S 48 SB 1230/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 48 SB 1230/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Wird bei einem schwerbehinderten Menschen im Kindesalter Hilflosigkeit (Merkzeichen H ) anerkannt, so führt nicht bereits die Vollendung des 18. Lebensjahrs automatisch dazu, dass dieses Merkzeichen entzogen werden kann. Vielmehr ist vor einer Aberkennung dieses Nachteilsausgleichs zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H nach den allgemeinen Maßstäben (vgl. Teil A Nr. 4 VMG) (weiterhin) gegeben sind oder nicht.


2. Besteht bei einem jungen Erwachsenen eine tiefgreifende Entwicklungsstörung in Form eines frühkindlichen Autismus, so kann Hilflosigkeit auch dann gegeben sein, wenn keine wesentlichen körperlichen Funktionseinschränkungen vorliegen.


I. Der Bescheid des Beklagten vom 23.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2020 wird aufgehoben.

II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.


T a t b e s t a n d :

Die Klage richtet sich gegen die Aberkennung des Nachteilsausgleichs "H".

Bei dem im Jahre 1994 geborenen Kläger besteht ein frühkindlicher Autismus, verbunden mit einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, einer motorischen Entwicklungsstörung und deutlichen sozialen Beeinträchtigungen in mehreren Bereichen. Mit Bescheid vom 22.06.2007 stellte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 (v.H.) und darüber hinaus fest, dass der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B", "G" und "H" erfülle.

Ab dem Jahre 2010 war der Kläger in einem Kinder- und Jugendwohnheim im Landkreis  G-Stadt (Hessen) untergebracht; seit 2019 lebt er in einer betreuten Wohngruppe der R. Stiftung in S-Stadt. Seit 2017 erhält er Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2. Der Kläger steht unter umfassender Betreuung (einschließlich Einwilligungsvorbehalt) durch seine Eltern.

Nach Anhörung des Klägers bestätigte der Beklagte mit dem Änderungsbescheid vom 23.06.2020 die Feststellungen zum GdB (80) und den Merkzeichen "G" und "B", hob jedoch die Anerkennung des Merkzeichens "H" auf, mit der Begründung, dieses sei nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) bei Vorliegen eines (frühkindlichen) Autismus in der Regel nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs festzustellen. Die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit könnten nicht nur infolge einer Besserung von Gesundheitsstörungen entfallen, sondern auch dadurch, dass behinderte Jugendliche infolge von Reifeprozessen ausreichend gelernt hätten, die wegen der Behinderung erforderlichen Maßnahmen selbständig und eigenverantwortlich durchzuführen, die vorher von Eltern und anderen Hilfspersonen hätten geleistet und überwacht werden müssen. Dies sei beim Kläger nach den vom Beklagten beigezogenen Unterlagen der Fall.

Dieser Entscheidung widersprach der Kläger und führte zur Begründung aus, bei ihm bestehe weiterhin ein zeitintensiver Hilfe- und Betreuungsbedarf bei sehr vielen alltäglichen Verrichtungen. Hier seien auch die notwendigen Bereitschaftszeiten von Hilfspersonen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sei zudem zu beachten, dass beim Kläger auch eine Intelligenzminderung (festgestellter IQ von 68) mit deutlicher Verhaltensstörung vorliege. Der Kläger stehe derzeit auf einer Warteliste für eine intensiver betreute Wohngruppe, da er den Anforderungen der jetzigen Gruppe nicht genüge. Die ausführliche Widerspruchsbegründung im Detail ist Blatt 186ff der Behindertenakte zu entnehmen.

Mit Bescheid vom 06.11.2020 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Nach dem Facharztbefund von L. (09/2019) und dem Pflegegutachten vom 13.03.2017 bestehe beim Kläger eine weitgehende Selbständigkeit bei sämtlichen Aktivitäten des täglichen Lebens, für welche nur vereinzelt Aufforderung und ggf. Anleitung benötigt werde. Eine ständige Überwachung und Beaufsichtigung sei bei überwiegend kooperativem Verhalten und nur zeitweise auftretenden Stimmungsschwankungen und Verhaltensstörungen nicht nötig. Das Bestehen von Pflegebedürftigkeit nach den Kriterien der sozialen Pflegeversicherung begründe noch keine Hilflosigkeit im Sinne des Schwerbehindertenrechts. Erst bei einer Feststellung von schweren bis schwersten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit (oder der Fähigkeiten nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch) liege oft (Pflegegrad 3) oder in der Regel (Pflegegrade 4 und 5) auch Hilflosigkeit vor.

Dagegen richtet sich die am 01.12.2020 beim Sozialgericht München (SG) eingegangene Klage, die mit Schriftsatz vom 19.03.2021 ausführlich ergänzend begründet wurde; insoweit wird auf Blatt 26ff der Gerichtsakte Bezug genommen. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts einen aktuellen Befundbericht sowie weitere medizinische Unterlagen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie L1., H-Stadt, vom 20.04.2021 eingeholt und - nach Vorlage einer nervenärztlichen Stellungnahme des Beklagten vom 16.04.2021 (siehe Blatt 56 Gerichtsakte) - die N., A-Stadt, zur Sachverständigen ernannt. Sie ist in ihrem Gutachten vom 09.11.2021 zu der zusammenfassenden Einschätzung gelangt, beim Kläger sei in Bezug auf seine Hilflosigkeit im Alltag keine Änderung zum Besseren eingetreten. Im Gegenteil habe sich seine schon in der Kindheit vorliegende Antriebslosigkeit und "Eigensteuerung" mit Eintritt in das Jugend- und junge Erwachsenenalter bis heute so verfestigt, dass sogar ein immer höherer Aufwand zu leisten sei, um Alltagsroutinen im Bereich der Körperhygiene durchzuführen und um Anleitung in den Bereichen der psychischen Erholung, der geistigen Anregung und der Kommunikation zu geben. Somit liege beim Kläger weiterhin Hilflosigkeit vor. Die Feststellungen und Bewertungen der Sachverständigen im Einzelnen sind Blatt 73ff der Gerichtsakte zu entnehmen.

Der Kläger stellt den,
Antrag aus dem Schriftsatz vom 19.03.2021.


Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er hat eine nervenärztliche Stellungnahme vom 14.12.2021 vorgelegt; deren Inhalt ist Blatt 100 der Gerichtsakte zu entnehmen. Auch der Kläger hat mit Schriftsatz vom 25.01.2022 nochmals ausführlich Stellung genommen und den HEB-Bogen des Leistungserbringers R. vom 03.11.2021 vorgelegt; insoweit wird auf Blatt 104ff der Gerichtsakte Bezug genommen.

Dem Gericht lag die Behindertenakte bei seiner Entscheidung vor.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die vorliegende Klage ist statthaft als isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 (Alt. 1) Sozialgerichtsgesetz (SGG); für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide ist somit die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2020 maßgeblich (siehe Bundessozialgericht - BSG, Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 21).

Bei dem angefochtenen Verwaltungsakt vom 23.06.2020 (in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.11.2020; vgl. § 95 SGG) handelt es sich um einen Aufhebungsbescheid gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist ein "Verwaltungsakt mit Dauerwirkung" (hier: der Bescheid vom 22.06.2007) mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine "wesentliche", d. h. rechtserhebliche Änderung eingetreten ist. Als wesentliche Änderung im Sinne dieser Vorschrift gilt unter anderem eine Veränderung des Gesundheitszustandes, welche zur Folge hat, dass die Voraussetzungen für einen Nachteilsausgleich (hier: Merkzeichen "H") nicht mehr vorliegen (Landessozialgericht - LSG - Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.03.2019, L 10 SB 111/17, Rn. 24, in: juris).

Auch wenn man annehmen wollte, dass in der Vollendung des 18. Lebensjahres eine Änderung in den rechtlichen Verhältnisse im Sinne von § 48 SGB X liegen kann, bedeutete dies nicht, dass ab dem Erreichen der Volljährigkeit automatisch das Merkzeichen "H" zu entziehen wäre. Vielmehr ist vor einer Aberkennung dieses Nachteilsausgleichs zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" nach den allgemeinen Maßstäben (vgl. Teil A Nr. 4 VMG) gegeben sind oder nicht (LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Rn. 27).

Im Falle des Klägers sind diese Voraussetzungen erfüllt, sodass er weiterhin Anspruch auf den Nachteilsausgleich "H" hat.

Gem. § 33b Abs. 6 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG - in der bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2020 geltenden Fassung) ist eine Person hilflos, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind gem. § 33b Abs. 6 Satz 4 EStG auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Nach Teil A, Nr. 4, Buchst. c VMG liegt Hilflosigkeit auch dann vor, wenn ein psychisch oder geistig behinderter Mensch zwar bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe nicht unmittelbar bedarf, er diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähme.

Bei den insoweit zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (BSG, Urteil vom 24.11.2005, B 9a SB 1/05 R, SozR 4-3250 § 69 Nr. 3). Dabei sind zunächst die ursprünglich im Bereich der sozialen Pflegeversicherung nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) maßgeblichen Verrichtungen der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) zu berücksichtigen; diese werden unter dem Begriff der "Grundpflege" zusammengefasst. Hinzu kommen jene Verrichtungen, die den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregung und der Kommunikation (hier insbesondere Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen) zuzurechnen sind, während Verrichtungen aus dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung außer Betracht bleiben (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Rn. 28, m.w.N.).

Ein Hilfebedarf bei einer "Reihe von Verrichtungen" gem. § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O.). Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis zwischen den Verrichtungen, die dem Behinderten nur mit fremder Hilfe möglich sind und jenen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel ist dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen.

Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung erscheint es sachgerecht, die Erheblichkeit des Hilfebedarfs ausgehend von dem täglichen Zeitaufwand für die erforderlichen Betreuungsleistungen zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.2005, a.a.O.). Gemessen an diesem Maßstab ist nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfang von bis zu einer Stunde täglich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Dagegen liegt Hilflosigkeit stets vor, wenn der tägliche Hilfebedarf zwei Stunden erreicht. In dem dazwischenliegenden Bereich (Hilfebedarf von mehr als einer Stunde, aber unter zwei Stunden täglich) kann Hilflosigkeit bestehen. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege besonders hoch ist, wie etwa bei sehr ungünstiger zeitlicher Verteilung zahlreicher Hilfeleistungen über den Tag hinweg (vgl. auch Dirk H. Dau in: LPK-SGB IX, 6. Aufl. 2022, § 209 SGB IX, Rn. 18). Diese typisierenden Grundsätze gelten auch bei der Beurteilung, welche Bedeutung einem möglichen Kommunikationsdefizit zukommt und ob bei kommunikationsbezogenen Verrichtungen in erheblichem Umfang fremde Hilfe erforderlich wird (LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Rn. 29, m.w.N.). Die Zuordnung zu einer der Pflegestufen I und II (jetzt: Pflegegrade 1 bis 3) nach dem SGB XI lässt keinen zwingenden Schluss auf das Vorliegen von Hilflosigkeit zu. Die Einstufung als Schwerstpflegebedürftiger in die Pflegestufe III nach dem SGB XI stand allerdings steuerrechtlich der Feststellung von Hilflosigkeit gleich (§ 65 Abs. 2 Satz 2 EStG-DV); seit 1.1.2017 führen die Pflegegrade 4 oder 5 automatisch zur Gleichstellung (Dirk H. Dau, a.a.O.).

Nach diesen Grundsätzen ist der Kläger weiterhin hilflos und hat er somit nach wie vor Anspruch auf den Nachteilsausgleich "H".

Zwar trifft es zu, dass beim Kläger, wie schon dem Pflegegutachten von M3. vom 13.03.2017 zu entnehmen ist, keine wesentlichen körperlichen Einschränkungen vorliegen. Bereits in diesem Gutachten werden jedoch psychomentale Beeinträchtigungen
- der Orientierung,
- der Wahrnehmung und des Denkens,
- des Verhaltens,
- des Antriebs und
- der Stimmung
beschrieben. Ein Hilfebedarf wird bezogen auf das
- Modul 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten),
- Modul 4 (Selbstversorgung),
- Modul 5 (... Umgang mit... Anforderungen und Belastungen) und
- Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte)
anerkannt. Zwar wird die Pflegebedürftigkeit nach dem ab dem 01.01.2017 geltenden neuen Recht des SGB XI nicht mehr streng verrichtungsbezogen ermittelt; das Pflegegutachten vom 13.03.2017 lässt jedoch einen Hilfebedarf in Form der Aufforderung und Anleitung zur Körperpflege und in den Bereichen der geistigen Anregung und der Kommunikation erkennen.

Beim frühkindlichen Autismus handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die nach heutigen Erkenntnissen hauptsächlich genetisch bedingt ist. Wie bei allen autistischen Störungen zeigen sich auch beim frühkindlichen Autismus insbesondere folgende Beeinträchtigungen:
- gestörte soziale Interaktion
- beeinträchtigte Kommunikation / Sprache
- wiederholte, stereotype Verhaltensweisen und Interessen.
Die Beeinträchtigungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Oft ist auch die Intelligenz vermindert (www.netdoktor.de/krankheiten/autismus/fruehkindlicher-autismus).

Dem entsprechend hat die gerichtlich bestellte ärztliche Sachverständige N. in ihrem Gutachten vom 09.11.2021 dargelegt, dass Defizite in der sozialen Interaktion und Kommunikation den Kern des beim Kläger bestehenden Beschwerdebildes ausmachen. Die Behinderung bewirkt im Falle des Klägers eine starke Rigidität in seinen Denk- und Verhaltensmustern, eine deutlich reduzierte Körperwahrnehmung und Probleme bei der Impulskontrolle. Der Kläger zeigt zudem kaum Eigenantrieb, stattdessen Passivität und Motivationslosigkeit in den meisten Bereichen des Alltags. Hinzu kommt eine ausgeprägte "Eigensteuerung", die sich mit dem Beginn der Pubertät, etwa ab dem 14. Lebensjahr, deutlich verstärkt hat. Ließ sich der Kläger als Kind häufig noch durch seine engen Bezugspersonen in seinen Aktivitäten lenken, zum Beispiel dazu bewegen, auf Fahrradausflüge mitzukommen, neigt er mittlerweile dazu, sich sämtlichen Anforderungen, die von außen an ihn gestellt werden, zu verweigern. Infolge der mit dem Autismus verbundenen Wahrnehmungsstörungen, die auf einer gegenüber der Norm abweichenden Gehirnstruktur beruhen und somit kaum beeinflussbar sind, bleibt nahezu jeder Lerneffekt aus. Dies hat auch damit zu tun, dass beim Kläger zusätzlich eine Intelligenzminderung (IQ 68) vorliegt. Es besteht für ihn deshalb nicht die Möglichkeit, seine durch die Behinderung bedingten Einschränkungen zumindest teilweise mittels intellektueller Einsicht zu kompensieren.

Nach der für die Kammer überzeugenden Beurteilung der gerichtlich bestellten Sachverständigen besteht beim Kläger ein für den Nachteilsausgleich "H" relevanter Hilfebedarf in Form der ständigen Überwachung und Ermahnung zu den Alltagsverrichtungen, speziell der intensiven Anleitung und Kontrolle im Bereich der Körperhygiene, sowie der umfassenden Anleitung und Hilfestellung in den Bereichen psychische Erholung, geistige Anregung und Kommunikation. Dabei wird ein durchschnittlicher Zeitaufwand von mindestens zwei Stunden täglich nicht sicher erreicht; es entsteht jedoch wegen des komplexen und anspruchsvollen, regelmäßig über den ganzen Tag verteilten Hilfebedarfs (auch aufgrund der rigiden Verhaltensmuster, des Eigensinns und des fehlenden Lerneffekts auf Seiten des Klägers) ein "hoher Kraft- und Wertaufwand". Aufgrund dieser schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen liegen nach der Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "H" weiterhin vor.

Die Einschätzung der Sachverständigen wird insbesondere bestätigt und untermauert durch die Hilfedokumentation im HEB-Bogen der Einrichtung, von welcher der Kläger betreut wird, vom 03.11.2021. Danach ist Hilfe insbesondere bei den folgenden Verrichtungen regelmäßig erforderlich:
- Anleitung und Kontrolle bei der Körperpflege (Waschen, Zahnpflege, Rasur),
- Aufforderung, die Kleidung zu wechseln,
- Hilfestellung und Anleitung vor der Wahrnehmung von Terminen,
- Hilfestellung und Anleitung in Krisensituationen (die aufgrund der Wahrnehmungsstörung entstehen),


- Erarbeitung von Rahmenbedingungen zur Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung,
- Unterstützung und enge Begleitung zur Bewältigung allgemeiner persönlicher Probleme,
- Unterstützung beim Ausbau und bei der Festigung sozialer Kontakte,
- Anleitung und Begleitung im Bereich Freizeitgestaltung.

Nach alledem besteht beim Kläger in den genannten Bereichen dauerhaft ein umfangreicher, zeitaufwändiger und anspruchsvoller Hilfebedarf und sind somit die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" nicht entfallen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; das Klageverfahren ist gerichtskostenfrei (§ 183 SGG).

 

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