L 12 AS 1820/22 B ER, L 12 AS 1825/22 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 2164/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 1820/22 B ER, L 12 AS 1825/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 21.12.2022 geändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21.11.2022 angeordnet. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller für den Zeitraum von Oktober 2022 bis Januar 2023 einstweilen einen Gesamtbetrag in Höhe von 3.701,36 Euro auszuzahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

 

Gründe:

 

I.

Die Beteiligten streiten um die Einstellung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum von Oktober 2022 bis Februar 2023.

 

Der am 00.00.1968 geborene Antragsteller erhält als Alleinstehender von der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II. Auf einen Weiterbewilligungsantrag vom 04.02.2022 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 02.03.2022 Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs und der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 01.03.2022 bis zum 28.02.2023 in Höhe von 1.113,09 Euro für den März 2022 und in Höhe von jeweils 924,34 Euro monatlich für den Zeitraum von April 2022 bis Februar 2023. Von den tatsächlichen Aufwendungen für Grundmiete und Nebenkosten (661,24 Euro) übernahm die Antragsgegnerin die aus ihrer Sicht angemessenen Aufwendungen (601,25 Euro). Der Bescheid enthielt unter anderem den Hinweis, dass der Antragsteller nach den §§ 60 ff. Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) die Pflicht habe, alle Änderungen in den persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, die für die Leistung erheblich seien, unverzüglich und unaufgefordert mitzuteilen. Bei einer Verletzung dieser Pflichten müsse mit einer Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen gerechnet werden.

 

In einem Schreiben vom 12.10.2022 führte die Antragsgegnerin aus, dass ohne vollständige Unterlagen nicht festgestellt werden könne, ob und inwieweit ein Anspruch auf Leistungen für den Antragsteller und die mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen bestehe. Folgende Unterlagen/Angaben würden noch benötigt und sollten bis zum 26.10.2022 eingereicht werden: Heizkostenabrechnung 2021 in Kopie; Betriebskostenabrechnung 2021 in Kopie; Stellungnahme, wer sich aktuell in der Wohnung aufhalte, weil in der Heiz- und Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2020 der Antragsteller und Frau D. M. hinterlegt seien; Stellungnahme, wie der Antragsteller die Differenz zwischen der tatsächlichen und der von der Antragsgegnerin anerkannten Miete aufbringe; Kopie der Kontoauszüge für den Zeitraum von Juli bis September 2022, auf denen die Mietzahlung ersichtlich sei; Vorlage einer Mietbescheinigung, die bereits am 09.02.2022 angefordert worden sei. Für den Bezug von Leistungen sei es erforderlich, dass der Antragsteller alle Tatsachen angebe, die für seinen Leistungsanspruch entscheidend seien, und die notwendigen Nachweise vorlege oder ihrer Vorlage zustimme (§ 60 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGB I). Habe der Antragsteller bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die oben genannten Unterlagen nicht bzw. nicht vollständig eingereicht, könnten die Geldleistungen ganz oder teilweise entzogen werden, bis der Antragsteller die Mitwirkung nachhole (§§ 60, 66, 67 SGB I). Dies bedeute, dass der Antragsteller und die mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen keine oder geringere Leistungen erhielten.

 

Aus einem internen Ermittlungsauftrag der Antragsgegnerin vom 12.10.2022 ergibt sich, dass sie einen anonymen Hinweis erhalten habe, wonach sich der Antragsteller aktuell nicht in der Wohnung aufhalte. Mietbescheinigung und weitere Dokumente seien angefordert worden. Der Antragsteller wirke nicht mit. Des Weiteren sei aufgefallen, dass die Heiz- und Betriebskostenabrechnung an den Antragsteller und Frau D. M. adressiert sei, obwohl diese laut ihren Unterlagen seit 2014 nicht mehr dort gemeldet sei.

 

Daraufhin hat der Ermittlungsdienst der Antragsgegnerin am 18., 24. und 25.10.2022 vergeblich versucht, den Antragsteller zu Hause anzutreffen. Klingel und Briefkasten seien mit dem Namen beschriftet.

 

Mit einem Schreiben vom 18.10.2022 reichte der Antragsteller die erbetenen Kontoauszüge sowie die Heiz- und Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2021 ein, in der neben dem Antragsteller Frau DM. aufgeführt ist.

 

In einem weiteren Schreiben vom 27.10.2022 erinnerte die Antragsgegnerin den Antragsteller an seine Mitwirkungspflicht. Es werde eine letzte Frist bis zum 10.11.2022 gesetzt, um folgende Unterlagen vorzulegen: Stellungnahme, wer sich aktuell in der Wohnung aufhalte, weil in der Heiz- und Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2020 der Antragsteller und Frau D. M. hinterlegt seien; Stellungnahme, wie der Antragsteller die Differenz zwischen der tatsächlichen und der von der Antragsgegnerin anerkannten Miete aufbringe und Vorlage einer Mietbescheinigung. Habe der Antragsteller bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die oben genannten Unterlagen nicht bzw. nicht vollständig eingereicht, könnten die Geldleistungen ganz oder teilweise entzogen werden, bis der Antragsteller die Mitwirkung nachhole (§§ 60, 66, 67 SGB I). Dies bedeute, dass der Antragsteller und die mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen keine oder geringere Leistungen erhielten.

 

In einem Bescheid vom 21.11.2022 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass sie den Bescheid vom 02.03.2022 mit Wirkung vom 01.10.2022 aufhebe. Grund für die Aufhebung sei der Umstand, dass der Antragsteller die zuletzt mit Schreiben vom 27.10.2022 angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt habe. Es könne aktuell nicht nachvollzogen werden, ob und wer sich alles in der Wohnung aufhalte. Leistungsrelevante Unterlagen, die dazu dienten, den Sachverhalt aufzuklären, seien mehrfach nicht eingereicht worden. Diese Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 SGB II und § 48 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X).

 

Dagegen legte der Antragsteller am 24.11.2022 Widerspruch ein. Er habe die erforderliche Mitwirkungshandlung erbracht. Er wohne seit 2016 allein in der Wohnung. Auf den Abrechnungen stehe schon immer Frau M., seine Ex-Frau, die bereits seit 2016 ausgezogen sei und sich durchgängig seit über zehn Jahren bei der Antragsgegnerin im Leistungsbezug befinde und unter anderer Adresse – aktenkundig – mit den Kindern gemeldet sei. Wenn die Ex-Frau (mit den Kindern) in der Wohnung leben würde, wären die Wohnkosten gar nicht unangemessen. Es werde um Mitteilung gebeten, wofür die Mietbescheinigung aktuell unerlässlich sein solle. Es habe sich nichts im Vergleich zu den Vorjahren geändert, außer, dass die Sachbearbeitung hier aus unerklärlichen Gründen Probleme mache. Sein Nachbar, der Amtsleiter der Stadt R. für Soziales und Wohnen sei, könne der Antragsgegnerin bestätigen, dass er unverändert allein in der Wohnung lebe. Aus den Kontoauszügen mit den Mietzahlungen und anhand der Betriebs- und Heizkostenabrechnungen der letzten beiden Jahre seien die Quadratmeterzahl und Anzahl der Bewohner (1) sowie die Kosten/ Vorauszahlungen ersichtlich.

 

Am 14.12.2022 hat der Antragsteller über seine Prozessbevollmächtigten beim Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) um einstweiligen Rechtsschutz ersucht und einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt, ohne die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Antragstellers und entsprechende Anlagen einzureichen. Der Schriftsatz vom 14.12.2022 war mit „Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung“ überschrieben. Zur Begründung hat der Antragsteller im Wesentlichen den Inhalt seiner Widerspruchsbegründung wiederholt. Ergänzend hat er ausgeführt, dass auf Grundlage von nicht bewiesenen Behauptungen keine Leistungseinstellung gerechtfertigt sei. Er sei mittellos. Er könne keine Darlehen aufnehmen. Wegen der ausstehenden Miete habe der Vermieter bereits telefonisch die fristlose Kündigung angedroht.

 

Der Antragsteller hat wörtlich beantragt,

           

die Antragsgegnerin zum Geschäftszeichen N01 zu verpflichten, im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes dem Antragsteller darlehensweise Leistungen in Höhe von 924,34 Euro monatlich bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu gewähren.

           

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

 

den Antrag abzulehnen.

 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei nicht statthaft.

 

In einem Schreiben vom 15.12.2022 hat das SG den Antragteller darauf hingewiesen, dass statthafter Rechtsbehelf hinsichtlich der Aufhebungsentscheidung allein der Anfechtungswiderspruch sei. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei in solchen Fällen nicht zulässig. Es bestehe Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Tagen.

 

In einem Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 20.12.2022 hat der Antragsteller ausgeführt, dass Anträge sachgerecht auszulegen seien. Er begehre Leistungen seitens der Antragsgegnerin. Er erhalte keine Leistungen trotz Leistungsbescheides und Widerspruchs gegen die Aufhebungsentscheidung. Widerspruch und Anfechtungsklage entfalteten keine aufschiebende Wirkung. Die Antragsgegnerin könne sich bis zur rechtskräftigen Entscheidung darauf berufen und die Leistung verweigern. Soweit das Gericht den Antrag nicht als sachdienlich erachte, müsse er nach dem Willen des Antragstellers ausgelegt werden. Dies wäre dann wahrscheinlich ein Antrag gerichtet auf die Wiederherstellung einer aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs.  

 

Das SG hat mit Beschluss vom 21.12.2022 den „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung“ und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Das Gericht habe den Inhalt des Antrags des Antragstellers zwar nach Maßgabe des § 123 SGG und des Rechtsgedankens von § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sowie nach dem erkennbaren Gegenstand des Eilrechtsschutzbegehrens (§ 92 Abs. 1 S. 1 SGG) durch Auslegung zu ermitteln. Im Zweifel werde der Rechtsschutzsuchende den Antrag stellen wollen, der ihm am besten zum Ziel verhelfe (sog. Meistbegünstigungsprinzip). Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei der Antrag des Antragstellers als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG zu verstehen. Im Hinblick auf die Antragsschrift des anwaltlich vertretenen Antragstellers vom 14.12.2022 verbleibe angesichts der Überschrift dieses Schriftsatzes und des wörtlichen Antrags für eine abweichende Auslegung kein Raum. Entgegenstehendes ergebe sich auch nicht aus der Antragsbegründung. Der Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG sei jedoch nicht statthaft. Im Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 20.12.2022 komme das Begehren zum Ausdruck, das Gericht möge den Antrag so auslegen, dass er zulässig sei, und demgemäß dann entweder eine einstweilige Anordnung treffen oder „wahrscheinlich“ die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs herstellen. Es solle also entweder über das eine oder das andere entschieden werden. In der Sache handele es sich damit um eine alternative Antragshäufung, welche infolge ihrer Unbestimmtheit unzulässig sei. Eine Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in ein zulässiges komme bei rechtskundiger Vertretung grundsätzlich und so auch hier mangels dem Grundsatz entgegenstehender Anhaltspunkte nicht in Betracht.

 

Gegen den Beschluss hat der Antragsteller am 23.12.2022 „Rechtsmittel“ eingelegt, ohne einen Antrag zu formulieren. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend führt er aus, dass der Beschluss des SG richtig wäre, wenn er nach § 60 Abs. 1 SGB I ergangen wäre. Dann würde der Widerspruch ggf. aufschiebende Wirkung entfalten. Die Antragsgegnerin habe aber den Bescheid nach § 48 SGB X erlassen und stütze sich darauf, dass dieser keine aufschiebende Wirkung entfalte. Das Gericht wiederum gehe von der aufschiebenden Wirkung aus und setze voraus, dass ab Widerspruchserhebung ein Leistungsanspruch bestehe. Im Ergebnis bekomme er keine Leistungen wegen fehlender aufschiebender Wirkung. Er bekomme in allen Situationen keine Leistungen. Der Bescheid sei offenkundig rechtswidrig.

 

Die Antragsgegnerin beantragt,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Die Antragsgegnerin meint, dass der Beschluss des SG rechtmäßig sei.

 

Der Senat hat die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, er gehe davon aus, dass der Antragsteller einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 21.11.2022 gestellt habe. Sie werde um Stellungnahme gebeten, worin die wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X liegen und welcher der Nummern des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X für eine rückwirkende Aufhebung vorliegen solle. Die Antragsgegnerin hat daraufhin mitgeteilt, dass eine Umdeutung des Bescheides vom 21.11.2022 für die Zukunft möglich sei. Für eine Rücknahme lägen die Voraussetzungen in jedem Fall vor. Die angeforderten Unterlagen seien nicht in vollem Umfang eingereicht worden. Die vollständige Aufklärung der Lebenssituation sei bislang auch nicht erfolgt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten im Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

 

II.

 

Die Beschwerde hat teilweise Erfolg.

 

1. Auch wenn der anwaltlich vertretene Antragsteller im Beschwerdeverfahren keinen Antrag formuliert und das Wort „Beschwerde“ nicht verwendet hat, geht der Senat im wohlverstandenen Sinne des Antragstellers davon aus, dass er sich mit der Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 21.12.2022 wendet, soweit sein Antrag im Eilrechtsschutz und Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Verfahrens abgelehnt worden sind. Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens selbst hat der Antragsteller demgegenüber nicht beantragt.

 

Entgegen der Ansicht des SG hat der Antragsteller – wenn auch nur sinngemäß – einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid vom 21.11.2022 nach § 86 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG gestellt und diesen mit einem (konkludenten) „Annexantrag“ auf Aufhebung der Vollziehung nach § 86 Abs. 1 S. 2 SGG verbunden. Für die Annahme, er habe (alternativ auch) den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG begehrt, besteht kein Raum. Das Gericht entscheidet über die vom Antragsteller erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (§ 123 SGG). Die Bindung des Gerichts bezieht sich auf den erhobenen Anspruch, also das Antragsbegehren, nicht auf die Fassung der Anträge. Wenn der Antrag nicht hinreichend bestimmt ist, muss das Gericht mit dem Antragsteller klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 S. 2 SGG). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 14.06.2018, B 9 SB 2/16 R, Rn. 12, juris). Dabei geht das Gericht von dem aus, was der Antragsteller mit dem Antrag erreichen möchte (vgl. BSG Urteil vom 06.04.2011, B 4 AS 119/10 R, Rn. 29, juris). Im Zweifel wird dieser den Antrag stellen wollen, der ihm am besten zum Ziel verhilft (sog. Meistbegünstigungsprinzip, vgl. etwa BSG Urteile vom 14.06.2018, B 9 SB 2/16 R, Rn. 12, juris; und vom 13.12.2018, B 10 ÜG 4/16 R, Rn. 17, juris; BSG Beschluss vom 06.12.2018, B 8 SO 38/18 B, Rn. 6, juris). Bei einem von einem Rechtsanwalt oder einem anderen qualifizierten Prozessbevollmächtigten gestellten Antrag ist in der Regel anzunehmen, dass dieser das Gewollte richtig wiedergibt (BSG Beschluss vom 05.06.2014, B 10 ÜG 29/13 B, Rn. 12, juris). Andererseits schließt nicht allein der Umstand einer anwaltlichen Vertretung eine an § 133 BGB orientierte Auslegung des Begehrens aus (BSG Beschluss vom 09.01.2019, B 13 R 25/18 B, Rn. 10 m.w.N., juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 123, Rn. 3). Gemessen an diesen Maßstäben hat der Antragsteller bereits gegenüber dem SG hinlänglich zum Ausdruck gebracht, dass es ihm um die Weiterbewilligung der bereits mit Bescheid vom 02.03.2022 bewilligten Leistungen ab dem 01.10.2022 geht. Er hat im Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 20.12.2022 nicht nur das SG gebeten, seinen Antrag sachdienlich in diesem Sinne auszulegen, sondern selbst dargelegt, dass wahrscheinlich ein Antrag auf (Wieder-)Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Entziehungsbescheid statthaft sei. Ein Eventualverhältnis zu einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat er damit nicht zum Ausdruck bringen wollen. Selbst wenn man den Ausführungen der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Ausgangs- und Beschwerdeverfahren entnehmen mag, dass das systematische Verhältnis von § 86b Abs. 1 und Abs. 2 SGG einerseits und die entsprechenden Rechtsschutzvoraussetzungen andererseits nicht vollends und zweifelsfrei erfasst werden, ändert das nichts an der Tatsache, dass man dem Vortrag des Antragstellers meistbegünstigend den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 21.11.2022 und den Annexantrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 86b Abs. 1 S. 2 SGG entnehmen kann. 

 

2. Die Beschwerde hinsichtlich des einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

 

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 21.11.2022 nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ist zulässig und begründet.

 

a. Ein Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG ist gegenüber einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG vorrangig. Das ist dann der Fall, wenn in der Hauptsache ein Anfechtungswiderspruch bzw. eine Anfechtungsklage statthaft ist. Das trifft hier zu. Hätte der Hauptsacherechtsbehelf Erfolg, so wären die mit dem vorangegangenen Bewilligungsbescheid vom 02.03.2022 bewilligten und damit titulierten Leistungen an den Antragsteller auszuzahlen, ohne dass es einer entsprechenden gerichtlichen Verpflichtung der Antragsgegnerin bedarf.

 

b. Grundsätzlich haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 SGG aufschiebende Wirkung, sofern nicht durch Bundesgesetz anderes geregelt ist (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). § 39 Nr. 1 SGB II enthält eine abweichende Regelung für einen Verwaltungsakt, der unter anderem Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder entzieht. Ein solcher Fall liegt hier vor, weil die Antragsgegnerin mit dem streitbefangenen Bescheid vom 21.11.2022 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum ab dem 01.10.2022 aufgehoben hat. Dies hat zur Folge, dass dem Widerspruch gegen den Bescheid der Antragsgegnerin keine aufschiebende Wirkung zukommt.

 

Das Gericht der Hauptsache kann in solchen Fällen gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht entscheidet über die beantragte Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach Ermessen und aufgrund einer umfassenden Interessenabwägung. Bei dieser Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in der vorliegenden Fallgestaltung ein Regel-/Ausnahmeverhältnis angeordnet hat: Aus der Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II ergibt sich, dass der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. In der Regel überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsgegners, weil der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen ausgeschlossen hat (vgl. LSG NRW Beschluss vom 21.12.2012, L 19 AS 2332/12 B ER, Rn. 20 juris). Eine Abweichung von diesem Regel-/Ausnahmeverhältnis durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs kommt daher nur in Betracht, wenn ausnahmsweise das private Interesse der durch den Bescheid belasteten Person überwiegt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b, Rn. 12c ff.). Bei der Abwägungsentscheidung ist die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens ein wichtiges Kriterium: Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und der Betroffene durch ihn in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird seine Vollziehung ausgesetzt und die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs angeordnet, weil dann ein öffentliches Interesse an der Vollziehung nicht besteht (LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 15.04.2011, L 5 AS 364/10 B ER, Rn. 20, juris; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 30.07.2007, L 8 AS 186/07 ER, Rn. 6, juris). Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit ist für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers, anders als bei Entscheidungen nach § 86b Abs. 2 SGG, keine besondere Eilbedürftigkeit erforderlich (Keller a.a.O., Rn. 12f). Ist der Hauptsacherechtsbehelf hingegen aussichtslos, weil der zugrundeliegende Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei der Grad der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren mit zu berücksichtigen ist (Keller a.a.O., Rn. 12f).

 

Gemessen an diesen Voraussetzungen geht der Senat davon aus, dass der Bescheid vom 02.03.2022 offenbar rechtswidrig ist und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs rechtfertigt.

 

aa. Der Bewilligungsbescheid vom 02.03.2022, mit dem die Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum bis Februar 2023 – ohne Vorläufigkeitshinweis – bewilligt hat, kann bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 45 ff. SGB X zu Lasten des Antragstellers aufgehoben werden. Die Antragsgegnerin hat dies auf § 40 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitslosenhilfe (SGB III) i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X gestützt. Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft (S. 1) oder bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen nach S. 2 mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist jede tatsächliche oder rechtliche Änderung, die sich auf Grund oder Höhe der bewilligten Leistung auswirkt (BSG Urteile vom 06.11.1985, 10 RKg 3/84, Rn. 11, juris; und vom 09.08.2001, B 11 AL 17/01 R, Rn. 14, juris). Eine rechtserhebliche Änderung liegt dann vor, wenn der Anspruch auf die Leistung nach dem materiellen Recht (hier dem SGB II) ganz oder teilweise entfallen ist. Träfe es zu, dass der Antragsteller nicht allein in seiner Wohnung lebt, sondern mit seiner Ex-Frau und ggf. ihren Kindern, könnte dies zunächst den Grund der Leistungen betreffen, wenn die Ehefrau und/oder die Kinder Einkommen erzielten, das entweder auf den Bedarf des Antragstellers angerechnet werden müsste und zur Verringerung seines Leistungsanspruchs führte oder die Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II ganz entfallen ließe. Mindestens betroffen wäre die Höhe der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, die dann kopfteilig zu verteilen wären und zur Minderung des Anspruchs des Antragstellers führen würden.

 

Das Vorliegen einer derartigen wesentlichen Änderung ist jedoch nicht nachgewiesen. Auf Grund der fehlenden tatsächlichen Feststellungen der Antragsgegnerin zu den aktuellen Wohnverhältnissen des Antragstellers kann nicht beurteilt werden, ob der Leistungsanspruch des Antragstellers ganz oder teilweise ab dem 01.10.2022 entfallen ist. Dafür könnte zwar sprechen, dass in den Heiz- und Betriebskostenabrechnungen von 2020 und 2021 die Ex-Ehefrau des Antragstellers genannt wird und die Antragsgegnerin einen anonymen Hinweis erhalten hat, dass der Antragsteller nicht allein wohne und zudem im Oktober 2022 an drei Tagen vom Ermittlungsdienst der Antragsgegnerin nicht zu Hause angetroffen werden konnte. Dagegen spricht aber die Einlassung des Antragstellers, dass seine Frau schon immer auf den Abrechnungen aufgeführt gewesen sei, mit anderer Adresse bei der Antragsgegnerin bekannt sei, weil sie selbst im Leistungsbezug steht, und der Antragsteller auch einen Zeugen dafür benannt hat, dass er in seiner Wohnung allein lebe. Ferner ist die Differenz zwischen tatsächlicher und der von der Antragsgegnerin für angemessen erachteten und getragenen Miete nicht derart hoch, dass der Antragsteller sie nicht weiterhin allein tragen könnte.

 

Die Antragsgegnerin hat den Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen jedenfalls weder im Bescheid vom 02.03.2022 noch auf Nachfrage des Senats dargelegt und begründet. Allein die Weigerung des Antragstellers, ergänzende Angaben zu machen und eine aktuelle Vermieterbescheinigung vorzulegen, rechtfertigt keine Entscheidung nach § 48 SGB X (vgl. dazu BSG Urteil vom 20.10.2005, B 7a/7 AL 102/04 R, Rn. 13, juris). Daraus ergibt sich keine Änderung der Verhältnisse, sondern allenfalls ein Aufklärungshindernis. Die Verwaltung ist aber grundsätzlich verpflichtet, das Vorliegen der maßgebenden Anspruchsvoraussetzungen von Amts wegen aufzuklären (§ 20 SGB X). Die Antragsgegnerin hätte deshalb ermitteln müssen, ob der Antragsteller in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr allein in seiner Wohnung lebt. Die Weigerung des Antragstellers, Angaben zu machen, enthob die Antragsgegnerin nicht von der sie treffenden Ermittlungspflicht. Sie hätte in diesem Zusammenhang andere zur Aufklärung geeignete Maßnahmen, etwa eine Befragung der Ex-Ehefrau, in Erwägung ziehen können. Eine Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen kann von Seiten der Verwaltung nicht dadurch begegnet werden, dass das Vorliegen oder Fehlen fraglicher Tatbestandsmerkmale quasi unterstellt wird. Vielmehr bleibt die Behörde auch in diesen Fällen verpflichtet, die entscheidungserheblichen Tatsachen mit allen zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu ermitteln. Für das Vorgehen der Antragsgegnerin, die Leistung aufzuheben, weil der Antragsteller die Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts verweigert hat, stellen die §§ 60 ff. SGB I ein eigenständiges Instrumentarium zur Verfügung (BSG a.a.O. Rn. 16), sind hier aber nicht herangezogen worden (dazu weiter unter dd.).

 

Im Übrigen müssten die tatsächlichen Verhältnisse bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 SGB X – anders als bei § 45 Abs. 1 SGB X – erst nach Erlass des angefochtenen Bescheides vorgelegen haben (Steinwedel in BeckOGK, Stand: 01.12.2020, § 48 SGB X, Rn. 8 m.w.N.). Dass die Ex-Frau des Antragstellers erst nach Erlass des Bescheides vom 02.03.2022 (wieder) in die Wohnung des Antragstellers eingezogen sein soll, wird von der Antragsgegnerin aber weder konkret behauptet, noch dargetan. Angesichts der bereits vorhandenen erheblichen Zweifel, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X für eine Aufhebung des Bescheides vom 02.03.2022 für die Zukunft vorliegen, kommt es auf die Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X nicht an. Es sei aber klarstellend auch hier darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen weder von der Antragsgegnerin geprüft und dargelegt wurden noch sonst ersichtlich sind.

 

bb. Die Aufhebungsentscheidung vom 21.11.2022 könnte auch nicht auf § 45 Abs. 1 SGB X gestützt werden. Soweit danach ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Hat die Verwaltung einen Bescheid auf § 48 SGB X gestützt, ist aber richtigerweise § 45 Abs. 1 SGB X einschlägig (und umgekehrt), so bedarf es keiner Umdeutung; es liegt lediglich ein Austausch der Begründung vor (vgl. BSG Urteile vom 24.02.2011, B 14 AS 45/09 R, Rn. 17, juris; und vom 21.06.2011, B 4 AS 21/10 R, Rn. 34, juris). Denn das Stützen der Entscheidung auf eine andere Rechtsgrundlage ist zulässig, soweit der Verwaltungsakt dadurch nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird (BSG Urteil vom 25.04.2002, B 11 AL 69/01 R, Rn. 16 f.). Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsakts, gerichtet sind, ist das Auswechseln dieser Rechtsgrundlagen grundsätzlich zulässig (BSG a.a.O.). Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 SGB X lägen aber nicht vor. Erforderlich wäre hierfür zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung bei Erlass des Bescheides vom 02.03.2022. Entsprechende Feststellungen hat die Antragsgegnerin aber nicht getroffen. Sie sind aus dem Akteninhalt auch nicht ersichtlich. Dessen ungeachtet fehlen Feststellungen der Antragsgegnerin zum fehlenden Vertrauensschutz des Antragstellers, soweit die Rücknahme für die Vergangenheit betroffen ist.

 

cc. Die Aufhebungsentscheidung könnte ferner nicht in zulässigerweise auf § 40 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 Abs. 1 S. 1 SGB III gestützt werden. Nach § 331 Abs. 1 S. 1 SGB III kann die Zahlung einer laufenden Leistung ohne Erteilung eines Bescheides vorläufig eingestellt werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Norm auch bei einer bereits erfolgten Aufhebungsentscheidung anwendbar ist. Die Norm setzt voraus, dass zum einen die Behörde Kenntnis von Tatsachen erhält, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruchs führen, und zum anderen der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist. Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen, für die die Antragsgegnerin die Beweislast trägt (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.01.2007, L 5 B 1173/06 AS ER, Rn. 11, juris), konnte zum fraglichen Zeitpunkt aber mangels hinreichender Anhaltspunkte nicht ausgegangen werden.

 

dd. Schließlich wäre die Aufhebungsentscheidung auch nicht nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I rechtmäßig. Danach kann der Leistungsträger eine beantragte Sozialleistung ohne weitere Ermittlungen ganz oder teilweise bis zur Nachholung von Mitwirkungshandlungen versagen, wenn der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und er hierdurch oder absichtlich in anderer Weise die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.

 

(1) Zwar dürfte die Vorlage einer aktuellen Mietbescheinigung nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3, § 65 SGB I zulässig und zumutbar sein. Die Antragsgegnerin hat sich jedoch bei ihrer Aufhebungsentscheidung gerade nicht des Instrumentariums nach den §§ 60 ff. SGB I bedient. Sie hatte zwar noch im Schreiben vom 27.10.2022 auf die Rechtsfolgen einer verweigerten Mitwirkung nach den §§ 60 ff. SGB I hingewiesen, ihren Bescheid vom 21.11.2022 aber ausdrücklich auf § 48 Abs. 1 SGB X gestützt.

 

(2) Die Umdeutung der Rücknahmeentscheidung nach § 48 Abs. 1 SGB X in eine Entziehung nach § 66 SGB I (analog § 43 SGB X) scheidet aus, weil eine gebundene Entscheidung, wie sie hier vorliegt, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann (§ 43 Abs. 3 SGB X, BSG Urteil vom 20.10.2005, B 7a/7 AL 102/04 R, Rn. 16, juris). Im Übrigen liegt auch die weitere Voraussetzung einer Umdeutung nach § 43 SGB X nicht vor, wonach der Verwaltungsakt, in welchen der fehlerhafte Verwaltungsakt umgedeutet werden soll, auf das gleiche Ziel gerichtet sein muss wie der umzudeutende. Zwischen beiden muss ein im Wesentlichen übereinstimmendes Regelungsinteresse bestehen. Es dürfen keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der materiell-rechtlichen Tragweite vorliegen (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017, § 43 SGB X <Stand: 04.01.2021>, Rn. 31). Insoweit bestehen zwischen beiden Entscheidungsgrundlagen wesentliche Unterschiede hinsichtlich der materiell-rechtlichen Tragweite der Entscheidung (Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Auflage 2018, § 66 SGB I <Stand: 02.12.2022>, Rn. 71). Die in §§ 60-64 SGB I im Einzelnen aufgeführten Mitwirkungspflichten stellen im Rechtssinne Obliegenheiten dar. Diese können selbst nicht zwangsweise durchgesetzt werden, ziehen jedoch bei Nichtbefolgung Nachteile nach sich. § 66 SGB I ist die zentrale Norm zur Umsetzung dieser Nachteile, die in einer Entziehung oder Versagung der Leistung bestehen können (Spellbrink in BeckOGK, SGB I, Stand: 01.08.2019, § 66, Rn. 2). Sanktioniert wird insoweit nur die Verletzung von (zumutbaren) Mitwirkungspflichten. Der Sinn und Zweck des § 48 Abs. 1 SGB X besteht demgegenüber darin, einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung an wesentlich veränderte tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse anzugleichen (Schütze in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 48, Rn. 2).

 

(3) Die Anwendung des § 66 Abs. 1 SGB I scheitert ferner daran, dass eine Leistungsversagung oder -entziehung nach dieser Norm niemals für die Vergangenheit, sondern stets nur für die Zukunft ausgesprochen werden kann (BSG Urteil vom 26.05.1983, 10 RKg 13/82, Rn. 15, juris; und vom 28.02.1990, 10 RKg 17/89, Rn. 15, juris). Aus dem Wortlaut des § 66 SGB I ergibt sich dies zwar nicht. Die Unzulässigkeit einer rückwirkenden Entziehung ergibt sich aber aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Da die Entziehung an die Verletzung der Mitwirkungspflicht anknüpft und nach Fristsetzung und Belehrung nur bis zur Nachholung der unterlassenen Handlung wirkt, kann sie nicht schon mit dem Zeitpunkt der Verletzung der Mitwirkungspflicht einsetzen, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich der Wirksamkeit des Entziehungsbescheides. Dafür spricht auch, dass die Leistung ohne weitere Ermittlungen, also auch dann entzogen werden darf, wenn die Anspruchsvoraussetzungen weiterhin vorliegen und auch festgestellt werden könnten (BSG Urteil vom 26.05.1983 a.a.O.). Im Bescheid vom 21.11.2022 wurden die Leistungen aber rückwirkend ab dem 01.10.2022 entzogen.

 

(4) Ferner räumt § 66 Abs. 1 SGB I nach seinem Wortlaut der Behörde ein Ermessen ein (BSG Urteil vom 22.02.1995, 4 RA 44/94, Rn. 32, juris; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 14.12.2009, L 5 AS 396/09 B ER, Rn. 43 f., juris), das die Antragsgegnerin gar nicht ausgeübt hat. Hinweise auf eine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten der Antragsgegnerin bestehen nicht (vgl. dazu BSG Urteil vom 20.05.2014, B 10 EG 2/14 R, Rn. 29, juris).

 

c. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf einstweilige Auszahlung von 3.701,36 Euro für den Zeitraum von Oktober 2022 bis Januar 2023 (4 x 924,34 Euro) gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG. Ist nach dieser Norm der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Da der Entziehungsbescheid vom 21.11.2022 zum Zeitpunkt der hiesigen Entscheidung bereits vollzogen ist, hat der Senat von seinem Ermessen Gebrauch gemacht und die entsprechende Aufhebung der Vollziehung angeordnet; der auszukehrende Betrag ist insoweit auf den bewilligten Zeitraum bis Januar 2023 begrenzt (vgl. § 42 Abs. 1 SGB II). Der Antragsteller hat ein entsprechendes sachliches Rückabwicklungsinteresse. Der Antragsgegnerin steht es nach Abschluss ihrer ergänzenden Ermittlungen frei, die Leistungsgewährung ggfs. gemäß §§ 45 ff. SGB X auch für die Vergangenheit zurückzunehmen bzw. aufzuheben und einen Erstattungsanspruch geltend zu machen, wenn sie den Sachverhalt entsprechend ermittelt hat (vgl. LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.01.2007, L 5 B 1173/06 AS ER, Rn. 16, juris).

 

3. Soweit der Antragsteller sich mit seiner Beschwerde auch gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Verfahrens wendet, ist die Beschwerde unbegründet. Das SG hat den Antrag zu Recht abgelehnt. Ein erfolgreicher Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) setzt unter anderem die Bewilligungsreife des Antrags bis zur Beendigung der jeweiligen Gerichtsinstanz voraus. Bewilligungsreife ist jedoch frühestens bei Vorlage einer vollständigen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach § 117 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 und 4 ZPO anzunehmen (vgl. LSG NRW Beschluss vom 25.08.2011, L 19 AS 1026/11 B, Rn. 3 m.w.N., juris). Die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Antragstellers nebst entsprechender Anlagen lag bis zur Beendigung der ersten Gerichtsinstanz nicht vor. Das SG hatte keine Pflicht, auf die Vorlage der Unterlagen zur Prüfung der Prozesskostenhilfe hinzuwirken. Es obliegt einem Antragsteller vorrangig selbst, Sorge für die zeitnahe Vorlage, die Vollständigkeit und die Aktualität der mit dem Prozesskostenhilfeantrag vorgelegten Unterlagen zu tragen (LSG NRW Beschluss vom 13.10.2015, L 9 AL 146/15 B, Rn. 6, juris).

 

4. Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache. Kosten für das Beschwerdeverfahren hinsichtlich der vom SG abgelehnten Prozesskostenhilfe sind nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht zu erstatten.

 

5. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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