinerseits die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung am 29.09.2020 im Rahmen meiner Möglichkeiten zu mindern. Auch aus Rücksicht auf die Verfahrensbeteiligten und Ehrenamtlichen Richter habe ich deshalb eben die Verlegung der Sitzung der XXXXXX. Kammer auf den 25.11.2020 veranlasst.

 

Nachdem die gesamte Gerichtsverwaltung die Vorgänge besser kennt als ich, sehe ich es aber nicht als meine Aufgabe an, das Gesundheitsamt von Ihren Plänen in Kenntnis zu setzen. Ich werde das unterlassen, da ich nur mit Aufgaben der Rechtsprechung und nicht mit solchen der Justizverwaltung betraut bin.

 

Aus Kollegialität möchte ich Sie aber abschließend darauf hinweisen, dass nach § 73 Abs. 2 IfSG i.V.m. § 19 CoronaVO die Verhängung eines Bußgeldes in Höhe von bis zu 25.000,- € droht.“

 

Am 29.09.2020 – d.h. dem Tag der illegalen Corona-Party am Sozialgericht Karlsruhe – verbreiteten Presse, Rundfunk und sonstige (Internet-) Medien die vehemente Warnung der Bundeskanzlerin vor dem exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen. Die BILD-Zeitung machte eben diese Warnung noch am Morgen der illegalen Corona-Party des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29.09.2020 zum Gegenstand der Haupt-Schlagzeile auf ihrer Titelseite. Die BILD-Zeitung widmete derselben Warnung auch eine sehr umfangreiche Bildberichterstattung auf ihrer Seite 2. Zudem mahnte die BILD-Zeitung mit einem „Gast-Kommentar“ unter der Schlagzeile „Totales Behördenversagen“ an: „Wenn jetzt die Infektionszahlen steigen, dann ist das die Folge von Behördenuntätigkeit“. Ferner titelte sie unter der Rubrik „Post von Wagner“: „Der Tod feiert mit“ und kommentierte eklatante Rechtsbrüche gegen Hygieneschutzvorschriften der Corona-Verordnungen reißerisch. Auf ihrer 3. Seite berichtete die BILD-Zeitung unter den beiden Schlagzeilen „Politiker fordern – Endlich härter durchgreifen gegen Party-Egoisten“ sowie „Corona-Alarm nach Geburtstagsfeier!“ fast ganzseitig über derartige Rechtsverstöße. Hierbei druckte die BILD-Zeitung drei sehr große Farbfotos ab mit folgenden drei Bildunterschriften:

 

  • Nach einer Geburtstagsfeier in Bielefeld mussten 950 Menschen in Quarantäne“;
  •  „Jugendliche feierten am Wochenende in einer Berliner U-Bahn zu lauter Musik, tanzten dicht an dicht, größtenteils ohne Maske“;
  • SPD-Mitglieder im Kölner „Stapelhaus“ bei einer Party zur Oberbürgermeisterwahl am Sonntag“.

 

Ein Berufsrichter am Sozialgericht Karlsruhe erwarb zur Bekräftigung seiner vorherigen Warnung vor der potentiell fatalen Außenwirkung des eklatanten Rechtsbruchs in Gestalt einer gerichtlichen Corona-Party per E-Mail vom 03.09.2020 noch am 29.09.2020 eigens hierfür ein Exemplar der BILD-Zeitung. Er brachte es mit eben dieser Berichterstattung gut sichtbar an der Außenseite der Tür seines Büros im Sozialgericht Karlsruhe in räumlichen Nähe zum Partybereich an. Von einer unbekannten Person wurde das Exemplar im Flur des Erdgeschosses sodann ohne sowie gegen den Willen des Eigentümers bzw. Berufsrichters für die Dauer der Party entfernt und erst später zerknüllt vor dessen Bürotür abgelegt.

 

Im selben Erdgeschoss des Sozialgerichts Karlsruhe sind am 29.09.2020 von der illegalen Corona-Party diverse Fotografien entstanden. Auf diesen ist beispielsweise zu sehen, wie dutzende Personen in dessen Innenräumen feiern. Zum Beispiel stehen augenscheinlich um einen einzigen kleinen Stehtisch elf Personen ohne irgendeine Mund-Nasen-Bedeckung dicht gedrängt plaudernd im Kreis mit Sektgläsern, Schulter an Schulter, ohne die Abstandsregeln nach der geltenden CoronaVO BW zu beachten.

 

Auf eben dieser illegalen Corona-Party am 29.09.2020 hielt ein (abstrakt weisungsgebundenes) dem Landessozialgericht Baden-Württemberg zugehöriges Mitglied der Justizverwaltung eine Lobrede auf ein anderes anwesendes Mitglied der Landesjustizverwaltung, mit dessen wohlwollenden Beurteilungen einige der übrigen Anwesenden zuvor Stellen auf Lebenszeit an drei unterschiedliche Bundesgerichten erlangt hatten. Zur illegalen Corona-Party war auch eine Richterin mit einer Planstelle am Sozialgericht Karlsruhe angereist, die sich aktuell zur Abordnung beim Justizministerium in Stuttgart befand und inzwischen auch an ein Bundesobergericht abgeordnet ist. Mitfeiern durfte ferner eine im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration des Bundeslandes tätige Person sowie eine ­damals an ein weiteres Bundesgericht abgeordnete Richterin mit einer Lebenszeiternennung am Sozialgericht Karlsruhe. Außerdem war ein regelmäßiger Sitzungsvertreter des Sozialverbandes VDK anwesend.

 

Es ist nicht bekannt, dass sich irgendwer wegen der Corona-Party am Sozialgericht Karlsruhe vom 29.09.2020 verantworten musste. Unter Steuerungsgesichtspunkten bestärkte sie die teilnehmenden Berufsrichter, sonstige Gerichtsangehörige und Gäste im Glauben an den faktischen Vorrang von Linientreue und Loyalität gegenüber Recht und Gesetz. Gerichtszugehörige Mitglieder der Landesjustizverwaltung hatten nämlich unmissverständlich durchgesetzt, dass die Infektionsschutzbestimmungen der CoronaVO des Landes Baden-Württemberg am 29.09.2020 absichtlich nicht anzuwenden seien, damit sich die Richterschaft bei Sekt und Häppchen mit der anwesenden Justizprominenz im Rechtsbruch verbrüdern und feiern konnte.

 

Von einer derart zum kollektiven Rechtsbruch von Seiten der Landesjustizverwaltung Baden-Württemberg angestifteten Richterschaft am Sozialgericht Karlsruhe war anlässlich der veränderten Lebensbedingungen unter Corona kein beherztes Eintreten für Recht und Gesetz zu erwarten. Demgemäß leugneten die hier für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Berufsrichter den evidenten COVID-19-Mehrbedarf so wie ihre Kollegen es bundesweit taten. Anstatt die Mühen von Vorlagebeschlüssen und unzählbaren Folgeentscheidungen zur individuellen Bemessung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf sich zu nehmen, beließen sie es im Zusammenhang mit Pandemie und Inflation auf Geheiß des Vizepräsidenten am Bundessozialgericht a.D. Voelzke bei einer „situationsangepassten Anwendung des vorhandenen Instrumentariums“. Dies entsprach dem individualrichterlichen Interesse an der Vorbeugung eines kaum mehr zu bewältigenden individuellen richterlichen Geschäftsanfalls. Diese Praxis korrespondierte zudem mit dem jedem Berufsrichter aufgrund des sog. „Erledigungsdrucks“ bewusstseinsdominanten haushaltspolitischen Interesses des Justizministeriums an der Optimierung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses zwischen Justizpersonalkosten und Justizgewährleistung (auf einem im Existenzsicherungsrecht unter Pandemiebedingungen nach Maßgabe der jeweiligen Haushaltsgesetzgeber der Länder praktisch nicht mehr rechtsstaatlichem Niveau).

 

Demgemäß unterließen es die Richter der Landessozialgerichtsbarkeiten bundesweit vor allem wegen ihrer richterlichen Abhängigkeit von Haushaltsgesetzgebern und Justizverwaltungen, den voraussichtlich verfassungswidrigen § 70 Satz 1 SGB II nach Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Nichtigerklärung vorzulegen.

 

Dies ist nunmehr unter Ziff. 4. des Entscheidungstenors dieser Entscheidung im Verfahren S 12 AS 2208/22 nachgeholt worden.

 

7.

 

Der aus Ziff. 5. des Entscheidungstenors ersichtliche Vorlagebeschluss betreffend § 73 SGB II n.F. folgt ebenfalls aus Art. 100 Abs. 1 Alt. 1 GG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.

 

Er beruht im Wesentlichen auf Erwägungen, welche bereits (oben unter Ziff. II. 6.) für die Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II erschöpfend dargestellt worden sind. Diese Darstellungen gelten für die Nachfolgeregelung in § 73 SGB II n.F. sinngemäß. Insbesondere sind beide Regelungen im Wesentlichen identisch.

 

§ 73 SGB II n.F. bestimmt, dass Leistungsberechtigte, die für den Monat Juli 2022 Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben und deren Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet, für diesen Monat zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 200,- € erhalten.

 

Auch diese Rechtsvorschrift stellt einen tauglichen Gegenstand eines Vorlagebeschlusses dar. Bei ihr handelt es sich um ein formelles, nachkonstitutionelles Bundesgesetz. Eine Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von § 73 SGB II n.F. liegt bislang ebenfalls nicht vor.

 

Auch von der Gültigkeit des § 73 SGB II n.F. ist die Entscheidung des Vorlagegerichts im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 abhängig. Inwieweit die – jedenfalls zulässige (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) a)) – Klage Erfolg hat, entscheidet sich auch danach, ob § 73 SGB II n.F. für nichtig erklärt wird oder anzuwenden ist. Das Vorlagegericht würde der Klage nämlich in unterschiedlichem Umfang stattgeben, je nach dem, ob das Bundesverfassungsgericht § 73 SGB II als verfassungskonform oder verfassungswidrig erachtet.

 

Im hypothetischen Fall der Verfassungskonformität und Rechtsgültigkeit von § 73 SGB II wäre sie teilweise als unbegründet abzuweisen. Auch soweit die Klage S 12 AS 2208/22 teilweise als unbegründet abzuweisen wäre, würde das Sozialgericht Karlsruhe der Klage hingegen stattgeben in dem hypothetisch umgekehrten Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit von § 73 SGB II n.F.

 

Im Einzelnen:

 

Im hypothetischen Falle der Gültigkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit von § 73 SGB II würde das Sozialgericht die Klage S 12 AS 2208/22 insoweit als unbegründet abweisen, als die Klägerin mit ihr im Rahmen des unter Ziff. 2. angekündigten Klageantrags eine kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage betreibt (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)). Ggfs. könnte die Klägerin nämlich weder die Aufhebung des Überprüfungsbescheids des Beklagten vom 11.05.202 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 08.09.2022 beanspruchen noch die Verpflichtung des Beklagten zur teilweisen Rücknahme ihres Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 noch dessen Verurteilung zur Gewährung weitere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfes für Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie für den späteren (hier: 01.11.2021 bis 30.04.2022) der beiden streitbefangenen Bewilligungszeiträume (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)).

 

Auch insofern stünde der nach wie vor einkommens- und vermögenslosen Klägerin zwar Alg 2 zu, da sie die Anspruchsvoraussetzungen aus §§ 7 ff. SGB II weiterhin erfüllte und insbesondere weiterhin hilfebedürftig im Sinne des SGB II war (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)). Allerdings könnte die Klägerin vom Beklagten kein höheres Alg 2 beanspruchen, als der Beklagte ihr aufgrund der insofern angefochtenen Bescheide bereits außergerichtlich für November 2021 bis April 2022 gewährte hätte, weil er auch insofern außergerichtlich bereits die Regelbedarfsleistungen nach § 20 SGB II in der größtmöglichen Bewilligungshöhe (bzw. nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1 für alleinstehende Volljährige) geleistet und zusätzlich auch die nach der Kopfteilmethode auf die Klägerin entfallende  Hälfte aller tatsächlich entstandenen Kosten für Unterkunft und Heizung im Sinne des § 22 SGB II als anspruchsbegründend angesehen hatte, sodass insofern jeweils keine subjektive Rechtsverletzung der Klägerin vorläge (vgl. oben unter Ziff. II. 6. B) b)).

 

Im hypothetischen Falle der Verfassungskonformität von § 73 SGB II träfe dies gleichermaßen auf die außergerichtlich für November 2021 bis April 2022 abgelehnte Anerkennung eines mtl. berücksichtigungsfähigen COVID-19-Mehrbedarfs zu (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)). Wegen dieses späteren Bewilligungszeitraums bestünde nämlich kein Raum, die vom Gesetzgeber gezielt nur für Juli 2022 aus Anlass der COVID-19-Pandemie geschaffene Sonderanspruchsgrundlage aus § 73 SGB II n.F. zu unterlaufen (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)). Die Anerkennung diesbezüglicher Mehraufwendungen wäre in Gestalt des dem Bundesverfassungsgericht vorgelegten § 73 SGB II abschließend geregelt (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)). Dies dürfte nicht im Wege der Heranziehung der „Härtefallklausel“ konterkariert werden (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)).

 

§ 21 Abs. 6 SGB II würde insofern für November 2021 bis April 2022 nicht eingreifen, da die Norm generell nachrangig wäre und nur für gesetzgeberisch unbenannte sowie unabweisbare Bedarfe „im Einzelfall“ gelten würde, soweit diese aufgrund individueller bzw. atypischer Gegebenheiten vom durchschnittlichen COVID-19-Bedarf abwichen. Die seitens der Klägerin im Verfahren S 12 AS 2208/22 geltend gemachten generell angefallenen pandemie(-inflations-)bedingten Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie einer durchschnittlichen Arbeitsuchenden wären indes von § 21 Abs. 6 SGB II nicht erfasst im hypothetischen Falle der Anwendbarkeit der diesbezüglichen Sonderregelung in § 73 SGB II  (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) b)).

 

Im hypothetisch umgekehrten Fall der Verfassungswidrigkeit bzw. Nichtigkeit von § 73 SGB II würde das Sozialgericht der Klage S 12 AS 2208/22 hingegen insoweit als begründet stattgeben, als die Klägerin sie im Rahmen des unter Ziff. 2. angekündigten Klageantrags als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage betreibt (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)). Ggfs. könnte die Klägerin nämlich die Aufhebung des Überprüfungsbescheids des Beklagten vom 11.05.202 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 08.09.2022 ebenso beanspruchen wie die Verpflichtung des Beklagten zur teilweisen Rücknahme ihres Ausgangsbescheides vom 10.01.2022 und dessen Verurteilung zur Gewährung weiterer Leistungen unter Berücksichtigung eines generellen Mehrbedarfes für Aufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie für die Zeit vom 01.11.2021 bis 30.04.2022 (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)).

 

Im Falle der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeitserklärung von § 73 SGB II wäre die insofern außergerichtlich abgelehnte Anerkennung eines mtl. berücksichtigungsfähigen generellen COVID-19-Mehrbedarfs nämlich rechtswidrig (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)). In Ermangelung einer vom Gesetzgeber gezielt aus Anlass der COVID-19-Pandemie für die Zeit nach dem Auslaufen der Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II zum 30.06.2021 geschaffenen gesetzlichen Sonderregelung bestünde nämlich Raum, diesbezüglich generell entstandene Mehraufwendungen im Wege der Heranziehung der „Härtefallklausel“ bei der Berechnung der Höhe des Alg 2 leistungserhöhend zu berücksichtigen (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)).

 

§ 21 Abs. 6 SGB II würde insofern für November 2021 bis April 2022 eingreifen. Namentlich wäre dem Tatbestandsmerkmal „im Einzelfall“ Genüge getan. Die COVID-19-Pandemie und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wären ebenso als historischer „Einzelfall“ anzusehen wie die aus ihrem Zusammenwirken entstandene pandemie- bzw. kriegs(-inflations-)bedingte Inflation mit den größten Preissteigerungen seit über 50 Jahren (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)). Die hieraus in 2021 und 2022 entstandenen und sich auftürmenden pandemie- bzw. kriegs(‑inflations-)bedingten Mehrbedarfe wären auch als „unabweislich“ im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II anzusehen (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. B) c)). Sie wären weder durch Zuwendungen Dritter noch unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten gedeckt und wichen aufgrund ihrer kumulierten Höhe von den gesetzlichen Regelbedarfen massiv ab. Denn bei der für die Regelbedarfsermittlung maßgeblichen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 waren naturgemäß die erst ab 2021 bzw. 2022 entstandenen pandemie- und kriegs(-inflations-)bedingten Mehrbedarfe außer Acht gelassen worden.

 

Ein verfassungswidriges Ergebnis kann im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 auch nicht durch die Heranziehung der jeweils anderen der beiden gleichzeitig vorgelegten Vorschriften vermieden werden (oben unter Ziff. II. 6. B) c) a.E.).

 

Den im Rechtsstreit S 12 AS 2208/22 entscheidungserheblichen § 73 SGB II hält das Vorlagegericht ebenfalls für verfassungswidrig. Auch dies beruht auf Erwägungen, welche bereits (oben unter Ziff. II. 6. C)) für die Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II erschöpfend dargestellt worden sind und für die Nachfolgeregelung in § 73 SGB II n.F. sinngemäß gelten.

 

Auch § 73 SGB II verstößt zur vollen richterlichen Überzeugung des Vorlagegerichts gegen das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und verletzt zudem den Allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

 

Dies folgt aus nachfolgenden Gründen, von denen jeder bereits für sich alleine ausreichte, das Gesetz nach §§ 82 Abs. 1, 78 Satz 1 BVerfGG für nichtig zu erklären:

 

Zunächst hat der Gesetzgeber auch bei der Schaffung von § 73 SGB II n.F. die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. C) a)). Namentlich beschränkten sich die diesbezüglichen Erwägungen auf Seite 14 des diesbezüglichen Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages für Kinder und einer Einmalzahlung an erwachsene Leistungsberechtigte der sozialen Mindestsicherungssysteme aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz) der Bundesregierung vom 17.03.2022 (Bundesrats Drucksache 125/22) auf folgende Ausführungen:

 

„Die Regelung schafft einen Anspruch auf eine weitere, die Regelbedarfe ergänzende einmalige pauschale Zusatzleistung zum Regelbedarf als Ausgleich der mit der COVID-19- Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen. Diese entstehen beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation. Leistungsberechtigte sollen diese finanziellen Belastungen nicht allein tragen und werden daher durch eine die Regelbedarfe ergänzende Einmalzahlung unterstützt. Die Einmalzahlung soll genauso wie die im Jahr 2021 geleistete Einmalzahlung (§ 70 SGB II) im Rahmen des Sozialschutzpakets III so wenig verwaltungsaufwändig wie möglich erbracht werden. Sie ist deshalb an einen bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld im Monat Juli gebunden und wird in der Folge von Amts wegen erbracht. Sie wird nur an Leistungsberechtigte erbracht, deren Regelbedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet. Das berücksichtigt, dass Leistungsberechtigte mit Regelbedarfsstufe 3 den Sofortzuschlag erhalten. Der Nachweis konkreter Mehraufwendungen im Einzelfall ist nicht erforderlich. Die Einmalzahlung ist insbesondere nicht in die Bedarfsberechnung und auch nicht in die Berechnung nach § 9 Absatz 2 Satz 3 SGB II einzubeziehen.“

 

Im weiteren Gesetzesentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Regelung eines Sofortzuschlages für Kinder und einer Einmalzahlung an erwachsene Leistungsberechtigte der sozialen Mindestsicherungssysteme aus Anlass der COVID-19-Pandemie (Sofortzuschlags- und Einmalzahlungsgesetz) vom 13.04.2022 (Bundestags Drucksache 20/1411) hieß es insofern auf dessen Seite 13 zur Begründung lediglich:

 

„2. Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie

 

Die Einmalzahlung ist mit keiner speziellen Verwendungsvorgabe verbunden. Berechtigt sind alle erwachsenen Personen, die im festgelegten Auszahlungsmonat einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben, leistungsberechtigt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII oder nach dem AsylbLG sind oder Ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt als fürsorgerische Leistung der Sozialen Entschädigung nach dem BVG beziehen. Ein besonderer Antrag ist nicht erforderlich; die Einmalzahlung in der Gestalt eines die Regelbedarfe ergänzenden Betrags gilt als vom Haupt- beziehungsweise Weiterbewilligungsantrag umfasst beziehungsweise wird von Amts wegen erbracht. Eine Berücksichtigung der jeweiligen Bedarfe in Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften nach den Maßstäben des § 9 Absatz 2 Satz 3 SGB II erfolgt nicht.“

 

Auch S. 17. desselben Gesetzentwurfs vom 13.04.2022 enthielt keine Begründung für den frei gewählten Betrag von 200,- €, sondern nur nachfolgende Ausführungen:

 

㤠73 (Einmalzahlung)

 

Die Regelung schafft einen Anspruch auf eine weitere, die Regelbedarfe ergänzende einmalige pauschale Zusatzleistung zum Regelbedarf als Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen. Diese entstehen beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation. Leistungsberechtigte sollen diese finanziellen Belastungen nicht allein tragen und werden daher durch eine die Regelbedarfe ergänzende Einmalzahlung unterstützt. Die Einmalzahlung soll genauso wie die im Jahr 2021 geleistete Einmalzahlung (§ 70 SGB II) im Rahmen des Sozialschutzpakets III so wenig verwaltungsaufwändig wie möglich erbracht werden. Sie ist deshalb an einen bestehenden Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld im Monat Juli gebunden und wird in der Folge von Amts wegen erbracht. Sie wird nur an Leistungsberechtigte erbracht, deren Regelbedarf sich nach Regelbedarfsstufe 1 oder 2 richtet. Das berücksichtigt, dass Leistungsberechtigte mit Regelbedarfsstufe 3 den Sofortzuschlag erhalten. Der Nachweis konkreter Mehraufwendungen im Einzelfall ist nicht erforderlich. Die Einmalzahlung ist insbesondere nicht in die Bedarfsberechnung und auch nicht in die Berechnung nach § 9 Absatz 2 Satz 3 SGB II einzubeziehen.“

 

Dass die Höhe der in § 73 SGB II n.F. vorgesehenen Einmalzahlung von 200,- € nicht in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt worden war, ist dem Gesetzgeber aufgrund der klaren Hinweise der Oppositionsparteien im Bundestag indessen bewusst gewesen. Dies ergibt sich aus der auf den 11.05.2022 datierten Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu eben diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 13.04.2022 (– Drucksache 20/1411 –). Auf den diesbezüglichen Ausführungen auf Seite 22 und 25 bis 26 der Bundestags-Drucksache 20/1768 heißt es:

 

„Im Zusammenhang mit der Fortdauer der COVID-19-Pandemie ergäben sich weiterhin zusätzliche finanzielle Belastungen. Diese entstünden beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation. Leistungsberechtigte sollten diese finanziellen Belastungen nicht allein tragen und würden daher durch eine die Regelbedarfe ergänzende Einmalzahlung unterstützt.“

 

„Die Fraktion der SPD erklärte, man sei sehr froh, dass die geplante Entlastung für bedürftige Menschen und insbesondere für Kinder im Rahmen des Gesetzes jetzt schnell möglich sei. Angesichts von Inflation und steigen den Preisen sei diese Unterstützung der Koalition ein wichtiges Anliegen. Es sei nicht nachvollziehbar, sollte eine Fraktion im Deutschen Bundestag diesen Hilfen ihre Zustimmung verweigern. Die Koalition habe den Einmalzuschuss zum Ausgleich der gestiegenen Energiepreise mit den Änderungsanträgen noch einmal von 100 Euro auf 200 Euro aufgestockt. Dieser werde an Bürger und Bürgerinnen gezahlt, die Leistungen u. a. nach dem SGB II, XII oder dem Asylbewerberleistungsgesetz erhielten. Zusätzlich sei nun eine Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro für die Beziehenden von Arbeitslosengeld I vorgesehen.

(…)

die CDU/CSU-Fraktion habe erhebliche Kritik an dem Gesetzentwurf. Dort sei ein „Flickenteppich“ von Regelungen entstanden. Der Betrag von 20 Euro Kindersofortzuschlag sei nicht konkret hergeleitet und begründet worden. Der Betrag decke zudem den Inflationsverlust nicht.

(…)

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begrüßte es, dass weitere Leistungsverbesserungen für besonders bedürftige Menschen mit den Änderungsanträgen schnell ermöglicht werden könnten.

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Die Fraktion der FDP begrüßte den Rechtskreiswechsel für Geflüchtete aus der Ukraine. (…) Die vorgesehene Kindergelderhöhung um 20 Euro solle – anders als zunächst geplant – auch zur Bewältigung der Preissteigerung dienen, die man bei Abschluss des Koalitionsvertrages nicht habe vorhersehen können. Familien könnten also sowohl von der Einmalzahlung als auch von der Brücke zur Kindergrundsicherung profitieren. Sie seien aber auch durch die steigenden Kosten besonders stark belastet. Trotzdem sollten die Kindergrundsicherung und Verbesserungen beim Bildungsteilhabepaket nun schnellstmöglich kommen.

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Die Fraktion der AfD stimmte den Hilfszahlungen für Arme in einer schwierigen Situation ebenfalls grundsätzlich zu. Das gelte auch für die Erhöhung der Einmalzahlung auf 200 Euro. Allerdings fehle eine nachvollziehbare Herleitung des Betrages. Erkennbar sei allerdings, dass dieser wohl nicht ausreiche.

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Die Fraktion DIE LINKE. kritisierte die vorgesehenen Zahlungen als zu gering und systematisch ungeeignet. Die Wohlfahrtsverbände hätten schon im Jahr 2020 einen Betrag von 78 Euro als notwendigen Kindersofortzuschlag gefordert. Mit Blick auf den Kaufkraftverlust durch die aktuelle Inflation halte DIE LINKE. daher jetzt 100 Euro statt der von der Bundesregierung geplanten 20 Euro für erforderlich. Darüber hinaus reiche die Einmalzahlung für Leistungsempfänger und -empfängerinnen nach SGB II und XII auch bei dem jetzt vorgesehenen Betrag von 200 Euro nicht aus, um Inflation und Preissteigerungen auszugleichen. Diese Probleme könnten nicht durch eine Einmalzahlung behoben werden. Vielmehr müssten die Regelbedarfe im SGB II richtig berechnet und systematisch angepasst werden. Allein bei korrekter Anwendung des geltenden Statistikmodells ergebe sich ein deutlich höherer Betrag. Ferner müsse die regelsatzrelevante Inflation ausgeglichen werden.

 

Gemessen hieran hat der Gesetzgeber wie schon bei der Schaffung der Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II wiederholend davon abgesehen, die in § 73 SGB II n.F. vorgesehene Höhe der Einmalzahlung in den Gesetzesmaterialien hinreichend zu begründen, obwohl ihm die diesbezüglichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. C) a)) hinlänglich bewusst waren. Nach den Gesetzesmaterialien diente die Verdopplung der ursprünglich geplanten Höhe der Einmalzahlung auch dem Ausgleich der Inflation – insbesondere der gestiegenen Energiepreise – die jedoch nicht auf die Pandemie zurückzuführen waren, sondern Folge des Ukrainekrieges waren. Im Ergebnis stellt der aufgrund § 73 SGB II gewährte Betrag – wie es bereits bei der Einführung des § 70 SGB II der Fall war – eine rein politische Entscheidung dar, die nicht auf verfassungskräftig gebotene statistisch relevante Erhebungen zurückgeht (Wunder in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 73 1. Überarbeitung (Stand: 17.02.2023), Rn. 12; BeckOK SozR/Harich, 69. Ed. 1.6.2023, SGB II § 73 Rn. 2; Söhl, Verfassungsmäßigkeit des Regelbedarfs angesichts gestiegener Inflation, in: NZS 2023, 72, beck-online; Formann, Verfassungsmäßigkeit des Regelbedarfs 2021 und 2022, in: NZS 2023, 71, beck-online)). Also hat der Gesetzgeber auch bei der Schaffung von § 73 SGB II n.F. die Höhe der anlässlich der COVID-19-Pandemie existenznotwendigen Aufwendungen hilfebedürftiger Menschen nicht folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht ermittelt. Indes verstößt § 73 SGB II n.F. nicht nur deswegen zur vollen richterlichen Überzeugung des Vorlagegerichts gegen das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und den Allgemeinen Gleichheitssatz.

 

Diese Grundrechtsverletzung beruht überdies darauf, dass auch im Ergebnis die festgesetzte Höhe der Einmalzahlung mit nur 200,- € zu niedrig bemessen war (vgl. dazu oben unter: Ziff. II. 6. C) b)). Die Einmalzahlung genügte nicht, um sämtliche mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen auszugleichen, die binnen achtzehn Monaten angefallen sind.

 

18 Monate umfasst der Abgeltungszeitraum der Norm nach dem historischen Willen des Gesetzgebers, weil § 73 SGB II dazu bestimmt ist, den COVID-19-Bedarf abzudecken zwischen dem Auslaufen der Vorgängerregelung in § 70 Satz 1 SGB II zum 30.06.2021 und dem Inkrafttreten des sog. „Bürgergeldes“ zum 01.01.2023.

 

Dass dieser Abgeltungszeitraum der im Juli 2022 fälligen Einmalzahlung mit dem Auslaufen der Vorgängerregelung (§ 70 SGB II) zum 30.06.2021 beginnen sollte, ergibt sich aus den oben zitierten Materialien des Gesetzgebungsverfahren. Danach wurde § 73 SGB II gezielt als Anschlussregelung zu § 70 SGB II nach deren Vorbild gestaltet. Die Vorgängerregelung in § 70 SGB II hatte indes als Abgeltungszeitraum ausdrücklich den „1. Januar 2021 bis zum 30. Juni 2021“ genannt. Nach dem hieraus ersichtlichen Willen des Gesetzgebers sollte § 73 SGB II damit sämtliche von der Regelbedarfsermittlung nicht zeitnah erfassten Mehraufwendungen aus Anlass der COVID-19-Pandemie abdecken, welche nachträglich zur ersten Einmalzahlung entstanden.

 

Ende des Abgeltungszeitraums von § 73 SGB II n.F. sollte nach dem historischen Willen des Gesetzgebers ersichtlich der 30.12.2022 sein. Dies folgt aus dem Willen der neuen Bundesregierung bzw. der sie stützenden Fraktionen im Bundestag, bis zum 01.01.2023 die Notwendigkeit wiederkehrender Einmalzahlungen systematisch zu beseitigen durch die Nachholung der seit 2014 (von der Vorgänger-Bundesregierung und ihrer Bundestagsmehrheit) ignorierten bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben zur Erforderlichkeit zeitnaher Anpassungen an wesentliche Änderungen bei Einkommen und Verbrauch. In Rahmen des geplanten „Bürgergeldes“ sollte nämlich ab 01.01.2023 eine ergänzende Fortschreibung der Regelbedarfsanpassung erfolgen jährliche Einmalnachzahlungen wie in § 70 und 73 SGB II obsolet werden.

 

Die in § 73 SGB II n. F. geschaffene Einmalzahlung war zudem verfassungswidrig, weil sie denknotwendig nachträglich nicht mehr zweckentsprechend zur Sicherung des grundrechtlich geschützten Existenzminimums der Arbeitsuchenden eingesetzt werden konnte. Sie kam offenkundig (bis zu) vierzehn Monate zu spät, um dem Gegenwärtigkeitsprinzip für existenzsichernde Leistungen zu genügen. Die Einmalzahlung stand schlechterdings nicht rechtzeitig zur Verfügung für den Ausgleich all jener existenzsichernden Mehraufwendungen, die seit dem Zufluss der erstmaligen Einmalzahlung aufgrund der Vorgängerregelung im Mai 2021 bis zur Auszahlung der zweiten Einmalzahlung im Juli 2022 bereits laufend zur Sicherung des Existenzminimums unerlässlich gewesen waren (vgl. dazu oben:  Ziff. II. 6. C) c)).

 

Schließlich wurde in verfassungswidrig diskriminierender Weise die Gewährleistung der Leistungen zum Ausgleich existenznotwendiger Mehraufwendungen anlässlich der COVID-19-Pandemie durch § 73 SGB II n.F.  in persönlicher wie zeitlicher Hinsicht auf den Juli 2022 beschränkt, obwohl eben solche Mehraufwendungen auch in den vorangegangenen Pandemie-Monaten (Juli 2021 bis Juni 2022) sowie während der nachfolgenden Pandemie-Monaten (August 2022 bis Dezember 2022) zur Sicherung des Existenzminimums anfielen, ohne, dass jene Arbeitsuchende in den Genuss der zweiten Einmalzahlung gekommen wären, die zwar nicht im Juli 2022 im Leistungsbezug standen, aber davor oder danach (vgl. dazu oben unter Ziff. II. 6. C) d) und e)).

 

Da die unter Ziff. 5. des Entscheidungstenors dem Bundesverfassungsgericht vorgelegte Gesetzesvorschrift des § 73 SGB II n.F. ebenso eine existenzsichernde Funktion erfüllt wie ihre Vorgängervorschrift, ist sie ebenso verfassungswidrig (vgl. Wunder in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 73 1. Überarbeitung (Stand: 17.02.2023), Rn. 13). Die diesbezüglich gegensätzlichen landessozialgerichtlichen Entscheidungen (LSG Niedersachsen-Bremen 24.08.2022, L 8 SO 56/22 B ER; LSG Schleswig-Holstein, 11.10.2022, L 6 AS 87/22 B ER; LSG Baden-Württemberg, 20.07.2022, L 3 AS 1169/22) lassen keine ernstliche Auseinandersetzung mit der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität der verfassungsrechtlichen Fragestellungen erkennen wie sie bereits in den Entscheidungen des Vorlagegerichts in den einstweiligen Rechtsschutzverfahren im Februar bzw. März 2021 sachangemessen gelöst worden waren (SG Karlsruhe, 11.02.2021, S 12 AS 213/21 ER; SG Karlsruhe, 11.03.2021, S 12 AS 565/21 ER; SG Karlsruhe, 24.07.2021, S 12 AS 711/21 ER). Den obergerichtlichen Entscheidungen kann wegen der Bindung an Recht und Gesetz nicht gefolgt werden aus den zu § 70 Satz 1 SGB II hinlänglich ausgeführten Erwägungen (siehe oben unter Ziff. 2. 6.), welche für die Nachfolgeregelung in § 73 SGB II entsprechend gelten.

 

 

 

8.

 

Die Entscheidung unter Ziff. 6. des Entscheidungstenors, den Beklagten nicht zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu verpflichten, betrifft lediglich die Klagen S 12 AS 1358/23 und S 12 AS 1359/23, denn nur insoweit ist in dem Rechtsstreit am 06.06.2023 bereits durch Teilurteil entschieden worden.

 

Inhaltlich folgt die Kostengrundentscheidung insoweit aus § 193 SGG. Sie beruht auf dem vollständigen Unterliegen der Klägerin in der Sache, soweit sie mit ihrer Klage vor dem Sozialgericht Karlsruhe die erstmalige Leistungsgewährung (auch) für die zwei jeweils bereits zum Zeitpunkt der Leistungsantragstellung bzw. Folgeantragstellung verstrichenen Monate Januar 2021 und Oktober 2021 durchsetzen wollte.

 

Wegen der im Übrigen im Klageverfahren S 12 AS 2208/22 für die Rechtsverfolgung der Klägerin außergerichtlich angefallen Kosten ist hiermit gerade noch nicht entschieden.

 

 

Rechtskraft
Aus
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