S 7 SO 4318/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SO 4318/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
  1. In analoger Anwendung von § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I nicht, wenn ihre Erfüllung dem Betroffenen faktisch oder rechtlich unmöglich ist (hier: Beauftragung eines Wertgutachtens über einen PKW, der sich nicht im Besitz des Betroffenen befindet und auf den der Betroffene auch kein Besitzrecht hat).
  2. In analoger Anwendung von § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I nicht nur dann nicht, wenn der Leistungsträger sich durch geringeren Aufwand die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann, sondern – im Wege des Erst-Recht-Schlusses - auch dann nicht, wenn der Leistungsträger über die erforderlichen Kenntnisse bereits verfügt, weil alle ausschlaggebenden Tatsachen bereits aktenkundig sind.
  3. Ob die Erfüllung der Mitwirkungspflichten nach §§ 60 – 64 SGB I im Sinne des § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I in angemessenem Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung steht, ist als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar.
  4. Ob ein angemessenes Verhältnis zwischen der in Anspruch genommenen Sozialleistung und den durch die Erfüllung der Mitwirkungspflichten entstehenden Kosten vorliegt, lässt sich nicht durch allgemeingültige mathematische (etwa prozentuale) Grenzen oder Formeln bestimmen. Insbesondere kann bei Dauerleistungen oder Leistungen in erheblicher absoluter Höhe ein höherer finanzieller Eigenbeitrag des Betroffenen im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zu erwarten sein als bei geringen, einmaligen Leistungen. Die Grenze der Angemessenheit im Sinne des § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I ist jedenfalls dann überschritten, wenn für die Gewährung einer einmaligen Sozialhilfeleistung in Höhe von wenigen hundert Euro (hier: Bestattungskosten nach § 74 SGB XII) eine Mitwirkungshandlung gefordert wird, die dem Betroffenen Kosten in Höhe eines Drittels der Sozialhilfeleistung verursachen würde.

 

 

  1. Der Bescheid des beklagten Landkreises vom 29.7.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.11.2020 wird aufgehoben.

 

  1. Der beklagte Landkreis trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.

Tatbestand

 

 

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Versagungsbescheids nach § 66 SGB Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hinsichtlich der Übernahme der Bestattungskosten für die verstorbene Mutter der Klägerin aus Mitteln der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

 

Die Klägerin ist eines von sechs Kindern der verstorbenen Frau S., die zuletzt in O. wohnhaft war. Sie bestreitet ihren Lebensunterhalt von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Ihre Mutter verstarb am … 2020. Die Klägerin veranlasste die Bestattung der Mutter. Hierfür stellte das Bestattungsinstitut H. in O. am 18.3.2020 Kosten in Höhe von insgesamt 2.147,33 € in Rechnung. Am 27.2.2020 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Übernahme der Bestattungskosten aus Mitteln der Sozialhilfe nach § 74 SGB XII. Spätestens am 9.6.2020 hatten sowohl die Klägerin als auch alle anderen erbberechtigten Familienmitglieder der Verstorbenen das Erbe ausgeschlagen.

 

Zum Zeitpunkt ihres Todes war die Verstorbene Besitzerin eines PKW der Marke … . Finanziert worden war der Kauf des PKW durch einen Finanzierungsleasingvertrag vom 13.3.2018 mit der T-Bank GmbH, die bis zur Abzahlung des Darlehens Eigentümerin blieb. Der Anschaffungspreis für den Neuwagen betrug im März 2018 29.500,00 €. Die Darlehenssumme betrug 25.500,00 €. Das Darlehen war zum Todeszeitpunkt noch nicht abbezahlt. Der PKW war zu diesem Zeitpunkt von der Verstorbenen während knapp zwei Jahren genutzt worden und hatte 31.500 km zurückgelegt. Der PKW befand sich spätestens ab dem 26.5.2020 wieder im Besitz des Verkäufers, des Autohauses E. in O.. Es war, soweit bekannt, der einzige mögliche Aktivposten im Vermögen der Verstorbenen. Weitere Vermögensgegenstände waren nicht vorhanden.

 

Der Beklagte forderte die Klägerin mit Schreiben vom 21.4.2020, 14.5.2020, 26.5.2020, 18.6.2020, 7.7.2020 und 14.7.2020 –  unter Fristsetzung bis zum 24.7.2020 und Verweis auf die Rechtsfolgen des § 66 SGB I - dazu auf, ein Wertgutachten über den PKW anfertigen zu lassen, so dass deutlich werde, ob nach Rückzahlung des Darlehens noch ein Restwert vorhanden sei, welcher als Vermögen der Verstorbenen vorrangig für die Bestattungskosten einzusetzen wäre. Die Klägerin lehnte dies zunächst unter Verweis darauf ab, dass sie nicht im Besitz des Fahrzeugs und auch keiner Unterlagen bezüglich des Leasingverhältnisses sei. Allerdings gelang es ihr in der Folgezeit am 3.6.2020 und 17.6.2020, diverse entsprechende Unterlagen beim Beklagten einzureichen. Nachdem der Beklagte die Klägerin weiter zur Vorlage eines Wertgutachtens aufforderte, lehnte sie dies –  so etwa mit Email vom 29.6.2020 - mit der Begründung ab, dies werde mindestens 100,00 € kosten, was sie sich nicht leisten könne. Aus den von der Klägerin am 17.6.2020 vorgelegten Unterlagen ergaben sich eine Wertermittlung nach Schwacke durch das Autohaus E. vom 8.6.2020, die einen aktuellen Restwert von 17.350,00 € auswies, sowie gemäß einem Schreiben der T-Bank vom 8.6.2020, adressiert an die Verstorbene, offene Raten aus dem Leasingvertrag in Höhe von 22.728,51 €  und die daraus errechnete Ablösesumme für den PKW von 21.582,71 €.

 

Der Beklagte versagte daraufhin mit Bescheid vom 29.7.2020 nach § 66 SGB I die Übernahme der Bestattungskosten unter Verweis auf die fehlende Mitwirkung der Klägerin, weil weiterhin kein Wertgutachten vorlag.

 

Am 25.8.2020 wurde der PKW durch die T-Bank verwertet. Sie erzielte einen Erlös von 11.637,93 € netto. Von der Verwertung des PKW teilte die Klägerin dem Beklagten zunächst nichts mit, wobei nicht bekannt ist, ab wann die Klägerin selbst davon Kenntnis hatte.

 

Gegen den Bescheid vom 29.7.2020 legte die Klägerin durch Bevollmächtigte am 28.8.2020 Widerspruch ein. Die Klägerin lebe selbst von Leistungen nach dem SGB II und sei daher nicht in der Lage, ein Wertgutachten zu finanzieren. Es sei daher auf die Wertermittlung des Autohauses abzustellen. Diese ergebe einen deutlich niedrigeren Wert als das noch offene Darlehen in Höhe von ca. 22.000,00 €. Es sei daher davon auszugehen, dass die Verstorbene kein für die Bestattungskosten einzusetzendes Vermögen hinterlassen habe.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.11.2020 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin sei ihren Mitwirkungspflichten aus §§ 60ff. SGB I nicht hinreichend nachgekommen. Die geforderte Mitwirkung sei auch nicht unverhältnismäßig und stelle keine unzumutbare Belastung dar. Der Klägerin sei auch genug Zeit eingeräumt worden, um die geforderten Unterlagen vorzulegen. Die Leistungen seien daher nach § 66 SGB I zu versagen gewesen.

 

Am 7.12.2020 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Freiburg erhoben. Sie trägt wie im Widerspruchsverfahren vor, dass sie nicht in der Lage gewesen sei, ein Wertgutachten zu finanzieren, da sie ihren Lebensunterhalt von Arbeitslosengeld II bestreite. Ferner könne sie gar kein Wertgutachten mehr veranlassen, weil der PKW zwischenzeitlich von der Bank verwertet worden sei. Der Erlös aus der Verwertung, ca. 17.000,00 €, habe erheblich niedriger gelegen als die verbliebene Darlehensschuld ihrer Mutter (ca. 22.000,00 €).

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung einer schriftlichen Auskunft der T-Bank GmbH zum Stand der Darlehensschuld zum Todeszeitpunkt der Verstorbenen und zum Zeitpunkt der Verwertung sowie der Höhe des Erlöses. Die Bank hat mit Schreiben vom 4.10.2022 mitgeteilt, dass die Darlehensschuld zum Todeszeitpunkt bzw. im Todesmonat noch 23.598,51 € betragen habe. Der PKW sei am 25.8.2020 für 11.637,93 € netto verwertet worden.

 

Die Klägerin beantragt,

 

den Bescheid des Beklagten vom 29.7.2020 in Gestalt des Widerspruchs-bescheids vom 23.11.2020 aufzuheben. 

 

Der Beklagte beantragt,

 

          die Klage abzuweisen.

 

Er hält die mit der Klage angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des beklagten Landkreises (Stand 29.7.2022), die das Gericht zum Verfahren beigezogen hat, Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

 

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben und als Anfechtungsklage statthaft nach § 54 Abs. 1 SGG.

 

Streitig ist nicht der Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Übernahme von (einem Sechstel der) Bestattungskosten für die Bestattung der verstorbenen Frau S. an sich, sondern lediglich die Rechtmäßigkeit des zugehörigen Versagungsbescheids des Beklagten vom 29.7.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom nach 23.11.2020 nach § 66 SGB I.

 

Die Klage ist auch begründet. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin daher in ihren Rechten.  Denn der Beklagte hat darin die gesetzlichen Grenzen der Mitwirkung nach § 65 SGB I überschritten, in dem er von der Klägerin eine Mitwirkungshandlung gefordert hat, die in keinem Verhältnis zur beantragten Leistung stand, nicht notwendig für die Ermittlung des Sachverhalts war und ab einem bestimmten Zeitpunkt während des Widerspruchsverfahrens auch faktisch gar nicht mehr möglich war. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide waren daher aufzuheben. Ob die Klägerin tatsächlich einen entsprechenden Anspruch geltend machen kann, wird der Beklagte im Anschluss in eigener Zuständigkeit zu überprüfen haben.

 

Nach § 60 SGB I hat, wer Sozialleistungen beantragt, u. a. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I) und Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I). Diese Mitwirkungspflichten bestehen nicht, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung steht (§ 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I), ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann (§ 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I) oder der Leistungsträger sich durch geringeren Aufwand die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann (§ 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I). Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist (§ 66 Abs. 3 SGB I).

 

Hier hat der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 21.4.2020, 14.5.2020, 26.5.2020, 18.6.2020, 7.7.2020 und 14.7.2020 aufgefordert, ein Wertgutachten über den Wert des von ihrer verstorbenen Mutter geleasten PKW, also eine Beweisurkunde im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I, anfertigen zu lassen und dem Beklagten vorzulegen. Der Klägerin wurde hierfür eine angemessene Frist bis zum 24.7.2020 gesetzt und sie wurde auf die Möglichkeit der Versagung der Leistungen im Fall fehlender oder nicht ausreichender Mitwirkung hingewiesen (§ 66 Abs. 3 SGB I). Die Kammer kommt jedoch zu der Überzeugung, dass eine dahingehende Mitwirkungspflicht der Klägerin nicht bestand, da der Beklagte in seinen Aufforderungen vom 21.4.2020, 14.5.2020, 26.5.2020, 18.6.2020, 7.7.2020 und 14.7.2020 die Grenzen der Mitwirkung nach § 65 Abs. 1 SGB I in mehrfacher Hinsicht überschritten hatte.

 

Zum einen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass ein Fall des § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I vorlag, nicht dergestalt, dass der Beklagte sich die notwendigen Kenntnisse selbst hätte verschaffen müssen, sondern sogar in der –  nach Auffassung der Kammer im Wege des Erst-recht-Schlusses ebenfalls unter § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I fallenden –  Form, dass der Beklagte über die notwendigen Kenntnisse bereits verfügte. Nach Auffassung der Kammer war der Sachverhalt am 17.6.2020 ausermittelt. Aus den von der Klägerin am 17.6.2020 vorgelegten Unterlagen ergaben sich offene Raten aus dem Leasingvertrag in Höhe von 22.728,51 € sowie eine Wertermittlung nach Schwacke durch das Autohaus vom 8.6.2020, die einen Restwert von 17.350,00 € auswies. Ab dem 17.6.2020 war dem Beklagten also bekannt, wie hoch die von der Mutter der Klägerin gegenüber der T-Bank hinterlassenen Schulden waren. Dem Beklagten war auch die Schwacke-Wertermittlung des Autohauses bekannt, die um etwa 5.000 € darunter lag. Anhaltspunkte dafür, dass der tatsächliche Wert des PKW höher liegen würde als der vom Autohaus ermittelte Wert bzw. als die mit der T-Bank vereinbarte (und ebenfalls unter dem offenen Darlehensbetrag liegende) Ablösesumme von 21.582,71 €, lagen nicht vor. Der Beklagte musste daher ab dem 17.6.2020 davon ausgehen, dass der Wert des PKW die Schulden aus dem Leasingvertrag nicht mehr überstieg und daher kein Vermögen der Verstorbenen im Sinne eines Nachlasses vorhanden war, aus dem die Bestattungskosten vorrangig hätten bestritten werden können. Eine gängige Faustformel besagt, dass ein PKW nach einem Jahr Nutzung bzw. nach 15.000 km Fahrleistung bereits ca. 25 % seines Anschaffungspreises verliert und nach ca. 5 Jahren Nutzung in der Regel nur noch ca. 50 % seines Anschaffungspreises wert ist. Der Anschaffungspreis lag nach den von der Klägerin am 3.6.2020 vorgelegten Unterlagen im März 2018 bei 26.500,00 €. Die Mutter der Klägerin nutzte das Fahrzeug knapp zwei Jahre lang und legte mit ihm –  laut der Wertermittlung des Autohauses vom 8.6.2020 –  31.500 km zurück. Nach der eben beschriebenen Formel war daher davon auszugehen, dass das Fahrzeug bereits nach einem Jahr nur noch ca. 19.875,00 € wert war und nach dem zweiten Jahr noch einmal um mindestens 5 % weniger. Dies entspricht in etwa der Größenordnung der Schwacke-Wertermittlung. Vor diesem Grund ist es nicht verständlich, weswegen der Beklagte trotz dieser Informationen weiterhin auf der Vorlage eines individuellen Gutachtens beharrte. Insbesondere lagen keine Anhaltspunkte vor, dass im hier vorliegenden Fall der Wert des PKW - abweichend vom Regelfall - noch deutlich höher sein würde als beim üblichen Wertverlust zu erwarten. Insbesondere war die Fahrleistung des Fahrzeugs, die von erheblicher Bedeutung für die Wertbestimmung ist, nicht etwa unterdurchschnittlich gering. Dies bestätigt rückblickend auch der tatsächlich im August 2020 erzielte Netto-Verwertungserlös, der mit 11.637,93 € trotz des geringen Alters des Fahrzeugs (ca. 2,5 Jahre) weniger als 50 % des Anschaffungspreises betrug.

 

Ferner war es der Klägerin zumindest seit der Verwertung des PKW durch den Leasinggeber am 25.8.2020 auch rein faktisch nicht mehr möglich, ein Wertgutachten in Auftrag zu geben, da sie keinen Zugriff auf das Fahrzeug mehr hatte. Die Verwertung war zwar noch nicht erfolgt, als die Aufforderungen des Beklagten vom 21.4.2020, 14.5.2020, 26.5.2020, 18.6.2020 und 7.7.2020 ergingen; wohl aber vor dem Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23.11.2020 und damit zum Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, welche im Rahmen der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG bei Nicht-Dauerverwaltungsakten in der Regel der ausschlaggebende Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung ist (vgl. statt vieler Söhngen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 54 Rn. 48ff.). Der Fall, dass die von der Behörde geforderte Mitwirkung faktisch unmöglich zu erbringen ist, ist in § 65 SGB I nicht ausdrücklich geregelt. Nach Überzeugung der Kammer ist er jedoch der in § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I geregelten Situation, dass die Mitwirkung zwar möglich aber nicht zumutbar ist, rechtlich gleichzustellen. Es ist nicht vorstellbar, dass es zumutbar und daher gerechtfertigt sein könnte, dass der Betroffene sich bemüht, eine Handlung vorzunehmen, die von vorneherein denknotwendig nicht zum Erfolg führen kann. So würde es hier liegen, wenn die Klägerin verpflichtet gewesen wäre, einem Gutachter Zugang zu einem Fahrzeug zu verschaffen, das sie selbst nicht (mehr) in Besitz hat und auf das sie auch kein Besitzrecht hat.

 

Und schließlich standen nach Überzeugung der Kammer die der Klägerin für die Mitwirkung voraussichtlich anfallenden Kosten auch außer Verhältnis zur Höhe der beantragten Sozialleistung (§ 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Dieser Tatbestand schließt die Mitwirkungspflicht aus, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder der geschuldeten Erstattung steht. Berücksichtigt wird damit die ausgewogene Zweck-Mittel-Relation als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Begriff „angemessen“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der dem Leistungsträger einen –  allerdings in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbaren –  Beurteilungsspielraum zubilligt (vgl. Voelzke in jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, § 65 Rn. 15ff.). In Fällen, in denen –  wie hier - der mit der Mitwirkung verbundene finanzielle Aufwand ins Verhältnis zu setzen ist zur Höhe der beantragten Sozialleistung, hat sich –  soweit ersichtlich –  in Literatur und Rechtsprechung bisher keine feste mathematische, etwa prozentuale Grenze oder Formel herausgebildet, ab wann Unverhältnismäßigkeit vorliegt. So führt etwa Gutzler (in Lilge/Gutzler, SGB I, 5. Aufl. 2019, § 65 Rn. 13) lediglich aus: Der Kostenfaktor kann also z. B. eine Rolle spielen, wenn zur Erbringung des „letzten“ Beweises die Beschaffung einer Urkunde verlangt wird, obwohl die Voraussetzungen des Anspruchs bereits hinreichend dargetan worden sind oder wenn die Beschaffung der Urkunde mit hohen Kosten verbunden wäre bei einer nur geringen Sozialleistung.“ Was „hoch“ und was „gering“  in diesem Sinne ist, kann auch je nach den Umständen des Einzelfalls variieren. Insbesondere könnte bei Dauerleistungen oder Leistungen in erheblicher absoluter Höhe ein höherer finanzieller Eigenbeitrag des Betroffenen im Rahmen der Ermittlung der Leistungsvoraussetzungen zu erwarten sein als bei absolut gesehen geringen, einmaligen Leistungen. Nach Auffassung der Kammer wäre hier jedenfalls bei Erfüllung der geforderten Mitwirkung ein finanzieller Aufwand entstanden, der in Relation zur eher geringen Höhe der beantragten Leistung unverhältnismäßig gewesen wäre. Die Klägerin ist eines von sechs Kindern der verstorbenen Sieglinde Herzogenrath. Das Erbe wurde von allen erbberechtigten Verwandten ausgeschlagen. Die Bestattungskosten von insgesamt 2.147,33 € können der Klägerin daher allenfalls zu einem Sechstel (entspricht 357,89 €) vom Beklagten erstattet werden. Wegen der übrigen fünf Sechstel muss sich die Klägerin zivilrechtlich an die ebenfalls bestattungspflichtigen Geschwister (§ 31 Abs. 1 i. V. m. § 21 Abs. 1 Nr. 1 Bestattungsgesetz Baden-Württemberg –  BestattG BW) wenden bzw. diese müssen einen eigenen Sozialhilfeantrag stellen, soweit sie selbst nicht leistungsfähig sind. Beantragt als Sozialhilfeleistung war also eine Kostenerstattung in Höhe von einmalig 357,89 €. Für ein individuelles Wertgutachten über einen privaten PKW, das über die einfache Wertermittlung nach Schwacke hinausgeht, sind allerdings regelmäßig 125,00 –  150,00 € zu zahlen. Dies entspricht ca. einem Drittel der beantragten Leistung. Dies steht daher außer Verhältnis zur Leistung selbst, zumal die Wertermittlung durch das Autohaus bereits vorlag und es daher nicht an Anhaltspunkten für den Wert des Fahrzeugs fehlte.

 

Daher konnte der Beklagte im Ergebnis aufgrund der genannten mehrfachen Verstöße gegen die Grenzen der Mitwirkung aus § 65 SGB I den Versagungsbescheid vom 29.7.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.11.2020 nicht in rechtmäßiger Weise auf § 66 SGB I stützen. Vielmehr hätte der Beklagte keine Versagung aussprechen dürfen, sondern –  auf Grundlage der am 17.6.2020 bekannten Tatsachen –  in der Sache entscheiden müssen. Dies wird er nunmehr noch nachzuholen haben. Die mit der hier vorliegenden Klage angefochtene Versagungsentscheidung war wie beantragt aufzuheben.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache. Das Gericht verkennt nicht, dass die Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren hätte mitteilen können, dass die von ihr geforderte Mitwirkung spätestens ab dem 25.8.2020 rein faktisch nicht mehr erbringbar war, weil der Leasinggeber das Fahrzeug bereits zurückgenommen und verwertet hatte. Allerdings hat die Klägerin bereits im Widerspruchsverfahren auch auf die Unverhältnismäßigkeit der geforderten Mitwirkungshandlung unter Kostenaspekten sowie auf die von ihr als ausreichend angesehenen vorgelegten Unterlagen verwiesen, so dass der Beklagte bereits im Widerspruchsverfahren allein unter diesen Aspekten zu dem Ergebnis hätte kommen müssen, dass die Grenzen der Mitwirkung nach § 65 SGB I überschritten waren. Der Beklagte trägt daher auch die Kosten der Klägerin für das Widerspruchsverfahren.

 

Die Berufung ist nicht zulässig, weil die Mindestberufungssumme nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG von 750,00 € nicht erreicht ist. Diese bestimmt sich bei Anfechtung eines Versagungsbescheids nach § 66 SGB I nach dem Wert der versagten Leistung (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.10.2017, Az. L 3 AS 156/17 NZB –  juris), welcher hier einmalig 357,89 € beträgt. Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
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