L 10 U 675/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 10 U 62/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 U 675/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 50/23 B
Datum
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 18.11.2019 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten im Wesentlichen um die Anerkennung einer Impfung als Arbeitsunfall.

 

Die 1964 geborene Klägerin, Fachärztin für Neurologie, wurde zu Beginn ihres Medizinstudiums gemäß den Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) am 25.11.1997, 01.12.1997 und letztmalig am 14.05.1998 gegen Hepatitis B geimpft. Für alle drei Impfungen wurde eine aktive Immunisierung mit Gen HB-VAX (HBV) durchgeführt. Im Anschluss an die letzte Impfung traten am 16.05.1998 erstmals Dysästhesien, am 18.05.1998 eine Kraftminderung des rechten Beins und am 20.05.1998 eine solche der rechten Hand auf. Im Universitätsklinikum S. wurde die Klägerin vom 20. bis 26.05.1998 unter der Verdachtsdiagnose einer Myelitis stationär behandelt. Im April 2000 wurde im Universitätsklinikum B. erstmals die Diagnose Multiple Sklerose (MS) gestellt und vom zweiten Schub der MS ausgegangen (Arztbrief vom 16.05.2000).

 

Im Juni 2006 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten ihre MS-Erkrankung als Folge der Hepatitis B-Impfungen geltend. Die Beklagte leitete daraufhin ein Feststellungsverfahren ein und zog medizinische Unterlagen bei. Im Rahmen dieses Verfahrens richtete sie unter dem 11.04.2007 eine Anfrage an die Klägerin, die nach der Anrede folgenden Satz beinhaltet: „Sie erlitten am 14.05.1998 einen Arbeitsunfall“ und mit der die Klägerin im Folgenden um Rücksendung des beigefügten Vordrucks „Eigene Angaben zur Person“ nach dessen Ausfüllung gebeten wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der Klägerin durch Schreiben der Beklagten vom 21.03. und 26.03.2007 bekannt, dass eine Begutachtung auf medizinischem Gebiet veranlasst und noch nicht abgeschlossen war.

 

Prof. Dr. O., Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum B. kam im Rahmen dieser Begutachtung im Juli 2007 zu dem Ergebnis, bei der Klägerin sei erstmals am 16.05.1998 ein erster Krankheitsschub einer MS aufgetreten. Hierbei handele es sich um eine autoimmunentzündliche und degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Man gehe davon aus, dass bereits Monate bis Jahre vor dem ersten klinischen Ereignis pathologische Veränderungen im zentralen Nervensystem bestünden. Berücksichtige man dies, erscheine es unwahrscheinlich, dass durch die Hepatitis B-Impfung die Erkrankung einer MS ausgelöst worden sei. Ob durch die Impfung ein Schub einer MS ausgelöst werden könne, sei zurzeit anhand der zur Verfügung stehenden Literatur nicht abschließend beantwortbar.

 

Mit Bescheid vom 10.10.2007/Widerspruchsbescheid vom 12.12.2007 lehnte die Beklagte es ab, das Ereignis vom 14.05.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, da ein Ursachenzusammenhang zwischen der im Jahr 2000 diagnostizierten MS vom schubförmigen Verlaufstyp mit Erstsymptomen im Jahr 1998 und der 3. Hepatitis B-Impfung am 14.05.1998 nicht wahrscheinlich zu machen sei. In dem sich anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren S 13 U 424/97, Sozialgericht Münster (SG)/ L 15 U 511/11, Landessozialgericht (LSG) NRW kam Prof. Dr. D., Neurologische Klinik der I.-Universität V., in einem Gutachten vom 07.01.2009 zu dem Ergebnis, die MS als chronische Erkrankung des Zentralnervensystems sei nach der vorliegenden Datenlage eine Autoimmunerkrankung, deren Auslöser nicht eindeutig bekannt seien. Bei der Klägerin könne von einer schubförmigen, sehr langsam progredienten Verlaufsform der MS ausgegangen werden. Der Beginn der Erkrankung mit dem ersten klinischen Schubereignis und objektivierbarer zervikaler Myelitis sei auf den 16.05.1998, zwei Tage nach der dritten Hepatitis B-Impfung, zu datieren. Einen Anhalt, dass die HBV-Impfungen oder die Zusatzstoffe des Impfstoffes Auslöser der MS sein könnten, gebe es nicht. Mehrere große und nach dem Stand der Wissenschaft durchgeführte epidemiologische Studien hätten keinen Zusammenhang zwischen einer HBV-Impfung und einer MS feststellen können. Lediglich eine epidemiologische Studie, die allerdings methodische Mängel aufweise, lege diesen Verdacht nahe. Somit spreche nach geltender medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr gegen als für den angeschuldigten Zusammenhang zwischen HBV-Impfung und Entstehung einer MS. Bei der Klägerin handele es sich am ehesten um eine schicksalhafte und von der HBV-Impfung unabhängige Entstehung der MS.

 

Im seinerzeitigen Berufungsverfahren gegen das klageabweisende Urteil des SG ist zunächst auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten von PD Dr. X., Chefarzt der Klinik für Neurologie des T. Hospitals K., vom 10.12.2012 eingeholt worden. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, die aktuelle Studienlage sei für den vorliegenden Fall nicht eindeutig. In der Mehrzahl der durchgeführten Studien habe sich kein Beweis für einen Kausalzusammenhang zwischen einer Hepatitis B-Impfung und der Entstehung einer MS gefunden. Bei Betrachtung des vorliegenden Einzelfalls müsse hinsichtlich des unmittelbaren Impfzusammenhangs als Schädigungsfolge aber nicht von einer primären MS, sondern von einer isolierten Myelitis ausgegangen werden. Der Stand der medizinischen Wissenschaft für das Schädigungsbild der Myelitis hinsichtlich eines Kausalzusammenhangs mit Hepatitis B-Impfung basiere nur auf Einzelfällen, was eine grundsätzliche Aussage erschwere und unterscheide sich von der zitierten Datenlage zum Zusammenhang von Impfung und MS. Für den streitigen Kausalzusammenhang sei im vorliegenden Einzelfall die Wahrscheinlichkeit belegt. Der zeitliche Zusammenhang sei eng und durch pathophysiologische Erklärungen plausibel; alternative Ursachen seien trotz umfangreicher Untersuchungen zum fraglichen Zeitpunkt in keiner Weise zu belegen gewesen. Hierzu ist Prof. Dr. D. ergänzend gehört worden, der bei seiner Beurteilung verblieben ist, dass die Ursächlichkeit der Impfung für das Auftreten der Myelitis oder der MS nicht nachgewiesen sei.

 

Nach Einholung eines weiteren Gutachtens von Prof. Dr. C., Ärztlicher Leiter des Behandlungszentrums M. für MS-Kranke in N., hat das LSG mit Urteil vom 11.08.2015 die Berufung zurückgewiesen. Nach derzeitigem medizinisch wissenschaftlichem Erkenntnisstand gebe es keine Evidenz für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Hepatitis B-Impfungen und MS. Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete Beschwerde der Klägerin wurde vom Bundessozialgericht mit Beschluss vom 16.02.2016 als unzulässig verworfen (B 2 U 258/15 B).

 

Mit Schreiben von April 2016 wandte die Klägerin sich erneut an die Beklagte und begehrte, Feststellungen zu der bei ihr ab 16.05.1998 aufgetretenen Myelitis und deren Kausalzusammenhang zu der Impfung zu treffen. Hierzu legte sie ein von ihr privat veranlasstes fachneurologisches Gutachten von Dr. Y. vom 12.07.2016 vor, in welchem dieser die Auffassung vertritt, die Klägerin habe nach der dritten Hepatitis-B-Impfung an einer isolierten Myelitis gelitten, die hinreichend wahrscheinlich auf diese Impfung zurückzuführen sei.

 

Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 31.08.2016/Widerspruchsbescheid vom 22.02.2017 ab, den Bescheid vom 10.10.2007 zurückzunehmen und bezog sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Ergebnis des Vorprozesses. Das Ereignis vom 14.05.1998 sei zu Recht nicht als Arbeitsunfall anerkannt worden.

 

Die Klägerin hat am 28.02.2017 Klage zum SG Münster erhoben und sich zur Begründung insbesondere auf das Gutachten von Dr. Y. bezogen. Iü habe die Beklagte bereits mit dem Schreiben/Bescheid vom 11.04.2007 anerkannt, dass ein Arbeitsunfall vorliege.

 

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2019 die Klage abgewiesen, wobei es sich im Wesentlichen die Feststellungen im Vorprozess zu Eigen gemacht hat.

 

Die Klägerin hat gegen den ihr am 21.11.2019 zugestellten Gerichtsbescheid am 29.11.2019 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie zunächst rügt, dass die Vorinstanz durch Gerichtsbescheid entschieden hat. In der Sache ist sie der Auffassung, die Beklagte habe zu Unrecht über einen Überprüfungsantrag entschieden, da sie, die Klägerin, einen neuen Antrag gestellt habe. Der Arbeitsunfall sei zudem bereits mit Bescheid vom 11.04.2007 anerkannt worden. Als Gesundheitserstschaden sei eine Myelitis anzuerkennen, deren Folgeschaden die MS sei.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 18.11.2019 zu ändern und festzustellen, dass es am 14.05.1998 zu einem Arbeitsunfall gekommen ist mit einer Myelitis als Erstschaden und einer Multiplen Sklerose als Folgeschaden sowie festzustellen, dass die Umdeutung des neuen Antrags vom 23.04.2016 in einen Überprüfungsantrag unzulässig gewesen ist,

hilfsweise,

statt des zweiten Feststellungsantrages festzustellen, dass der positive Bescheid der Beklagten vom 11.04.2007 nicht hätte geändert werden dürfen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Der Senat hat ein Gutachten (nebst ergänzender Stellungnahmen) von Prof. Dr. W., Facharzt für Neurologie und klinische Pharmakologie, vom 08.08.2020 eingeholt. Dieser hat insbesondere ausgeführt, die Myelitis, an der die Klägerin im Mai/Juni 1998 gelitten habe, sei das Erstsymptom der 2000 diagnostizierten MS gewesen, an welcher die Klägerin weiterhin leide. Die Myelitis sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Hepatitis B-Impfung zurückzuführen. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand bezüglich eines Zusammenhangs zwischen einer HBV-Impfung und einer MS habe sich gegenüber den gutachterlichen Feststellungen im Vorprozess nicht wesentlich geändert. Für die Ausführungen des Sachverständigen im Übrigen wird auf das schriftliche Gutachten nebst ergänzender Stellungnahmen Bezug genommen.

 

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG ist sodann ein Gutachten von PD Dr. E. von der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin J. vom 21.07.2021 eingeholt worden. Dieser ist der Auffassung, die MS mit einer Myelitis als Erstmanifestation (erster Schub) sei durch die Impfung verursacht worden; dies schließt er im Wesentlichen aus dem zeitlichen Zusammenhang. Des Weiteren weist er auf Fallberichte aus den Jahren 1997 bis 2001 und darauf hin, dass der Hersteller eine Myelitis und eine MS als seltene Nebenwirkungen in der Fachinfo aufführe. Für die Ausführungen des Sachverständigen im Übrigen wird ebenfalls auf das schriftliche Gutachten Bezug genommen.

 

Hierzu hat Prof Dr W. unter dem 28.12.2021 dargelegt, eine Änderung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zur Kausalität sei nicht belegt.

 

Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat der Senat den Beteiligten das Grundlagenpapier der Stiko aus dem Jahr 2019 „Impfen bei Immundefizienz“, Bundesgesundheitsblatt 2019, 62, Seite 494 ff., sowie Verlautbarungen des Robert Koch Institutes vom 16.07.2020 “Stellen Autoimmunerkrankungen oder chronisch-entzündliche Erkrankungen Kontraindikationen gegen Impfungen dar? und „Was ist bei Multipler Sklerose (MS) und anderen demyelisierenden Erkrankungen in Bezug auf Impfungen zu beachten“ übersandt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten einschließlich der Vorprozessakten S 13 U 424/07, SG Münster/L 15 U 511/11, LSG NRW, und der Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Dahinstehen kann, ob das SG zu Unrecht und verfahrensfehlerhaft durch Gerichtsbescheid entschieden hat, wie die Klägerin meint. Auch wenn Verfahrensfehler vorliegen, muss nicht zwingend zurückverwiesen werden (hM, vgl ua B. Schmidt in Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, Rn. 25 zu § 105 mwN). Ein Rechtsanspruch auf die begehrte Leistung bzw Feststellung kann aus Verfahrensfehlern alleine ohnehin nicht resultieren.

 

Inhaltlich ist der angefochtene Gerichtsbescheid nicht zu beanstanden, denn der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 31.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.02.2017 ist rechtmäßig.

 

1. Für die Prüfung der anspruchsbegründenden Voraussetzungen ist es insoweit entgegen der Auffassung der Klägerin unerheblich, ob die Beklagte über einen „neuen Antrag“ hätte entscheiden müssen oder ob sie den Antrag der Klägerin zu Recht in einen Überprüfungsantrag umgedeutet hat. Da die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht antragsgebunden sind, sondern von Amts wegen erbracht werden - § 19 S 2 SGB IV -, ist die Form des Antrags nicht entscheidungserheblich. Allerdings hat die Beklagte zu Recht ein Überprüfungsverfahren eingeleitet, da der von der Klägerin begehrten Feststellung bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen sonst die Bestandskraft des Bescheides vom 10.10.2007 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.12.2007), mit dem die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 14.05.1998 als Arbeitsunfall unter Berücksichtigung sämtlicher seit 1998 auf neurologischem Fachgebiet bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen abgelehnt wurde, entgegenstünde. Da bereits die Voraussetzungen zur Feststellung eines Arbeitsunfalls nicht vorliegen, kann aber dahinstehen, ob die Rücknahme der Bescheide von 2007 unter Berücksichtigung der Norm des § 44 SGB X möglich wäre.

 

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 14.05.1998 als Arbeitsunfall.

 

Nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründeten Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Satz 2). Für einen Arbeitsunfall eines Versicherten ist es danach im Regelfall erforderlich, dass seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Bedingung für die Feststellung eines Arbeitsunfalls (vgl Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 17.02.2009 -B 2 U 18/07 R- juris Rn 9 mwN).

 

a) Die Klägerin hat nicht bereits aufgrund des Schreibens der Beklagten vom 11.04.2007 Anspruch auf Anerkennung der Impfung vom 14.05.1998 als versichertem Arbeitsunfall. Es kann dahinstehen, ob dieses Schreiben einen Verwaltungsakt iS von § 31 SGB X darstellt. Hiernach ist ein Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Eine Regelung liegt vor, wenn der Versicherungsträger eine potentiell verbindliche Rechtsfolge gesetzt hat. Dabei ist seine Erklärung unter entsprechender Anwendung der Grundsätze über die Auslegung von Willenserklärungen auszulegen. Maßgebend ist der objektive Sinngehalt der Erklärung, wie der Empfänger sie bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalls objektiv verstehen musste (Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 31 SGB X (Stand: 07.10.2021), Rn 39).

 

Da die Anerkennung eines Arbeitsunfalls die Feststellung eines Gesundheitsschadens oder des Todes des Versicherten voraussetzt, ist, auch für die Klägerin als juristische Laiin erkennbar, mit dem Schreiben gerade keine Regelung dahingehend getroffen worden, die Impfung als Arbeitsunfall iS des § 8 Abs 1 SGB VII anzuerkennen, denn ein Gesundheitsschaden wird gerade nicht festgestellt, letzteres wird von der Klägerin auch nicht in Abrede gestellt. Die Klägerin konnte auch im Hinblick auf den Ablauf des Verwaltungsverfahrens im Übrigen nicht von einer solchen Anerkennung ausgehen. Ihr war durch das Schreiben vom 21.03.2007 bekannt, dass die Beklagte eine Begutachtung durch Prof. Dr. O. veranlasst hatte, die noch nicht abgeschlossen war. Mit der Begutachtung sollte, was der Klägerin, die Medizinerin ist, klar gewesen sein muss, die Frage, ob ein Gesundheitserstschaden verursacht worden war, erst abgeklärt werden. Damit war - bei verständiger Würdigung des Sachverhalts - erkennbar, dass die Beklagte mit dem Schreiben vom 11.04.2007 noch keine Regelung iS einer Anerkennung des Arbeitsunfalls treffen konnte und wollte, da die entsprechende Abklärung noch nicht erfolgt war.

 

Im Ergebnis dahinstehen kann, ob die Beklagte, was allerdings naheliegt, mit diesem Schreiben die Voraussetzung der Verrichtung einer versicherten Tätigkeit zum Zeitpunkt der Impfung als Element eines Arbeitsunfalls anerkennen wollte, da dies für die Feststellung eines Arbeitsunfalls nach § 8 Abs 2 SGB VII nicht ausreicht.

 

b) Dahinstehen kann auch, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der Impfung gegen Hepatitis B eine versicherte Tätigkeit (zB nach § 2 Abs 1 Nr 3 SGB VII) verrichtete. Ebenso dahinstehen kann, ob die Impfung als solche noch der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist und erst eine durch die Impfung verursachte unerwünschte und unerwartete krankhafte Reaktion als zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis zu werten wäre (so Urteil des Hessischen LSG vom 28.03.2017, L 3 U 97/14 in juris, Rn 29) oder ob bereits die Impfung das zeitlich begrenzte Ereignis darstellten würde. Jedenfalls ist die Impfung keine Wirkursache für den als weitere Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls unverzichtbaren Gesundheitserstschaden. Vielmehr hat die Impfung keine Gesundheitsschäden bzw unerwünschte krankhafte Reaktionen verursacht.

 

Das Vorliegen eines Gesundheitserstschadens bzw eines Gesundheitsfolgeschadens (Unfallfolgen) muss im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen. Dagegen genügt für den Nachweis der (wesentlichen) Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserst- bzw -folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings nur die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R - juris Rn 16). Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheits(erst)schaden sowie für die Kausalität zwischen Gesundheits(erst)schaden und weiteren Gesundheitsschäden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung.

 

Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus. Es ist daher in einem ersten Schritt zu klären, ob der Gesundheitsschaden auch ohne das Unfallereignis eingetreten wäre. Ist dies der Fall, war das Unfallereignis für den Gesundheitsschaden schon aus diesem Grund nicht ursächlich. Wirkursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. Ob die versicherte Verrichtung eine Wirkursache in diesem Sinne war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht (ex post) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen beantwortet werden (grundlegend BSG, Urteil vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R – juris Rn. 55 ff; BSG, Urteil vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R – juris Rn. 31 ff.). Ein Gesundheitsschaden ist Wirkung der festgestellten Einwirkung, wenn zwischen der Einwirkung auf den Körper und einer Gesundheitsstörung ein Wirkungszusammenhang nach dem aktuellen Stand des anerkannten medizinischen Erfahrungswissens vorliegt (BSG, Urteil vom 24.07.2012 a. a. O.).

 

Kann das Unfallereignis nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Gesundheitsschaden entfiele (conditio sine qua non), ist in einem zweiten, wertenden Schritt zu prüfen, ob das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Als rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet werden.

 

Die Impfung der Klägerin gegen Hepatitis B hat weder eine Myelitis noch eine MS oder einen anderen Gesundheitsschaden erstmals verursacht oder wesentlich verschlimmert. Zur Begründung nimmt der Senat zunächst auf das Urteil des 15. Senats vom 11.08.2015 im Vorprozess Bezug und macht sich dessen Feststellungen zum Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und der bei der Klägerin bestehenden MS zu Eigen. Hiernach gibt es jedenfalls weder allgemein, noch im konkreten Fall der Klägerin, eine Evidenz für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Hepatitis-B-Impfungen mit dem hier verwendeten Vakzin und MS. Nach geltender medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung lässt sich, wie bereits der im Vorprozess gehörte Sachverständige Prof. Dr. D., dessen Darlegungen urkundsbeweislich zu verwerten sind, ausgeführt hat, der angeschuldigte Zusammenhang nicht mit Wahrscheinlichkeit feststellen. An diesem wissenschaftlichen Erkenntnisstand hat sich auch nichts geändert. Dies folgt insbesondere aus den Feststellungen des vom Senat gehörten Sachverständigen Prof. Dr. W.. Auch nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft lässt sich ein anerkannter Erfahrungssatz, dass MS durch Hepatitis B-Impfungen verursacht werden kann, nicht feststellen.

 

Soweit der nach § 109 SGG gehörte Sachverständige PD Dr. E. zu einem anderen Ergebnis gelangt ist, kann ihm nicht gefolgt werden. Dieser bezieht sich für den wissenschaftlichen Erkenntnisstand lediglich auf einzelne, noch dazu veraltete, Fallberichte, das Verhalten der französischen Gesundheitsbehörden zur dortigen Impfkampagne und die Fachinformation des Herstellers. Der herrschende wissenschaftliche Erkenntnisstand wird hierdurch jedoch nicht abgebildet. Die Fallberichte sind als nicht evidenzbasiert hierfür ohnehin nicht geeignet, zudem sind sie veraltet. Ebenso sind Einschätzungen französischer Stellen in der Vergangenheit irrelevant. Die Fachinfo des Herstellers schließlich dient anderen Zwecken und belegt allenfalls, dass dort aufgeführte Nebenwirkungen – ggf, wie beim vorliegend verwendeten Vakzin, sehr selten – nach bestimmungsgemäßem Gebrauch in zeitlichem Zusammenhang beobachtet wurden - § 11a Abs 1 S 3 Arzneimittelgesetz -. Jedenfalls kann hiermit nach den Ausführungen von Prof. Dr. W. in dessen Stellungnahme vom 28.12.2021 keine aktuelle Änderung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zur Kausalität belegt werden.

 

Dies bestätigen auch die -den Beteiligten übersandten- Einschätzungen sowohl des Robert-Koch-Institutes (RKI) als auch der Stiko. Danach gibt es nach dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand keine Hinweise für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Hepatitis-B-Impfung und der Auslösung einer MS (vgl hierzu auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 05. November 2020 – L 10 VE 46/17 –, Rn 31f, juris). So heißt es zB in Hinweisen des RKI vom 16.07.2020: „In systematischen Studien und Übersichtsarbeiten konnten aber weder Zusammenhänge zwischen Impfungen (zB gegen Hepatitis B, Influenza, Tetanus) und einer Erkrankung an MS noch mit einer Schubauslösung bei bereits diagnostizierter MS beobachtet werden“ (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/AllgFr_Grunderkrankungen/FAQ04.html). Die Stiko empfiehlt in ihren Anwendungshinweisen aus dem Jahr 2019 „Impfen bei Immundefizienz“ die Hepatitis B Impfung ausdrücklich auch Personen mit Autoimmunerkrankungen und weist darauf hin, dass keine Studien existieren, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Hepatitis-Impfung und einer neu aufgetretenen Autoimmunkrankheit bzw chronisch-entzündlichen Erkrankung oder einem Schub einer solchen bereits bestehenden Erkrankung belegen.

 

Auch iü überzeugt die Wertung von PD Dr. E., die MS sei hinreichend wahrscheinlich durch die Impfungen bzw die letzte Impfung gegen Hepatitis B verursacht worden, nicht. Sie steht zum einen, wie bereits dargelegt, nicht in Übereinstimmung mit dem herrschenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Zum anderen stützt der Sachverständige sich im Wesentlichen auf den bloßen zeitlichen Zusammenhang. Soweit der Sachverständige auf die Bedeutung der bei der Klägerin festgestellten hohen Hep-B-Antikörper-Titer hinweist, kommt diesen nach den schlüssigen Darlegungen von Prof. Dr. W. in dessen Stellungnahme zum Gutachten von PD Dr. E. keine Relevanz für die Bewertung des Kausalzusammenhangs zu. Insoweit stellt Prof. Dr. W. bereits in seiner Stellungnahme vom 10.01.2021 nachvollziehbar dar, dass der Titer lediglich für die Bewertung der Notwendigkeit einer Nachimpfung bzw der Effektivität des Impfschutzes von Bedeutung ist, nicht aber für die Frage der Kausalität.

 

Für eine Kausalität spricht entgegen der Auffassung der Klägerin iü auch nicht die Tatsache, dass andere Ursachen für die bei ihr diagnostizierte MS nicht feststellbar sind. Wie bereits Prof. Dr. D. – unbestritten – feststellte, sind die Auslöser der MS, wie bei vielen Autoimmunerkrankungen, nicht eindeutig bekannt. Dies gilt eben auch im Fall der Klägerin. Zudem kann die Kausalität nicht dadurch bewiesen werden, dass eine Alternativursache nicht nachweisbar ist.

 

Soweit die Klägerin ihre Argumentation im Wesentlichen darauf stützt, die vorliegenden wissenschaftlichen Evidenzen träfen lediglich auf die Verursachung einer MS, nicht aber einer isolierten Myelitis zu, kann dahinstehen, ob dies zutreffend ist. Die Klägerin litt nämlich nie an einer solchen isolierten, von der MS unabhängigen, Myelitis. Vielmehr war nach den Feststellungen der meisten der vorliegend und im Vorprozess gehörten Sachverständigen, insbesondere Prof. Dr. D. und Prof. Dr. W., die 1998 diagnostizierte Myelitis der erste Schub der MS. Selbst PD Dr. E. führt auf Seite 11 seines Gutachtens aus, die zervikale Myelitis der Klägerin sei der erste Schub der MS gewesen. Das Vorliegen der MS war 1998 lediglich noch nicht bekannt, was nach den Ausführungen der Sachverständigen jedoch nicht bedeutet, dass die Erkrankung noch nicht vorlag. Soweit der im Vorprozess nach § 109 SGG gehörte Sachverständige PD Dr X., dessen Darlegungen urkundsbeweislich zu verwerten sind, von einer isolierten Myelitis ausgegangen ist, kann dem im Hinblick auf das Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen nicht gefolgt werden; entsprechendes gilt für das Privatgutachten von Dr. Y.. Auch die behandelnden Ärzte sind 2000 vom zweiten Schub der MS bei Erstschub 1998 ausgegangen.

 

Damit hat die Beklagte es zu Recht abgelehnt, die Hepatitis-B-Impfung vom 14.05.1998 mangels hierauf zurückführbaren Gesundheitserstschadens als Arbeitsunfall anzuerkennen.

 

3. Soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, dass die Umdeutung des neuen Antrags vom 23.04.2016 in einen Überprüfungsantrag unzulässig gewesen ist, ist dieser Antrag unzulässig. Zwar kann nach der - allein in Betracht kommenden - Vorschrift des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Nicht zulässig ist jedoch eine sog Elementenfeststellungsklage wegen einzelner Elemente eines Rechtsverhältnisses, zB Vorfragen, Rechtsfragen, etc (Keller in Meyer-Ladewig, aaO, Rn 9 zu § 55 mwN). Bei der Frage der Zulässigkeit der Umdeutung eines Antrags handelt es sich um eine solche Vorfrage, hier dazu, ob § 44 SGB X zu prüfen ist. Dementsprechend ist bereits im Rahmen der Sachprüfung des Hauptantrags der Klägerin hierauf eingegangen worden.

 

Entsprechendes gilt für den ebenfalls unzulässigen Hilfsantrag der Klägerin darauf, dass der positive Bescheid der Beklagten vom 11.04.2007 nicht hätte geändert werden dürfen.

 

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 SGG).

 

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Aus
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