S 16 KR 78/23

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 16 KR 78/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.110,03 Euro für die von ihm als zweitangegangenem Rehabilitationsträger übernommene Versorgung von B L mit dem Therapiestuhl Madita-Fun Größe 1b für die Nutzung im Kindergarten sowie die Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5% der Leistungsaufwendungen zu erstatten.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

T a t b e s t a n d:

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung einer Versorgung eines Kindes mit einem Therapiestuhl für die Nutzung im Kindergarten.

Die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte B L (im Folgenden: Versicherte), geboren am 00.00.0000, leidet an einer spinalen Muskelatrophie und Skoliose. Die Beklagte versorgte die Versicherte daher für die Einhaltung einer sitzenden Körperhaltung mit einem Therapiestuhl im häuslichen Bereich. Auch im Kindergarten war die Versicherte mit einem zweiten Therapiestuhl der Marke Madita Fun Größe 1 versorgt worden. Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung vom 12.09.2019 beantragte die Mutter der Versicherten seinerzeit bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine entsprechende Versorgung mit einem Therapiestuhl. Beigefügt war auch ein Kostenvoranschlag der RAS GmbH vom 10.10.2019. Die Beklagte leitete den Antrag mit Schreiben vom 21.10.2019 an den Kläger weiter. Zur Begründung führte sie aus, die Versicherte sei durch sie bereits im häuslichen Umfeld mit einem Therapiestuhl versorgt worden. Aus diesem Grund falle die Versorgung im Kindergarten unter die Leistungen zur Teilhabe an Bildung, sodass der Kläger als Träger zur Leistungen zur Teilhabe an Bildung zuständig sei. Die Versicherte nutzte den Therapiestuhl um sitzen zu können, wenn sie mit den anderen Kindern spielte. Auch konnte sie so am Esstisch im Kindergarten sitzen und mit den anderen Kindern zusammen essen. Der Kläger bewilligte den Therapiestuhl der Marke Madita Fun Größe 1.

Wachstumsbedingt war der vorhandene Therapiestuhl jedoch nicht mehr passgerecht. Aus diesem Grund beantragte die Mutter der Versicherten die Neuversorgung mit einem Therapiestuhl Madita Fun Gr. 1b unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung und weiterer Unterlagen vom 31.08.2021 sowie des Kostenvoranschlags der Firma S GmbH in Höhe von 4.282,84 Euro bei der Beklagten. Der Therapiestuhl Madita Fun Größe 1 sei wachstumsbedingt zu klein geworden. Die breite der Sitzfläche sei noch ausreichend, nicht jedoch die Sitztiefe.

Die Beklagte leitete den bei ihr am 14.09.2021 eingegangenen Antrag am 15.09.2021 an den Kläger weiter.

Nach erneuter Prüfung bewilligte der Kläger der Versicherten mit Bescheid vom 20.10.2021 die Kostenübernahme für das streitgegenständliche Hilfsmittel. Tatsächlich beliefen sich die Kosten auf 4.110,03 Euro.

Mit Schreiben vom 23.03.2022 forderte der Kläger die Beklagte zur Erstattung der 4.110,03 Euro gemäß § 16 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) auf.  Der Therapiestuhl im Kindergarten sei zur Sicherstellung der Teilnahme an sämtlichen Aktivitäten im Kindergarten zwingend notwendig. Auch das Bundessozialgericht (BSG) habe entschieden, dass Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren einen Anspruch auf eine Zweitversorgung mittels Therapiestuhl im Kindergarten gegen Ihre Krankenkasse haben könnten. Die Versicherte sei auch noch nicht schulpflichtig gewesen.

Mit Schreiben vom 03.05.2022 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe die Versicherte im häuslichen Umfeld mit einem Therapiestuhl der Marke Madita Fun Größe 1b versorgt. Der beantragte Therapiestuhl für den Kindergarten stelle eine wachstumsbedingte Neuversorgung dar. Das Hilfsmittel diene der Leistungen zur Teilhabe an Bildung und nicht der medizinischen Rehabilitation, sodass der Kläger für die Versorgung zuständig sei.

Mit der am 26.01.2023 erhobenen Klage begehrt der Kläger weiterhin die Kostenerstattung für die Versorgung der Versicherten mit dem Therapiestuhl Madita Fun Größe 1b für den Kindergarten nebst fünf Prozent Verwaltungskostenpauschale von der Beklagten.

Zur Begründung führt er an, der Therapiestuhl im Kindergarten sei wachstumsbedingt zu erneuern gewesen und erforderlich für die Sicherstellung der Teilnahme der Versicherten an den Aktivitäten im Kindergarten und um die Integration in den Kreis der anderen Kinder zu gewährleisten. Es sei höchstrichterlich bereits geklärt worden, dass es Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei, die Schulfähigkeit herzustellen und zu sichern. Der Besuch eines Kindergartens bis zur Schule diene der Heranführung an die Schulfähigkeit und sei somit ein allgemeines Grundbedürfnis. Mit der Neuordnung des SGB IX habe der Gesetzgeber die Leistungsgruppe der sozialen Teilhabe und der Teilhabe an Bildung nicht ausgeweitet. Die Änderung diene der Rechtssicherheit bei der Leistungserbringung und der Stärkung der Selbstbestimmung, sie solle jedoch nicht die Leistungspflicht des Klägers erweitern. Somit sei auch nach Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes davon auszugehen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Aufgaben der Beklagten bezüglich der Versorgung von Versicherten im Kindergarten fortgelte.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Beklagte zu verpflichten, an ihn die Kosten in Höhe von 4.110,03 Euro für die von ihm als zweitangegangenem Rehabilitationsträger übernommene Versorgung von B L mit dem Therapiestuhl Madita-Fun Größe 1b für die Nutzung im Kindergarten zzgl. einer Verwaltungskostenpauschale nach § 16 Abs. 3 SGB IX in Höhe von 5% der Leistungsaufwendungen zu erstatten.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass es sich bei der Neuversorgung der Versicherten mit einem Therapiestuhl im Kindergarten um eine Leistung zur Teilhabe an Bildung gehandelt habe und der Kläger daher zuständiger Träger sei. Die Versorgung mit einem Therapiestuhl im häuslichen Bereich sei durch sie bereits erfolgt. Bei der unstreitig notwendigen Zweitversorgung handele es sich um eine Leistung zur Teilhabe an Bildung. Mit der Neufassung des SGB IX sei die Zuständigkeit für Leistungen zur Teilhabe an Bildung klar geregelt worden. Aus dem § 75 Abs. 2 SGB IX ergebe sich, dass auch die Schulpflicht und die Vorbereitung Leistungen zur Teilhabe an Bildung seien. Die Versicherte habe eine Kindertagesstätte besucht. Der Bildungsauftrag der Kindertagesstätte diene der Schulvorbereitung.

Mit Schriftsatz vom 15.08.2023 und 23.08.2023 teilten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gegenüber dem Gericht mit.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Behandlungsdokumentation der Klägerin und der Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens Bezug genommen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die Kammer konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage ist zulässig.

Sie ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft, weil es sich bei dem mit der Klage verfolgten Erstattungsanspruch gemäß § 16 Abs. 1 SGB IX um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis handelt, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt. Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen.

Die Klage ist auch begründet.

Dem Kläger steht gemäß § 16 Abs. 1 SGB IX ein Erstattungsanspruch in Höhe der für die Versorgung der Versicherten mit dem Therapiestuhl aufgewendeten 4.110,03 Euro gegen die Beklagte zu. Hat danach ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger insgesamt zuständig ist, erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften. § 16 Abs. 1 SGB IX räumt dem zweitangegangenen Träger einen spezialgesetzlichen Erstattungsanspruch gegen den materiell-rechtlich originär zuständigen Rehabilitationsträger ein. Er ist begründet, soweit der Versicherte/Leistungsberechtigte vom Träger, der ohne die Regelung in § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX zuständig wäre, die gewährte Maßnahme hätte beanspruchen können. Die Regelung begründet einen Ausgleich dafür, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger – bei Vorliegen eines entsprechenden Bedarfs – die erforderlichen Leistungen (spätestens nach drei Wochen bzw. zwei Wochen nach Einholung eines Gutachtens) selbst dann erbringen muss, wenn er der Meinung ist, hierfür nicht zuständig zu sein. Dabei handelt es sich um eine gleichsam „aufgedrängte Zuständigkeit“. Diese in § 14 Abs. 2 S. 1 und 4 SGB IX geregelte Zuständigkeitszuweisung erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versicherten/Leistungsberechtigten auf alle Rechtsgrundlagen sämtlicher Rehabilitationsträger im Sinne des § 6 Abs. 1 SGB IX, die für die spezifische Bedarfssituation vorgesehen sind. Im Verhältnis zum behinderten Menschen wird dadurch eine eigene gesetzliche Verpflichtung des zweitangegangenen Trägers begründet, die einen endgültigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung in diesem Rechtsverhältnis bildet. Im Verhältnis der Rehabilitationsträger untereinander ist jedoch eine Lastenverschiebung ohne Ausgleich nicht bezweckt. Den Ausgleich bewirkt der Anspruch nach § 16 Abs. 1 SGB IX (vgl. noch zu § 14 Abs. 4 SGB IX a. F. BSG, Urt. v. 08.09.2009, B 1 KR 9/09 R, Rn. 11, juris).

Diese Voraussetzungen liegen vor.

Der Kläger ist als zweitangegangener Rehabilitationsträger erstattungsberechtigt nach den §§ 16 Abs. 1, 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX. Die Beklagte hat den am 14.09.2021 gestellten Antrag der Mutter der Versicherten auf Kostenübernahme für einen Therapiestuhl der Marke Madita Fun Größe 1b mit Schreiben vom 15.09.2021 fristgerecht binnen zwei Wochen gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX an den von ihr für zuständig erachteten Kläger als Rehabilitationsträger, der für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zuständig ist (§ 5 Nr. 4 SGB IX in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX), weitergeleitet. Der Kläger hat auch das begehrte Hilfsmittel als nunmehr im Außenverhältnis zu dem Versicherten zuständiger zweitangegangener Rehabilitationsträger nach Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (§ 14 Abs. 2 S. 4 und 1 SGB IX) bewilligt, weil die Ausstattung des Versicherten mit dem bereits vorhandenen Therapiestuhl der Marke Madita Fun Größe 1 wachstumsbedingt nicht ausreichend war. Dem Grunde nach benötigte die Versicherte in der Kindertageseinrichtung daher dieses Hilfsmittel. Dieses ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Nach Auffassung der Kammer ist die Beklagte auch für die Versorgung des streitigen Hilfsmittels im Kindergarten originär zuständiger Rehabilitationsleistungsträger. Entgegen der Ansicht der Beigeladenen umfasst das Versorgungsziel der Krankenkassen die mit dem zweiten Therapiestuhl verfolgten Zwecke. Die Weiterleitung an den Kläger erfolgte zu Unrecht. Der Versicherten stand ein Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte auf Bewilligung des streitgegenständlichen Hilfsmittels gemäß der §§ 27, 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Die begehrte Zweitversorgung mit dem weiteren Therapiestuhl diente hier ersichtlich nicht der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung (1. Variante) und auch nicht der Vorbeugung einer drohenden Behinderung (2. Variante), sondern allein dem Ausgleich der Folgen der seit Geburt bestehenden Behinderung der Klägerin (3. Variante).

Der von den behandelnden Ärzten verordnete Therapiestuhl stellt ein Hilfsmittel i.S.v. § 33 SGB V dar. Der Therapiestuhl ist als speziell für gehunfähige und der Haltungsstabilisierung bedürftige Menschen entwickeltes und hergestelltes Hilfsmittel kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens und auch nicht durch die Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen (vgl. BSG, Urt. v. 03.11.2011, B 3 KR 8/11 R, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de).

Im Bereich des von der Beklagten zu erfüllenden Behinderungsausgleichs bemisst sich die originäre Leistungszuständigkeit der GKV nach dem Zweck des Hilfsmittels, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dient. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählen das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urt. v. 10.09.2020, B 3 KR 15/19; Urt. v. 08.08.2019, B 3 KR 21/18 R; Urt. v. 30.11.2017, B 3 KR 3/16 R; jeweils juris). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG, Urt. v. 06.08.1998, B 3 KR 3/97 R; Urt. v. 24.05.2006, B 3 KR 12/05 R; jeweils juris). Daneben hat die höchstrichterliche Rechtsprechung als Grundbedürfnis auch die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung anerkannt (BSG, Urt. v. 03.11.2011, B 3 KR 8/11, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de). Dabei besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Entscheidend sind daher die Gebrauchsvorteile, ohne dass hierfür maßgeblich die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich heranzuziehen wäre (BSG, Urt. v. 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R und Urt. v. 15.03.2018, B 3 KR 18/17 R; jeweils juris).

Nach dieser Maßgabe stand der Versicherten ein Anspruch auf den Therapiestuhl zur Nutzung im Kindergarten gegen die Beklagte zu. Die Versorgung der sechsjährigen Versicherten mit einem Therapiestuhl im Kindergarten diente dem Ausgleich eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens im Sinne der medizinischen Rehabilitation. Vorliegend ist bei der Versicherten schon das Grundbedürfnis der Sicherung der Schulfähigkeit betroffen. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass auch der Besuch im Kindergarten der Sicherstellung der Schulfähigkeit dient. Dieser Auffassung schließt sich die Kammer nach eigener eingehender Prüfung vollumfänglich an. Kindertageseinrichtungen entlasten die Eltern nicht nur von der Betreuung des Kindes (§ 3 Abs. 1 Kinderbildungsgesetz NRW - KiBiz – 01.08.2020), sondern unterstützen darüber hinaus die Eltern in der Wahrnehmung ihrer Erziehungs- und Bildungsverantwortung und ergänzen die Förderung des Kindes in der Familie (§ 2 und § 3 Abs. 1 KiBiz).

Dem Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen kommt dabei nach dem Willen des Gesetzgebers eine besondere Bedeutung zu. Während nach der bis zum 31.12.2004 geltenden Rechtslage die Aufgabe der Kindertageseinrichtungen in der "Betreuung, Bildung und Erziehung" bestand (§ 22 SGB VIII aF), hat der Gesetzgeber mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) vom 27.12.2004 (BGBl I 3852) mit Wirkung ab 1.1.2005 die Förderungselemente "Betreuung" und "Erziehung" gegeneinander ausgetauscht (§ 22 Abs 3 SGB VIII nF), um das Förderungselement "Bildung" durch die Platzierung dieses Begriffs vor der "Betreuung" stärker zu gewichten (BT-Drucks 15/3676 S 31 f). Daraus ist ersichtlich, dass die Betreuung eines Kindes nicht mehr im Vordergrund steht, sondern Bildung und Erziehung der Kinder vorrangig sind, wobei beide Ziele zwangsläufig mit der Betreuung verbunden sind und diese voraussetzen (Busch, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Kapitel 29.2., § 22 SGB VIII RdNr 30, Stand 2009). Der den Kindertageseinrichtungen somit gesetzlich zugewiesene zentrale Bildungsauftrag hat zur Folge, dass sich die Aufgabenbereiche von Kindertageseinrichtungen und Schulen im Hinblick auf die Vermittlung elementarer alltäglicher Kenntnisse und Fertigkeiten überschneiden und die Kindertageseinrichtungen die Voraussetzungen für den späteren Erwerb der Schulfähigkeit und einer elementaren Schulausbildung vermitteln (Urt. v. 03.11.2011, B 3 KR 8/11 R, Rn. 22, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de; Sächsisches LSG, Urt. v. 18.06.2020, L 9 KR 761/17, juris). Damit die Versicherte an diesem Bildungsauftrag im Kindergarten teilnehmen und in Interaktion mit den anderen Kindern treten kann, benötigt sie den Therapiestuhl Madita Fun Größe 1b. Der Therapiestuhl war zum Ausgleich der Behinderung der Versicherten medizinisch erforderlich. Die medizinische Erforderlichkeit eines speziell an die Körpermaße angepassten Therapiestuhls ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Versicherte leidet an einer spinalen Muskelatrophie sowie Skoliose. Im häuslichen Umfeld wurde sie daher bereits mit einem Therapiestuhl versorgt, um die Einhaltung einer sitzenden Körperhaltung zu fördern. Um mit den anderen Kindern interagieren zu können oder mit anderen Kinder am Tisch gemeinsam Essen zu können, benötigt die Versicherte den Therapiestuhl.

Nach Auffassung der Kammer führt auch die Neufassung des SGB IX nicht zu einer anderen Einschätzung. Entgegen der Auffassung der Beklagten diente diese nicht der Erweiterung des Leistungsumfangs, sondern nur der Klarstellung und Vereinfachung für die Versicherten. Durch das Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) ist in § 75 SGB IX eine neue Leistungsgruppe „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“ aufgenommen worden. Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 62, 195, 259) sind die Leistungen zur Teilhabe an Bildung geschaffen worden in Umsetzung des in Art. 24 Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (UN-Behindertenrechtskonvention; Gesetz vom 21. Dezember 2008 ˂BGBl. II S. 1419˃, in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit 26. März 2009 ˂BGBl. II S. 812˃) verankerten Rechts auf Bildung. Gemäß § 75 Abs. 1 SGB IX werden unterstützende Leistungen erbracht, die erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderungen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können. Die Leistungen umfassen u.a. Hilfen zur Schulbildung, insbesondere im Rahmen der Schulpflicht einschließlich der Vorbereitung hierzu (§ 75 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB IX). Als Unterstützungsleistungen kommen insoweit sowohl kommunikative, technische oder andere Hilfsmittel in Betracht als auch Leistungen, die zur Aufsuchung des Lernortes und/oder zur Teilnahme an der Vermittlung von Bildungsinhalten notwendig sind (vgl. Luthe in jurisPK-SGB IX, 3. Auflage 2018, § 75 Rdnr. 29 ˂Stand: 15.01.2018˃ [unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien]). Nach den Ausführungen der Bundesregierung im Gesetzesentwurf handelt es sich insoweit um eine Klarstellung, die das Leistungsspektrum der Rehabilitationsträger zutreffend abbilden soll, ohne dass damit eine Leistungsausweitung beabsichtigt war, wobei nach derzeit geltender Rechtslage für die Träger der Eingliederungshilfe § 54 SGB XII maßgeblich ist (Bundestags-Drucksache 18/9522 S. 259 f.; ferner hierzu auch Luthe, a.a.O., Rdnrn. 2, 35 ff.; vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 19.04.2018, L 7 SO 39/16, Rn. 30, juris). Zweck des § 75 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX ist, dass behinderte Menschen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können. Vorrangig zuständig gegenüber dem Sozialhilfeträger sind davon unabhängig jedoch nach wie vor die gesetzlichen Krankenkassen. Auch diese erbringen unterstützende Leistungen. Versicherte der GKV haben generell Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Insbesondere Gegenstände, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung in einem Lebensbereich positiv beeinflussen, der ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Grundsätzlich zählen daher auch die Herstellung und die Sicherung der Schulfähigkeit eines Schülers bzw. der Erwerb einer elementaren Schulausbildung im Rahmen der Hilfsmittelversorgung zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 75 SGB IX (Stand: 10.11.2022), Rn. 37).

Darüber hinaus benötigte die Versicherte den Therapiestuhl jedenfalls zur Integration in den Kreis der gleichaltrigen Kinder durch den Besuch des Kindergartens. Nur mit dem Therapiestuhl wurde sie in die Lage versetzt, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen und Altersgenossen im Spiel zu folgen. Der Therapiestuhl diente der Versicherten damit zur Ermöglichung des Kindergarten-Besuchs bei Vermeidung von Ausgrenzung aus der Gruppe der anderen Kinder. Dies ist dem Basisausgleich zuzurechnen (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 19.05.2022, L 9 SO 360/20, Rn. 37 - 45, juris; abweichend wohl BSG Urt. v. 03.11.2011, B 3 KR 8/11 R, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de). Zur Förderung der Integration in der kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphase dienen Hilfsmittel, die eine Teilnahme an den allgemein üblichen Betätigungen Gleichaltriger ermöglichen sollen (BSG Urt. v. 16.04.1998, B 3 KR 9/97 für ein Rollstuhl-Bike). Damit sollen behinderte Kinder und Jugendliche vor behinderungsbedingter Ausgrenzung im täglichen Leben bewahrt oder diese abgemildert werden, um Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung entgegenzuwirken (BSG Urt. v. 18.08.2011, B 3 KR 10/10R, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de). Die Krankenkassen sollen diejenige Unterstützung leisten, die erforderlich ist, um sie trotz der Behinderung in das übliche Leben ihrer Altersgenossen zu integrieren (BSG Urt. v. 16.04.1998, B 3 KR 9/97, juris). Zu den Grundbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen zählt ebenso wie der Schulbesuch auch die Möglichkeit, spielen zu können bzw. allgemein an der üblichen Lebensgestaltung der Gleichaltrigen als Bestandteil des sozialen Lernprozesses teilnehmen zu können (vgl. BSG Urte. V. 23.07.2002, B 3 KR 3/02 R und v. 16.04.1998, B 3 KR 9/97 R; jeweils juris). Anders als Hilfsmittel, die darauf begrenzt sind, die behinderungsbedingten Folgen im beruflichen oder familiären Bereich zu beseitigen oder zu mildern (BSG Urt. v. 12.08.2009, B 3 KR 11/08 R, juris) oder allgemein dem Bedürfnis nach Freizeitgestaltung an sich dienen (BSG Urt. v. 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R, juris) und insofern lediglich die Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten beabsichtigen, für die die Krankenkassen nicht zuständig sind, fällt die Versorgung mit einem Hilfsmittel, das entwicklungsbedingt unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse zur notwendigen Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen erforderlich ist, in den Verantwortungsbereich der Krankenkassen (LSG NRW, Urt. v. 19.05.2022, L 9 SO 360/20, Rn. 37 - 45, juris).

Die Beklagte hat ihre Leistungspflicht auch nicht nach § 33 Abs. 1 SGB V bereits mit der Bereitstellung des ersten Therapiestuhls in häuslichen Umfeld erfüllt. Die Versicherte benötigte für den Kindergartenbesuch einen zweiten Therapiestuhl. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt eine Zweitversorgung auf Kosten der GKV bei vorhandener Erstversorgung dann in Betracht, wenn das zur Verfügung gestellte Hilfsmittel aufgrund seiner fehlenden oder nur unter unzumutbaren Bedingungen herzustellenden Transportfähigkeit nur im häuslichen Bereich und nicht auch – nach täglich erfolgtem Transport – anderswo verwendet werden kann, wobei die Eignung eines kompletten Therapiestuhls zum regelmäßigen Transport insbesondere von seiner Größe und seinem Gewicht, der einfach zu handhabenden Montage und Demontage sowie von den Sicherungsmöglichkeiten während des Transports abhängt (BSG, Urt. v. 03.11.2011, B 3 KR 8/11 R, veröffentlicht auf sozialgerichtsbarkeit.de). Die Mutter der Versicherten hat insoweit für die Kammer nachvollziehbar gegenüber dem Kläger ausgeführt, ein täglicher Transport des Therapiestuhls sei allein schon aufgrund des Gewichts von 20kg nicht möglich. Die Ausstattung eines im Bereich der Sitzfähigkeit behinderten Kindes mit nur einem Therapiestuhl ist wegen der Ungeeignetheit eines täglichen Transports nicht ausreichend (vgl. Sächsisches LSG Urt. v. 18.06.2020, L 9 KR 761/17, juris).

Da dem Kläger der Erstattungsanspruch gegen die Beklagte zusteht, steht ihm gemäß § 16 Abs. 3 S. 1 SGB IX auch die Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5 Prozent der erstattungsfähigen Leistungsaufwendung gegen die Beklagte zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und trägt dem Unterliegen der Beklagten Rechnung.

Rechtskraft
Aus
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