L 7 AS 3328/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 19 AS 3384/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 3328/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Stellt die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit fest, kann eine Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit als Voraussetzung für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht mehr bestätigt werden.

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. September 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Mai 2019 bis 30. Juni 2019, insbesondere während der Dauer einer Sperrzeit nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), streitig.

Die 1987 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Im Mai 2016 reiste sie in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Seit 1. Februar 2017 bewohnt die Klägerin eine Wohnung zu Mietkosten in Höhe von 350,00 EUR.

Ab 23. Mai 2016 war die Klägerin bei der K1 H1 AG als Servicehilfskraft im Rahmen eines bis zum 31. Dezember 2016 befristeten Arbeitsverhältnisses versicherungspflichtig beschäftigt. Die Klägerin beendete das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2016. Am 12. Juli 2016 beantragte sie erstmals Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Beklagten. Als Begründung für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gab die Klägerin an, sie habe keinen Lohn erhalten. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2016 ab, weil die Klägerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche habe. Einen von der Klägerin unter Verweis auf das geführte arbeitsgerichtliche Verfahren gestellten Überprüfungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Oktober 2017 und Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2018 ab, weil die Klägerin kein Daueraufenthaltsrecht habe und einen Arbeitnehmerstatus durch die eigene Kündigung und die kurze Beschäftigungszeit noch nicht erlangt habe. Infolge des im anschließend geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Stuttgart (SG) erklärten Teilanerkenntnisses zahlte der Beklagte an der Klägerin den Regelsatz sowie den Beitrag zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung für den Monat Juli 2016.

Nachdem die Klägerin ab 5. September 2016 als Verkäuferin versicherungspflichtig beschäftigt war und das Arbeitsverhältnis zum 30. April 2019 ordentlich gekündigt hatte, stellte die Bundesagentur für Arbeit mit Bescheid vom 25. April 2019 einen Arbeitslosengeldanspruch ab 1. April 2019 für die Dauer von 360 Tagen und das Ruhen des Anspruchs wegen Urlaubsabgeltung vom 1. April 2019 bis 8. April 2019 sowie wegen des Eintritts einer Sperrzeit von zwölf Wochen bei Arbeitsaufgabe nach § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III vom 1. April 2019 bis 23. Juni 2019 fest und bewilligte Arbeitslosengeld vom 24. Juni 2019 bis 23. März 2020.

Am 24. Mai 2019 beantragte die Klägerin erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Beklagten. Zur Begründung gab sie an, sie sei gerade arbeitslos und warte auf eine Maßnahme wegen Ausbildung.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2019 lehnte der Beklagte den Antrag ab, weil die Klägerin wegen des in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zweck der Arbeitsuche bestehenden Aufenthaltsrechts keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II habe.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein, machte einen Verstoß gegen die Begründungspflicht des Bescheides und – unter Berufung auf § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) – das Bestehen eines nicht von Leistungsausschlüssen umfassten Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer geltend.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 2019 wies der Beklagte den Widerspruch zurück, weil eine unfreiwillige, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit nicht vorliege und die Klägerin aufgrund ihrer Kündigung zum 31. März 2019 keine Arbeitnehmerin und auch nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU mehr sei.

Am 1. August 2019 hat die Klägerin Klage zum SG erhoben. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich deshalb nicht nur aus dem Zweck der Arbeitsuche, weil sie bereits seit mehreren Jahren als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen sei und sie für die Zeit ab 1. April 2019 einen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III, unterbrochen von einer zwölfwöchigen Sperrzeit nach § 159 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB III, habe. Für die Zeit bis zur Aufnahme einer erneuten Beschäftigung ergebe sich bei gleichzeitigem Arbeitslosengeldbezug ihr Aufenthaltsrecht damit nicht allein aus dem Umstand der Arbeitsuche.

Mit Urteil vom 28. September 2021 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2019 verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II für den Monat Mai 2019 in Höhe von 656,55 EUR und für den Monat Juni 2019 in Höhe von 535,83 EUR zu zahlen.
Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Klägerin sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen. Es schließe sich den Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg im Beschluss vom 27. Oktober 2015 – L 20 AS 2197/15 B-ER an. Die weitere „Arbeitnehmereigenschaft“ der Klägerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ergebe sich daher bereits daraus, dass sie Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung auf Arbeitslosengeld erworben habe und diese im Inland in Anspruch nehme.

Gegen das ihm am 15. Oktober 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 27. Oktober 2021 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt.
Die Arbeitslosigkeit der Klägerin sei als nicht unfreiwillig einzuordnen, da das Arbeitsverhältnis zum 31. März 2019 freiwillig gekündigt worden sei und die Agentur für Arbeit im Hinblick auf den Arbeitslosengeldanspruch eine Sperrzeit verhängt habe. Die Klägerin habe daher gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 3 FreizügG/EU keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. September 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 27. Oktober 2022 einen Erörterungstermin durchgeführt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Beklagten hat Erfolg.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 143 SGG), weil der Wert des Beschwerdegegenstands 750,00 EUR übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 4. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2019 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, der Klägerin auf ihren Antrag vom 24. Mai 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren, weil sie wegen des ausschließlich bestehenden Aufenthaltsrechts zum Zweck der Arbeitsuche von Leistungen ausgeschlossen sei. Dagegen hat sich die Klägerin statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) gerichtet und die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Mai 2019 bis 30. Juni 2019 geltend gemacht. Gegen die entsprechende Verurteilung wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung.

Die Berufung ist begründet. Der Bescheid vom 4. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Rechtsgrundlage für die geltend gemachten Leistungen nach dem SGB II sind §§ 7 ff., 19 ff. SGB II in der Fassung vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I, 3155).

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die
das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
erwerbsfähig sind,
hilfebedürftig sind und
ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind ausgenommen,
Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
Ausländerinnen und Ausländer,
die kein Aufenthaltsrecht haben,
deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder
die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen,
Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde (§ 7 Abs. 2 Satz 4 SGB II). Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

Zwar erfüllt die Klägerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, da sie sich im streitigen Zeitraum im 33. Lebensjahr befand, erwerbsfähig im Sinne von § 8 SGB II war, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte und ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern konnte, mithin hilfebedürftig (§ 9 Abs. 1 SGB II) war.

Jedoch war die Klägerin nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sie sich nicht auf eine nachwirkende Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU und damit nur auf ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche berufen kann.

Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten, unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bleibt für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU). Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU während der Dauer von sechs Monaten unberührt (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU).

Der Begriff des Arbeitnehmers ist unionsrechtlich zu bestimmen. Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. zuletzt zusammenfassend Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 25/20 R – juris Rdnr. 19 m.w.N.). Die Klägerin war sozialversicherungspflichtig als Verkäuferin und damit als Arbeitnehmerin zuletzt ununterbrochen für die Dauer von mehr als zweieinhalb Jahren beschäftigt.

Das für die Klägerin während der Dauer dieser Beschäftigung bestehende Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist mit der Beendigung der Beschäftigung durch die Kündigung zum 30. April 2019 durch die Klägerin jedenfalls zu diesem Zeitpunkt beendet gewesen. Eine Fortwirkung des Freizügigkeitsrechts als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU nicht eingetreten, weil eine unfreiwillige, durch die Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit ab 1. Mai 2019 nicht vorlag. Von der Agentur für Arbeit wurde eine Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit der Klägerin nicht bestätigt und konnte angesichts des festgestellten Eintritts einer Sperrzeit auch nicht bestätigt werden. Vielmehr indiziert die Feststellung des Sperrzeiteneintritts wegen Arbeitsaufgabe durch die Agentur für Arbeit, dass die Klägerin freiwillig arbeitslos geworden ist.

Eine Bestätigung der zuständigen Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ist nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU grundsätzlich Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts (BSG, Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – SozR 4‑4200 § 7 Nr. 54 Rdnr. 34 m.w.N.; BSG, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R –
SozR 4-4200 § 7 Nr. 62 Rdnr. 27); die Arbeitslosigkeit des Arbeitnehmers muss auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruhen (vgl. Europäischer Gerichtshof [EuGH], Urteil vom 20. Dezember 2017 – C 442/16 – Gusa, SozR 4-6060 Art 7 Nr. 2 Rdnr. 31). Auf eine Bestätigung kann selbst in Fällen des Auslaufens einer Befristung nicht von vornherein verzichtet werden (vgl. EuGH, Urteil vom 6. November 2003 – C‑413/01 – Ninni‑Orasche, juris Rdnr. 42 ff).

Abweichend von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU schreibt Art. 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EU lediglich vor, dass sich der Arbeitnehmer „bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung“ stellt, verlangt also nicht eine Bestätigung der Agentur für Arbeit. Dies entspricht auch weiteren Sprachfassungen des Art. 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EU, die zur Auslegung des nationalen Rechts heranzuziehen sind (vgl. nur EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 – C‑442/16 – SozR 4-6060 Art. 7 Nr. 2 Rdnr. 34 m.w.N.), und in denen auf die Einschreibung/Meldung bei der zuständigen Arbeits(losen)behörde als arbeitsuchende Person abgestellt wird.

Die von Art. 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EU abweichende Formulierung im nationalen Recht des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU trägt mit der ausdrücklichen Benennung der Agentur für Arbeit und der von ihr verlangten Bestätigung der „Besonderheit“ des deutschen Systems sozialer Sicherheit bei Arbeitslosigkeit Rechnung, in welchem – abhängig von der Dauer der Beschäftigung vor Eintritt der Arbeitslosigkeit – im Grundsatz entweder die Agentur für Arbeit oder ein Jobcenter zuständig für die Gewährung von (existenzsichernden) Leistungen bei Arbeitslosigkeit sein kann. Da Arbeitslosengeld II aber (anders als Arbeitslosengeld nach dem SGB III) ohne Rücksicht darauf gezahlt wird, warum Arbeitslosigkeit eingetreten ist (vgl. § 31 SGB II einerseits, § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III andererseits), ist die Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit nach Maßgabe der nationalen Systemstruktur der Agentur für Arbeit zugewiesen worden (vgl. zu diesem Verständnis auch die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II Ziff. 1.4.4.2 Abs. 5; BSG, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 62 Rdnr. 29).

Ausnahmsweise kann auf eine Bestätigung der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit durch die Bundesagentur für Arbeit verzichtet werden, wenn der ehemalige Arbeitnehmer infolge der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld nach dem SGB III diese Leistung im Anschluss an die letzte Beschäftigung bezogen hat und von der zuständigen Agentur für Arbeit nicht der Eintritt einer Sperrzeit festgestellt worden ist, da dann die von § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU gewollte Einbindung der Agentur für Arbeit bereits erfolgt ist. Da im nationalen Recht, insbesondere im SGB III, keine eigenständigen Kriterien für die Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Rahmen des Freizügigkeitsrechts normiert sind, hat sich die Agentur für Arbeit dabei an den Kriterien für den Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III bzw. dem Eintritt einer Sperrzeit zu orientieren (vgl. §§ 137 ff SGB III, § 159 SGB III). Diesen systematischen Überlegungen entsprechend regelt auch die Verwaltungsvorschrift zu § 2 Abs. 3 FreizügG/EU (Ziff. 2.3.1.2), dass das „unfreiwillige Eintreten von Arbeitslosigkeit … dann vorliegt, wenn der Arbeitnehmer die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Kündigung, Aufhebungsvertrag) geführt haben, nicht zu vertreten hat. Die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ist Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts. Die Bestätigung erfolgt, wenn der Arbeitnehmer sich arbeitslos meldet, den Vermittlungsbemühungen der zuständigen Arbeitsagentur zur Verfügung steht und sich selbst bemüht, seine Arbeitslosigkeit zu beenden (§ 138 SGB III).“

Damit kann im umgekehrten Fall, wenn – wie hier – von der Bundesagentur für Arbeit der Eintritt einer Sperrzeit festgestellt wurde und Arbeitslosengeld insoweit nicht gezahlt wird, von dieser auch nicht eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit bestätigt werden.

Mangels eines fortwirkenden Freizügigkeitsrechts als Arbeitnehmer konnte sich die Klägerin im streitigen Zeitraum lediglich auf ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU berufen und war demnach von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen.

Da die Klägerin existenzsichernde Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) für den streitigen Zeitraum nicht geltend macht, ergab sich keine Notwendigkeit für die Beiladung des zuständigen Sozialhilfeträgers. Nachdem die Klägerin im maßgeblichen Zeitraum von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII wegen ihres allein zum Zweck der Arbeitsuche bestehenden Aufenthaltsrechts ebenfalls ausgeschlossen ist (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) und Überbrückungs- und Härtefallleistungen nach § 23 Abs. 3 Sätze 3, 5 und 6 SGB XII zumindest einen bei der Klägerin angesichts des von ihr erklärten Willens, eine Ausbildung aufzunehmen, ersichtlich nicht vorliegenden Ausreisewillen voraussetzen (Senatsurteil vom 28. Juli 2022 – L 7 AS 4029/19 – n.v.), kommen Leistungen nach dem SGB XII auch nicht in Betracht.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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